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PAUL BEKKER

JOSEPHSLEGENDE

KRITISCHE ZEITBILDER

SCHUSTER UND LOEFFLER
BERLIN 1921


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Uraufführung in der Pariser Großen Oper am 14. Mai 1914
Als Richard Wagners Tannhäuser auf Befehl Napoleons III. in Paris aufgeführt werden sollte, drohte
das Projekt daran zu scheitern, daß dem Werk das vorschriftsmäßige Ballett im zweiten Akt fehlte. Erst Wagners Zugeständnis, die im Sängerkrieg unmöglich unterzubringende Tanzeinlage für den ersten Akt nachzukorn-ponieren, ermöglichte die Ausführung des Planes. Bei Richard Strauß bedarf es nicht so zwingender Gründe. Er schreibt gleich das Ballett, auch ohne einer dazugehörigen Oper auf diese Weise den Weg ebnen zu wollen. Zwar versichern seine Freunde, das Stück sei gar kein Ballett, auch keine Pantomime, sondern etwas ganz Neues, vorläufig Namenloses und voller hochsymbolischer und äußerst mystisch allegorischer Intentionen. Man dürfe überhaupt ohne Vorbereitung gar nicht darüber zu reden wagen, ohne Gefahr zu laufen, tiefe Geheimnisse zu übersehen oder das grundsätzlich Neuartige des Werkes zuverkennen.
Dieser wichtigtuerischen Geheimniskrämerei muß man zunächst entgegenhalten, daß das Straußsche Werk doch unzweifelhaft ein praktisches Bühnenstück, sein soll und als solches in erster Linie aus sich selbst, aus seiner Bühnenwirkung heraus aufgefaßt und erklärt werden muß. Genügt diese nicht, bleiben noch irgendwelche durch den sinnlichen Augenblickseindruck nicht ausreichend gelöste Fragen, - nun wohl, so mag man versuchen, durch erläuternde Klarlegung dem Verstänjnis nachzuhelfen. Dann muß es sich im Laufe der Zeit zeigen, ob die Ideen des Autors der Gegenwart so weit vorausgeeilt waren, daß sie von der im Konventionellen befangenen Mitwelt nicht sofort erfaßt werden konnten, oder ob er vielleicht seine Arbeit an eine im Entwurf verfehlte, lebensunfähige Idee gewendet hat. Literarischen Nachhilfeunterricht aber von vornherein als Bedingung für die richtige Würdigung eines Bühnenwerkes zu fordern, geht nicht an. Man müßte dann vermuten, es käme den Autoren mehr auf das an, was sie gewollt, als auf das, was sie tatsächlich geleistet haben, womit allerdings sie selbst schon ein Eingeständnis ihrer schöpferischen Schwäche gegeben hätten.
Vielleicht ist es ein solches oder ein ähnliches Gefühl, aus dem heraus die Verfasser der «Josephslegende»: Hugo v. Hofmannsthal und mehr noch Harry Graf Keßler ihrem Werke Vorreden mitgegeben haben, bei deren Lektüre man glauben könnte, der Leser sollte demnächst in die eleusinischen Mysterien eingeweiht werden. Zur Rechtfertigung der Stoffwahl sagt Hofmannsthal: «Die uralten Legendenstoffe sind in, doppeltem Sinne unerschöpflich. Nach innen zu enthalten sie das menschlich Gleichbleibende in einer Verdichtung, die den Jahrtausenden widerstand und jedem neuen Geschlecht durch frische und unberührte Bruchflächen ergiebig wird, nach außen setzen sie die Phantasie der Welt unablässig in Bewegung, so dieser vom ägyptischen Joseph, an welchem nach so vielen Musikern, Malern und Dichtern auch Goethe nicht unberührt vorübergegangen ist.» So wird zunächst die Wahl des Stoffes und weiter der Einfall, ihn «in der Art der Cartons des Veronese zu behandeln und ihn so in ein noch freieres Gebiet der Phantasie hinüberzuspielen», begründet - eine Begründung, deren es bei einem aus sich selbst überzeugenden Werke gar nicht bedurft hätte und die fast wie eine Entschuldigung anmutet. Und nun kommt Graf Keßler, der darlegt, daß der Inhalt dieses «Joseph» der «Gegensatz und Kampf zweier Welten ist»: «Der Kontrast reicht vom Kostüm, bis in das Innerste des durch Gebärden und Musik sich offenbarenden Seelenlebens der Figuren... Die eine Welt, die des Potiphar, ist prunkvoll, üppig, schwül, voll von seltsamen Düften und beschaffen wie ein tropischer
Garten, aber ohne Geheimnis, in sich ausgeglichen, klassisch, hart, schwer, eine Welt, in der selbst noch die Luft mit Goldstaub geladen scheint.»
