ELEKTRA
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MARTIN KUSEJ

DIE ALTE ORDNUNG BLUT

ELEKTRA (II)


TESTO PUBBLICATO CON IL CONSENSO SCRITTO DELLA DIREZIONE DELLA DRAMATURGIE CHE IL CURATORE DEL SITO RINGRAZIA DI CUORE.

RAUM/SEELE/TANZ

ELEKTRA steht nachts vor dem Palast, in dem sie geboren wurde, der sie verstossen hat und dem sie sich nun in Rache und Mordlust nähert. Hinter ihr stehen die Götter, die ebenso verstossen sind und Einlass begehren...
Ihr Geschrei erfüllt das Riesenhaus - und wird irgendwann in gespenstischer Stille enden. ELEKTRA verhält sich brutal, wie die Waffe, der das Geschoss fehlt, aber deren Existenz sowohl Schuss als auch Treffer imaginieren lässt. Genauso paradox wie dieses Bild ist ELEKTRAs gesamte Existenz; ihr Ziel und ihr Wesen lassen keine genaue Kategorisierung zu (obwohl es auf den ersten Blick leicht so aussieht: ELEKTRA als Widerstandskämpferin gegen das Establishment - Literaturunterricht für die Oberstufe!). Nein, ihr Widerstand und ihre Schwärze gehen praktisch in alle Richtungen - ihre Hoffnung auf die Wiedererrichtung der «alten» Ordnung stellt gerade ELEKTRA als Frau in Frage; denn diese «alte» Ordnung war schon das Patriarchat.
Die Konstituierung der Männer-Gemeinschaft bedingte die Verdrängung und den Ausschluss der Frau (Verbot des «unreinen» Blutes) - trotzdem spricht ELEKTRA als einzige permanent von BLUT. Das ist ihre Metapher und ihre Verbindung zu der ritusfeiernden Gemeinschaft der Männer, die im Abendmahl ihre eigene Blut-Droge als «Nahrung» zu sich nehmen (zum Beispiel in der Opferung der Tochter Iphigenie).

Aber ihre Liebe zu ihrem ermordeten Vater, dessen Anrufung und Todesfeier, der Versuch der Zugehörigkeit als Tochter/Sohn zum Vater, scheitert - sie kommt als Mörderin nicht in Frage und braucht den Mann Orest, der ihr den Arm leiht. Auch sie nimmt ihre Droge und verfällt dem Rausch - alles im Zeichen des Blutes und des Todes - aber es erfüllt sich keine Utopie. Sie bleibt allein, sie ist selbst das Opfer, das Zeichen für die Entzweiung der Figuren, der Menschen untereinander.

ELEKTRA - gerade als extreme Aussenseiterin, als radikale Einzelkämpferin, ersehnt und erhofft doch nichts mehr als den grossen Zusammenhalt und die Gemeinschaft der Männer (in der alten Ordnung des Blutes). Sie bekämpft die Frau (Klytämnestra) und den Mann (Aegisth); sie stösst sich selbst aus und wird ausgestossen - wir bedauern den Untergang des Matriarchats, wollen ihn ansatzweise korrigieren, aber die antike Figur ELEKTRA widersetzt sich auch dieser Zivilisierung, dieser «Vermenschlichung».
Was sollen wir mit ihr?
Für ELEKTRA zählt kein Jetzt, nur ein Damals, das ein VOR DEM PALAST ist. Damit stuft sie sich selbst in einen Zustand zurück, der keine Sexualität, keine Schwangerschaft zulässt, sondern nur kindliches Wüten - ELEKTRA wird nie wieder jung, sie ist gekrümmt unter der «Ordnung», die ihre Mord-Rache-Kraft aufrichtete, der sie aber «gerächt» nur noch als Gebrochene angehört, aufgebraucht, vernichtet im Warten, Bohren, Lauern und Hoffen. Für sie kommt der Sieg (wenn es denn überhaupt einer ist) zu spät.
Mit dieser Beschreibung wird klar, dass ELEKTRA keine Identifikations-Oper ist. Man wird weder mit der Hauptfigur, noch mit einer anderen wirklich Mitleid oder Mitgefühl erleben - mein Ziel ist eher ein Wiedererkennen, eine emotionale Beteiligung, der man sich nicht entziehen kann. Trotzdem wird sie uns keinen Moment loslassen und uns zwingen, ihren gnadenlosen Weg mitzugehen...
Vielleicht ist es längst an der Zeit, den Blick wieder ganz auf den ursprünglichen Mythos zu richten, der keine Parteinahme kannte, keine Moral und keine Utopie der nur eine theatralische Reise durch ein blutiges Fenster in uns selbst ist - ohne Anfang und Ende, ein Blick in das Dunkel, in die Nacht, in den Wahnsinn.



