Top Aktuell!

Inhalt A-Z|Sitetour|Hilfe|Wir über uns|E-Mail|Suche
AktuellesWirtschaftMarktServiceKulturWissenReisenSpassSport

BerlinOnline

Aktuelle Berliner Zeitung  
E-Mail Berliner Zeitung  
Leser-Service  
Kleinanzeigen  
 
Wissenschaftsarchiv  
Archiv Berliner Kurier  
Handelsregister  
Titelfoto-Archiv  
Berlin-Foto-Archiv  
 
Wahl 2002  
Berlin-Chronik  
Kalenderblatt  
Berlin-Infos  

Datum:   10.07.1997
Ressort:   Feuilleton
Autor:   Robert Spoula

Brahms ungebrochen modern

Nikolaus Harnoncourt interpretiert zur "styriarte" in Graz alle vier Symphonien des Komponisten

Die 1985 gegründeten Steirischen Festspiele ­ die Grazer "styriarte" ­ und Nikolaus Harnoncourt können in einem Atemzug genannt werden. Gemeinsam mit dem "Chamber Orchestra of Europe" präsentiert Harnoncourt im dortigen Stephaniensaal alljährlich seine oft radikalen Deutungen von Schlüsselwerken der Oper und der Symphonik. Nicht zuletzt entstanden die vielbeachteten Aufnahmen der neun Symphonien Beethovens in diesem Rahmen.

Stand letztes Jahr Robert Schumann im Mittelpunkt von Harnoncourts Arbeit, so widmete sich der 1927 in Berlin geborene österreichische Dirigent heuer den vier Symphonien von Johannes Brahms. Und obwohl Harnoncourt diese vor einiger Zeit bereits in Berlin mit den Berliner Philharmonikern interpretiert hatte, konnte den Grazer Interpretationen mit besonderem Interesse entgegengesehen werden. Denn mit keinem anderen Orchester verwirklicht Harnoncourt seine Intentionen mit solcher Akribie, mit solcher Kompromißlosigkeit. Die alte Sitzordnung mit gegenüber sitzenden ersten und zweiten Violinen garantierte ein offenes, helles, manchmal fast schrilles Klangbild. Leidtragende dabei waren die zu sehr in den Hintergrund gedrängten Bratschen, die sich in strukturell markanten Passagen oft nur ungenügend behaupten konnten.

Stutzig machte aber vor allem die Reihenfolge, die Harnoncourt gewählt hatte. Nach dem triumphalen Ende des Finales der ersten Symphonie die in allem weniger dramatische Zweite anzusetzen, wäre sicher keine allzu gute Lösung; die D-Dur-Symphonie, op. 73, an den Beginn des Programmes zu stellen, war dann aber der noch schlechtere Weg. Denn abgesehen vom Argument der historisch richtigen Reihenfolge erschloß sich Harnoncourts Betrachtungsweise der Zweiten erst rückwirkend, nach der Interpretation der ersten Symphonie in c-Moll, op. 68.

Es schien, als hätte sich das zwanzig Jahre lange Ringen Brahms· um die Fortsetzung des Beethovenschen Erbes in Harnoncourts Interpretation der ersten Symphonie eingenistet. Hier wurde der Befreiungsschlag, die Lösung aus der Umklammerung Beethovens konkret spürbar. Den Ausgangspunkt für Harnoncourts Interpretation bilden dabei die Genauigkeit im Beachten der im Notentext vorgeschriebenen dynamischen wie der Phrasengestaltung und deren äußerst präzise Umsetzung durch das "Chamber Orchestra Europe". Der motivisch-thematischen Entwicklungsarbeit im Kopfsatz stellt Harnoncourt im Finale deutlich jene Passagen gegenüber, die als in sich geschlossene Gestalten eine Gegenwelt zur zerklüfteten Landschaft des ersten Satzes bilden. Das Finalthema erklingt bei seinem ersten Auftreten ohne jedes Pathos, schlicht, fast resignativ. Was folgte, glich einem riesigen Crescendo, in dem die vielzitierte Analogie zum Finale der Neunten Beethovens, die hysterisch-taumelnde Freude, real greifbar wurde.

Die Interpretation der zweiten Symphonie stützte sich dagegen ganz auf die Aufschlüsselung des inneren Beziehungsreichtums der einzelnen Satzglieder. Harnoncourt vermied hier konsequent jeden pastoralen Charakter. Die glasklare Zurschaustellung der Mikrostrukturen schien jedoch den Blick auf großformale Entwicklungen zu verstellen. Harnoncourts Ansatz, den emotionalen Gehalt der einzelnen Satzglieder hier zusätzlich zu betonen, schoß über sein Ziel hinaus. Die Symphonie erschien zerklüftet, kleinkliedrig.

Die Interpretationen der dritten Symphonie in F-Dur, op. 90, und der vierten Symphonie in e-Moll, op. 98, klangen dagegen wie aus einem Guß. Hier stimmte die Balance zwischen der akribisch genauen Textausdeutung und dem sich unmittelbar mitteilenden emotionalen Gehalt. Brahms· Kunst, auch die Nebenstimmen thematisch anzureichern, wurde Harnoncourt insofern gerecht, als er den Beziehungsreichtum unter den einzelnen Linien regelrecht analytisch aufschlüsselte. Der Gefahr, in trocken-akademische Notentext-Wiedergabe abzugleiten, entgeht Harnoncourt, indem er sich als Energiequelle der metrisch-rhythmischen Raffinesse bedient, wie in den sehr schroff und forsch gespielten Ecksätzen der dritten Symphonie oder im dritten Satz der e-Moll-Symphonie. Dagegen steht in den Ecksätzen dieser vierten Symphonie die Faszination am Hörbarmachen der formbildenden Kräfte selbst. Der Gegensatz zwischen dem mit messerscharfer Präzision gespielten Allegro und der knochentrockenen Echtzeitanalyse der Brahms· symphonische Werke abschließenden Passacaglia konnte kaum größer sein, war aber dennoch in sich stimmig, da von der Komplexität der Strukturen her legitimiert. Hier kündigte sich bereits Schönbergs erste Kammersymphonie an.

Das lyrische Element, in vielen Interpretationen oft zu schwülstigem Pathos ausgeartet, ist in Harnoncourts Brahms-Deutungen Ausgangs- und nicht Zielpunkt der interpretatorischen Arbeit. Die Motive, sie alle atmen in ihrem eigenen Rhythmus. Harnoncourt gelang es, Brahms· Janusköpigkeit, dessen Genialität, alte Musik und deren Formen als Basis für neue Ausdrucksregionen zu betrachten und sie so im dialektischen Sinn aufzuheben, zu verdeutlichen. Brahms wurde nicht als Romantiker, sondern als Arbeiter, als ein mit Tönen Schaffender, als ungebrochen moderner Komponist präsentiert.

[Neue Suchanfrage]   [Weitere Artikel vom 10.07.1997]  

DruckversionSeite versenden print-send HilfeWir über unsE-MailSucheSeitenanfang footer
www.BerlinOnline.de © 2002 G+J BerlinOnline GmbH & Co. KG