Die andere Welt ist die des Joseph. «Er ist anmutig, wild, herb, seine Gestalt ist kindlich und frisch, nichts in ihr darf süß oder weichlich wirken: sie schmeckt, wenn man sich so ausdrücken darf, wie ein nicht ganz reifer Apfel. Er ist in dem Alter, wo die Stimme umkippt, das ist seine eigentliche Note.» In dieser Weise fließen mit ständig sich steigerndem Pathos die einführenden Worte über 26 Seiten fort, und man fragt sich am Schluß in höchster Spannung, wie denn die Autoren das Kunststück vollführt haben mögen, alle diese weittragenden kulturphilosophischen, psychologischen, religiösen und anderen Ideen in eine szenisch pantomimisch gedachte Form zu bringen.
Und da offenbart sich die Zwiespältigkeit, das mehr Ersonnene als Erfühlte dieser in einer Ästhetenretorte zurechtgebrauten Kunstgattung. Von all dem Hohen, Schönen, von all den Weltanschauungslehren, die im gedruckten Vorwort stehen, ist - man darf das wohl sagen - nichts in die Handlung übergegangen, oder doch nur so viel, wie nötig ist, um den Zuschauer beim Verfolgen von an sich durchaus einfachen Bühnenvorgängen durch eine angestrebte, aber nicht zum Ausdruck gelangte tiefere Bedeutung in Verwirrung zu bringen. Das Bühnenbild entwickelt sich zunächst auf sehr primitive Weise: Ein Scheik läßt dem beim Gastmahl sitzenden Potiphar Schätze aller Art bringen, Sklavinnen vorführen, einen Boxerkampf zeigen. Zuletzt muß der junge, aus der Wüste entführte Hirte Joseph tanzen. Er erregt die Aufmerksamkeit von Potiphars Weib. Die Tafel wird aufgehoben. Joseph erhält eine Lagerstätt auf der Bühne zugewiesen und schläft hier ein. Wie das Textbuch sagt, träumt er von einem Engel, der schützend an sein Bett tritt. Als er wieder erwacht, steht Potiphars Weib vor ihm. Eingedenk des von Parsifal gegebenen Beispiels stößt er sie zurück. Diener eilen herbei. Auch Potiphar wird gerufen. Er will Joseph foltern lassen. Da erscheint ein «ganz in Gold gewappneter Erzengel» und führt Joseph, vorbei an den geblendet Dastehenden, hinaus ins Freie, während Potiphars Weib sich erdrosselt.
Das ist alles, was der Zuschauer zu sehen bekommt, - eine Handlung also, die, abgeseheif von kapriziösen, von Strauß zwar getreu mitkomponierten, aber in der Darstellung nicht veranschaulichten Einzelzügen, sich in bequem übersehbarer Form abrollt und eigentlich gar keines besonderen Kommentars bedürfte. Man könnte demnach die Vorreden auf sich beruhen lassen und sich mit dern Werk begnügen, wenn hier nicht doch manche Unklarheiten der Vorgänge im einzelnen störend auffielen und die tiefergehenden Absichten der Autoren andeuteten, ohne sie erkennen zu lassen.
Schon die Bedeutung von Josephs Tanz gibt zu raten, Sein Traum und die Erscheinung des Engels sind nicht minder ungenügend geklärte szenische Vorgänge. So greift man dann wieder zum Textbuch, um zu erfahren, was denn dies alles eigentlich bedeuten solle, und merkt dabei, daß die Autoren leider Leute sind, die mancherlei schöne Absichten haben und uns an eine reichgedeckte Tafel laden, dann aber mit der Aufzählung der Gerichte entlassen, die sie uns bei besseren Vermögensverhältnissen hätten vorsetzen mögen.