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Ich empfinde den verengenden Blick auf diese alte Geschichte sehr aufregend, heutig, zeitgemäss - und will, die rationalen Erklärungen verweigernd, herausfinden und zeigen, wieviel Wirklichkeit der Mythos in sich trägt. Meine Empfindung für das Stück ist modern; es ist wie ein unglaublicher Thriller, Kamerafahrten durch lange Flure, obskure Räume, Keller und Hinterhöfe, in denen sich Gefühle als Naturgewalten widerspiegeln... nichts Monumental-Archaisches, keine Burg oder Mauern oder Statuen... man muss die Bühne natürlich auch als Kopfraum oder «Seelenort» betrachten - ein Medium für die Geheimnisse und Abgründe der Protagonisten; insbesondere von der ortlosen, unbehausten ELEKTRA.

UNTER DEM PALAST ist VOR DEM PALAST

Bei uns ein Korridor/also ein Verbindungsort/Durchgangsraum/ein Draussen im Drinnen/eine Art gerichtetes Labyrinth/schräg und spitz nach hinten verlaufend/zwei lange Wände, die sich weit hinten für eine letzte Türöffnung treffen/links und rechts mehrere Türen, die aber nicht wirklich den Blick in die Zimmer/Räume dahinter freigeben/drei grosse Oberlichter/die Türen auf der nach aussen gerichteten Seite evtl. gepolstert/der Eindruck ist, dass die Räume dort eher weiss und gleissend sind/jedenfalls eine Welt, die nicht mehr von dieser Welt ist/eine Art von Starre und Abgeschlossenheit ist wichtig/die Assoziation mit Hotel, Krankenhaus; («Toten»)-Schiff, Gruft oder Irrenanstalt ist auch nicht schlecht/der Boden ist Erde/Elektra wohnt schon in ihrem Grab/hat dort ein Loch gebuddelt/vielleicht auch Sachen aus ihrem früheren (Kindheits)-Leben dort verscharrt/der Boden konnte sich aber auch bewegen/unmerklich-merklich wie ein Wellengang verändern/Unsicherheit erzeugen/er ist schwankend und organisch/dreckig/flüchtig von Teppich bedeckt - auch hier kann etwas eindringen, wie durch alle anderen Öffnungen.
Die Menschen haben sich hier eingerichtet; die Zimmer sind mit nichts möbliert als mit ihren Emotionen und Träumen. Vordergründig gibt es eine banale, alltägliche Ebene in der Erzählung: Menschen im Hotel, einem halbwegs öffentlichen Ort, der aber auch Platz für Privates, Intimes zulässt. Auch die Erscheinung der Menschen ist heutig, und ihre Lebensgeschichten könnten durch Beobachtung leicht nachvollziehbar sein - da erscheint ein Geflecht von Begegnungen und Verstrickungen, die jeder bei genauerer Beobachtung wiedererkennen würde; oberflächliche Konflikte und Hoffnungen, die nur eine Andeutung dessen sind, was sich hinter der Fassade der Realität abspielt.
Die zweite Ebene ist als uralte Geschichte in unser Inneres eingeschrieben; eine komplexe und gefährliche Mischung aus Tabus, aus Wünschen und Verstörungen, aus Zuneigungen, Sehnsüchten und archaischen Trieben. ELEKTRA steht da, um die dünne Schicht unserer Sozialisation rasch wegzukratzen und uns weit und tief in die mythische Zeit zurückzustossen - insofern ist sie vielleicht auch eine Art Medium, ein Katalysator für verschiedene gesellschaftliche und emotionelle Strömungen, angesiedelt zwischen Seherin und Kranker, mit unglaublicher Sensibilität und Wut ausgestattet. Von Anbeginn an ist ELEKTRA dem Ende verfallen und die Rache ist die negative Form ihres Karmas. Es ist wie ein Bild des Phönix - eine Kreatur, die eigentlich schon tot ist, die nicht mehr wie alle anderen um ihr Überleben, um Eiweiss oder Geld kämpft, folgt einer höheren Mission: In der Sekunde des Schreckens (beim Tode Agamemnons/deshalb beginnt auch ihre «Bühnenexistenz» mit diesem Motiv) erwacht sie zum Leben.
Ich habe die ganze Oper in 13 Szenen und einen Prolog aufgeteilt. Jedes Bild ist ein eigener und unterschiedlicher Moment und wird auch als solcher (durch die Perspektive Elektras, die ja permanent anwesend ist) gezeigt. Die von den Autoren angestrebte Einheit von Ort, Zeit und Handlung (extrem verdichtet fast zu einem Augenblick!) kann man ja erst nehmen und doch wiederum subjektiv weitertreiben.
Gerade das Disparate und Fragmentierte der Geschichte erhöht die Spannung und schärft die Wahrnehmung für das Unfassbare an ELEKIRA. Es war ja Hofmannsthals erklärte Absicht, diesen Stoff aus einem Gegenstand des Bildungsinteresses zu einem Gegenstand der Emotion zu machen.
Die Welt, der «Hof», der ELEKTRA umgibt, ist gekennzeichnet durch Weiblichkeit (bis zu Orests Ankunft dominieren ausschliesslich Frauen die Handlung). Doch diese ist korrumpiert durch Männer, die sich in diesem System eingenistet haben. An der Spitze Aegisth mit einer sowohl kriminellen als auch despotischen Energie; er zieht offensichtlich die Fäden in der Camouflage des «Weibes», der «Memme», macht «Gewinn» und missbraucht die Frauen vor allem deshalb, weil er ihre Schwächen (ihre Verdrängungen) kennt und ihre Sehnsüchte befriedigt (er «bestellt die Felder»). Obwohl er sich äusserlich (zusammen mit allen männlichen Dienern) auf eine gewisse Art dem Frauen-Bild unterordnet, ist er doch sehr gefährlich und der von den «Kindern» zu bekämpfende Fremdkörper. Dazu braucht es auch szenisch eine starke Kontra-Figur mit grosser irritierender Präsenz, damit das Mord-, Ehe- und Verratsproblem wesentlich verschärft verhandelt werden kann.
Während ELEKTRA in ihrer kompromisslose Todesfixierung völlig losgelöst von jeglicher Furcht erscheint, ist der «Hof» Klytämnestras gekennzeichnet durch Verlogenheit, Dekadenz und vor allem durch Angst. Schlimmer als die Verdrängung des Mordes an Agamemnon ist die Verdrängung des Todes überhaupt. Der Ersatz der alten Ordnung (des Sterbens und der patriarchalen Erbfolge) durch eine neue (wogegen man ja nichts haben muss!) fand allerdings mit Mitteln der Gewalt und der Unfreiheit statt - also ist auch die neue Ordnung eine des Blutes!
Deshalb sind die Menschen rund um Klytämnestra im verzweifelten Versuch, ewige Jugend zu erlangen, immer schön und modisch - jeder muss sich anpassen. Es herrscht eine extreme Kälte, aber voll glatter Schönheit, die sich permanent mit Reinigungsritualen belebt, durch andauernden Sex zu beglücken versucht...
Wenn ELEKTRA die Polarisation von Vergangenheit und Zukunft verkörpert und völlig ohne Bezug zur Gegenwart lebt, bedeutet die konkrete Welt und Gesellschaft, in der sie nichtsdestotrotz zu leben hat (der «Hof») umso mehr die Realität des Jetzt - und damit eine Gegenwart mit all ihren «neuen» Geisteskrankheiten (z. B. durch Medien und Werbung provozierter sexueller Wahn/totale Gewaltbereitschaft und Gewaltdurchdringung der Gesellschaft/Ersatz der Realität durch eine total virtuelle Welt/natürlich auch: terroristischer Selbstmord). Nicht dass ich das konkret für eine Inszenierung Umsetzen möchte, aber wenigstens muss ich bekennen, dass mich die gesellschaftlichen Probleme (und «Krankheiten des Geistes») am Ende des vorvorigen und am Beginn des vorigen Jahrhunderts nicht mehr wirklich interessieren!
Selbstentfremdung/Identitätsverlust - das sind ewig gültige Symptome einer Krankheit, die alle drei grossen Frauen des Stücks erfasst hat. Chrysothemis möchte die starre Abfolge der Zeiten vertauschen, sich entwickeln, Kinder kriegen und atern, aber auch sie ist ein Atridenspross und geprägt durch die Blutordnungen - am Schluss bleibt fraglich, ob sie die Erfüllung ihrer Sehnsüchte erfährt. Sie wird von dem dunklen Gefühl geplagt, dass «alles gleitet und vorüberrinnt»; sie läuft einer ILLUSION hinterher (zukünftiger Gatte). Ihr Ich ist bedroht, «schwerpunktlos und umrisslos» zu werden, es mag sich auf sich selbst nicht mehr zu besinnen, die eigenen Grenzen nicht mehr zu bestimmen, verliert den Sinn für die Wachstumsringe der Zeit. Und anstelle des organischen Zeitempfindens tritt etwas furchtbar Ungewisses, wesenlos lneinanderfliessendes. Dieser Verlust der bindenden Kräfte führt zum Verlust des Selbst.