Nun gab es allerdings eine Möglichkeit, alles das, was die Librettisten darstellen wollten, aber nicht konnten, wenigstens gefühlsmäßig zum Ausdruck zu bringen: durch die Musik. Hier aber stößt man auf die größte Merkwürdigkeit dieses Werkes. Richard Strauß hat es nämlich vorgezogen, der metaphysischen Gebrauchsanweisung seiner literarischen Anreger keine oder doch nur geringe Beachtung zu schenken und dafür zunächst auf seine Weise einzig im Anschluß an die sinnlich faßbaren Bühnenvorgänge nach eigenem Gefallen Musik zu machen. Ihn interessierten anscheinend die spekulativen Absichten seiner Mitarbeiter nur nebenher. Mehr mag es ihn gereizt haben, dem mimischen Talent der russischen Tänzer eine passende musikalische Unterlage zu geben. Denn daß es schade ist, solche einzigartigen künstlerischen Fähigkeiten immer wieder auf Arrangements rein instrumental gedachter Kompositionen angewiesen zu sehen (der diesmalige Abend wurde durch eine in der Idee nicht sehr glückliche Fokinsche Bearbeitung von Schumanns «Papillons» eröffnet), kann keinem Zweifel unterliegen. Manchem Freunde der russischen Tanzmusik mag schon mehr als einmal der Wunsch aufgestiegen sein, solche körperliche Ausdruckskunst im Verein mit der organisch dazu passenden Musik genießen zu können. Wie aber müßte diese Musik beschaffen sein? Im Chätelet zeigte sich in diesen Tagen die Schule der Loie Fuller mit Vorführungen, die an sich wie die Leistungen anderer dieser Schulen viel zu unbedeutend sind, um besondere Erwähnung zu verdienen, die aber doch eines brachten, was gerade im Hinblick auf die josephslegende beachtenswert war: eine kurze, nur wenige Minuten dauernde Tanzmusik, «Feu d'artifice» des an einigen Orten Deutschlands durch seine «Petruschka» zwar schon bekannten, aber bisher nur wenig gewürdigten Stravinsky.
Er hat auch für die soeben eröffnete Pariser Saison des Russischen Balletts eine Novität geschrieben «Feu d'artifice» ist sicherlich als Musikstück angesehen keine hochbedeutende Komposition. Trotzdem offenbart sich eines darin mit fast elementarer Gewalt: der angeborene Sinn Stravinskys für das, was man visuelle, gleichsam gegenständlich gewordene Musik nennen könnte, Musik, die nicht etwas illustriert oder ausmalt, sondern die hörbar gewordene Erscheinung ist. Wenn zu der erwähnten Musik Stravinskys auf der Bühne alle die zuckenden und schwärmendenlichterscheinungen auftauchen und in phantastischer Form umherschwirren, so fühlt man: diese Musik und dieses Bühnenbild sind ein unlösbares Ganzes, eines aus dem anderen entstanden und innerlich mit ihm durch geheime Fäden verbunden.
Strauß fehlt der Sinn für diese Art Kunst. Seine Musik malt, sie charakterisiert, sie veranschaulicht. Wenn ein paar Windhunde über die Bühne springen, so gibt es schnelle Sechzehntelläufe. Rieselnder Goldstaub wird durch flatternde chromatische Triolen dargestellt. Die Boxer bekommen einen schleichend schwerfälligen, die Sklavinnen einen elegischen schwermütigen, der tanzende Joseph einen in den zartesten Klangregionen hüpfenden Rhythmus. Alles dies ist an sich recht hübsch, oder könnte doch recht hübsch sein, aber es trifft nicht das, worauf es hier eigentlich ankommt. Es ist keine eigene lebendige Gebärde in dieser Musik, sondern sie beschreibt nur die Bühnenvorgänge. Sie läuft nebenher und wird dabei nicht selten als lästig und gar zu redselig empfunden.