Klytämnestra befindet sich im Zustand der zweiten Kindheit. Sie glaubt an Zauber und Gegenzauber- für sie ist alles relativ. Ihr schwankt das Erdreich unter den Füssen, sie wird von der einzigen Angst verfolgt, dass die verdrängte Tat ins Bewusstsein träte und sie mit sich selbst konfrontiert. Diese Angst hat ihr Bewusstsein ausgehöhlt. Sie sucht die geschlechtliche Vereinigung (da meint sie sich weniger allein) oder den Schlaf (da meint sie sich weniger verletzlich) - und findet weder Erfüllung noch Ruhe. Sie hat ihr eigenes Ich verdrängt und wühlt als Schlaflose im Nichts.
In dieser völligen Orientierungslosigkeit und Sinnentleerung hat ELEKTRA in ihrem paradoxen, unmenschlichen Beharren auf Rache wenigstens noch so etwas wie SINN und eine ORDNUNG. Aber wenn dieses «Werk» vollbracht ist (nicht von ihr eben), klammert sie sich wie eine Ertrinkende an die Identifizierung mit dem wahren Täter Orest. Sie hat sich mit ihrer Vaterbindung durch ein NICHTS, das nicht einmal sie Leben nennt, getastet - und dann nimmt ihr Chrysothemis am Ende durch den Ausruf: «Das ist ja Elektra» sogar noch diese Illusion. Durch dieses Wiederherstellen ihrer eigentlichen Nicht-Identität besitzt ELEKTRA nichts mehr. Seit dem Tod ihres Vaters ist sie zur Liebe nicht mehr fähig - ihre Willenskraft ist auf etwas anderes gerichtet. «Sie droht» - so Bryan Gilliam in seiner Studie «Elektras Tanz und Auflösung» - «den Faden zu durchtrennen, der die Vergangenheit mit der Zukunft verbindet, der das Individuum mit der menschlichen Gesellschaft verbindet und der letztendlich Zivilisation vereint.» Und ich glaube, sie tut es auch. Meine ELEKTRA ist noch mehr von der Gesellschaft abgeschnitten, als Strauss und Hofmannsthal es sich vorstellen konnten. In ihrem «Tanz» geht sie verloren. Zwar fordert sie noch alle auf, sich ihr anzuschliessen - sie bleibt aber allein. Nur nach dem Tod von Aegisth, Klytämnestra UND Elektra - so sieht es Hofmannsthal - könnte die gesellschaftliche Ordnung (Harmonie) wieder hergestellt werden. Unsere ELEKTRA stirbt nicht.
Hier vollzieht sich der Schritt zur Tragödie in einem neuen und anderen Jahrhundert: Der einzige Willensakt, der ihr die Möglichkeit zu sterben erschliesst und damit den Weg der Heilung zu finden durch den Tod, - er erfüllt sich nicht. Einmal in unserem Stück wird ELEKTRA sich selbst als Kind begegnen. Dem unschuldigen Kind, das noch gar nicht weiss, was Rache überhaupt ist. In diesem Blick zurück könnte für mich, wenn überhaupt, so etwas wie Utopie liegen.
Orest ist ein Fremdkörper, einer von dem man nichts weiss (der auch nichts über sich erzählt und seine Herkunft, seine Motive eigentlich im Dunkeln belässt). Er ist der von draussen in diese hermetische Innenwelt eindringende Fremdling, deren Aufgabenstellung (der Rachemord) ihn bis an den Wahnsinn verfolgen wird. Ich bin davon überzeugt, dass man seine «Erscheinung» sehr auf seine «Funktion» begrenzen muss; schon sein «Auftritt» sollte keiner sein - er ist plötzlich da, niemand weiss, woher er gekommen ist und ob er nicht sowieso Ausgeburt der irren Sehnsucht ELEKTRAs ist... Auffällig ist, dass ELEKTRA in ihren Szenen mit Chrysothemis, Klytämnestra und Orest eine grosse Intimität zulässt; es sind ja alles auch Liebesszenen! Die mit Orest ist die intensivste und auch schönste. Hier verschmilzt die disparate Musik der Elektra mit der reinen des Orest zu einer faszinierenden Einheit, aus der heraus so Vieles möglich wäre. Aber es geht ums Mordgeschäft - das sollte man nicht vergessen. Schlimmer noch: die idealisierte Rache-Begründung für den Tod Klytämnestras und Aegisths (und vieler anderer am Hof) wird zusätzlich gnadenlos demontiert - hinter Orest läuft ein grosses, längst orgsanisiertes Komplott ab, für das Orest (und ELEKTRA) nurmehr als Strohmänner gebraucht werden. In der politischen Dimension des Machtwechsels (ELEKTRA spielt an einer Zeitenwende - es geht auch banal um Ablösung von Herrschaft) sind beide als Individuen auf verlorenem Posten. Ihre private Geschichte und Motivation zählt für das bevorstehende Massaker gar nichts mehr. Die Morde sind nur das Startzeichen dafür, die Leichen des Königspaares sehen auch nicht anders aus als die von Causescu und seiner Frau 1989 in Rumänien.

DIE ALTE ORDNUNG BLUT

ELEKTRA (I)