Daß Strauß in diesem Punkte versagt hat, daß er nicht eine tänzerisch erfühlte, sondern nur eine tanzbare Begleitmusik geschrieben hat, darin liegt das schwerwiegende Urteil gegen das Werk. Nachträglich will es fast scheinen, als sei dieses Versagen unvermeidlich gewesen. Es gehört wohl eine andere psychische Kultur der Rasse dazu, um die Musik zu schreiben, welche die Russen brauchen und die ein Stravinsky schafft. Es ist nicht wahrscheinlich, daß die Tanzsprache der Russen von uns übernommen, bei uns heimisch werden wird, weil sie trotz aller kunstvollen Geschlossenheit des Stils im wesentlichen das hoch entwickelte Erzeugnis einer Kulturstufe ist, auf der die Menschen noch am intensivsten in der Sprache des Körpers und der Glieder, nicht aber in der des abstrakten Gedankens empfinden. Unsere westeuropäischen Musiker haben die Naivetät verloren, um eine Musik schreiben zu können, die unter Verzichtleistung auf das Wort dem Ton den vollen Ausdruck der Körpergebärde gibt. Sie haben dafür andere Fähigkeiten gewonnen. Wie hoch steht der Strauß, der den Tanz des Zarathustra geschrieben hat, über dem Schöpfer der Josephslegende! Dort wurde der Ton zum Ausdruck einer Idee und dadurch gewann er Kraft und innere Gewalt, hier will er Sichtbares im Klanggebilde auffangen. Aber er kann es nur nachäffen. Und je deutlicher er es hervortreten läßt, um so blasser und fadenscheiniger wird die Musik.
Als ihr Schöpfer sich von der Idee ab und der sinnlichen Erscheinungswelt zuwandte, beraubte er sich selbst der tiefsten inneren Quellen seiner Künstlerschaft und übrig bleibt eben nur ein Komponist, der pantomimisch gedachte Tanzmusik schreibt.
Daß sich in dieser Tanzmusik einige hübsche, namentlich klanglich reizvoll gemachte Episoden finden, bedarf gegenüber einem Musiker von der geübten Hand und dem spürfindigen Intellekt eines Strauß kaum der Erwähnung. Am besten geraten ist wohl die Szene des Joseph mit dem anmutigen Pastorale und dem anschließen den, geschickt gesteigerten Tanz, in den sich ein amüsantes Menuett der begleitenden Tänzerknaben einfügt. Im ganzen sind aber auch diese Episoden selten. Da, wo die Librettisten die symbolische Vertiefung des Ausdrucks wünschen, wo ein gesteigertes Seelenleben sich offenbaren sollte, versagt Straußens Erfindung. So im Gebet und im Traum des Joseph, in der Schlußapotheose mit, der Erscheinung des Engels und vor allem in der lediglich mit Benutzung gangbarer Klischees dargestellten Verführungsszene. Hier, wo die stets anregungsbedürftige Natur Straußens von seinem poetischen Mitarbeiter im Stich gelassen wurde und aus Eigenem nichts zu finden wußte, tut sich eine Partitur von einer homophonen Dünne des Klanges, Mattheit der Ideen und Glanzlosigkeit des Kolorits auf, der gegenüber man irgendeinen Vergleich mit einem der vorangehenden Bühnenwerke unbedingt ablehnen muß. Selbst der Rhythnliker Strauß ist hier aus Mangel an innerem Antrieb erlahmt und manche Einfälle, die der Melodiker uns in dieser Legende auftischt, stammen aus Bezirken, die den transzendenten Regionen seiner Librettisten entgegengesetzt sind.
So ist es kein erhebender Eindruck, mit dem man von diesem Werke scheidet. Man fragt sich schließlich, ob ein solch rapides Nachlassen der schöpferischen Spannkraft, wie es sich hier offenbart, wirklich nur einen augenblicklichen Stillstand bedeutet, oder ob es etwa nicht Symptome einer tiefer wurzelndeh inneren Ermüdung sind, die sich mit fast erschreckender Deutlichkeit zeigen. Wenn man auch erklärend sagen kann, daft Strauß hier gescheitert ist, weil er sich eine Aufgabe stellte, zu deren Bewältigung ihm eigentlich die inneren Vorbedingungen fehlten, wenn man auch weiter sagen kann, daß in erster Linie die prätentiöse Gedankenarmut der Mitarbeiter seinen Aufschwung verhindert hat, so bleibt doch ungeachtet aller dieser Erklärungsversuche ein Stachel zurück.
Sicher dürfte sein, daß die Josephslegende der Straußsehen Künstlerphysiognomie keinen neuen Zug einfügt - keinen wenigstens, den man als Bereicherung ihres bisherigen Bildes bezeichnen könnte und weiter entwickelt sehen möchte.