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PAUL BEKKER

DIE HISTORISCHE OPER

[Einleitung] - Strauss - Pfitzner - d'Albert -
Schreker - Busoni - Strawinski
Die Nachkriegs-Oper


WANDLUNGEN DER OPER
ORELL FÜSSLI VERLAG ZÜRICH UND LEIPZIG
pp. 150-158


Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts beginnt das Erlöschen der ausserdeutschen Opernproduktion.
Mit Debussy stirbt der letzte grosse Repräsentant lateinisch gallischer Kunst. Seine gleichaltrigen Weggenossen Dukas, Charpentier, Ravel, die ihn überleben, gelangen nicht über die episodische Einzelwirkung hinaus. In der jüngeren Generation findet sich keine Nachfolge. Die Oper verliert an Schaffensanreiz, kammermusikhafte Instrumentalmusik und die kleine experimentelle Form herrschen vor. Ähnlich ist das Bild in Italien. Puccinis Hauptwerk ist 1904 mit Butterfly abgeschlossen. Die Einakter sind wesentlich nur durch Schicchi, Turandot, von ihm selbst nicht mehr zu Ende gebracht, bedeutet eine Abschwächung, keine neue Wandlung. Es finden sich auch weiterhin kultivierte Begabungen, unter ihnen namentlich der lyrisch erfindungsreiche Alfano, dann Pedrollo, Giordano - aber keiner vermag den gezogenen Kreis zu überschreiten.
Die slavischen Völker bringen noch weniger Neues. Für die Tschechen bleibt Smetanas 1866 geschaffene Volksoper Die verkaufte Braut nebst einigen anderen dieses Meisters das Grundwerk. Dvoraks Opern sind unwesentlich. In Russland steht Mussorgskis Boris vereinsamt. Die musikalischen Talente erproben russische Motive am Muster der Lyrique. Hier findet sich, namentlich bei Tschaikowski, manche vorahnende Verbindung zu Puccini. Wichtiger als die Oper wird für Russland das Ballett. Aus französischer Tradition erwachsend, ersteht dank der aussergewöhnlichen mimisch rhythmischen Begabung des Russen in der Tanz-Pantomime eine neue Gattung musikalisch körperlicher Ausdruckskunst. Vormals hatte sie der Opéra zur Grundlage gedient. Jetzt ruft sie eine neue, ironisch parodistische Art musikalischen Phantasiespieles auf die Bühne. Hier entfaltet sich die originellste Bühnenbegabung des neuen Jahrhunderts: Igor Strawinski. Aber ähnlich wie bei Mussorgski dauert es lange, bis Strawinski in Westeuropa bekannt wird. Auch dann noch fehlen die geeigneten Mittel, um das Eigentümliche seiner Kunst richtig zu zeigen. Seine auf visuelle Veranschaulichung berechneten grossen Tanzspiele müssen sich mit der abstrahierenden Vorführung als Orchestersuiten im Konzert begnügen.
In der übrigen europäischen Opernproduktion breitet sich zunehmendes Schweigen aus - mit Ausnahme von Deutschland. Hier bricht ein wahrhaftes Schaffensfieber aus. Von der Wagnerzeit her lagen noch ein paar anfangs wenig beachtete Werke vor, die nachträglich eine literarhistorigche Gloriole erhalten: der Barbier von Bagdad des Peter Cornelius und Hermann Götzens Bezähmte Widerspänstige. Ihnen schlossen sich als unmittelbare Wagner-Nachfolge an Hugo Wolfs Corregidor, Humperdincks Hänsel und Gretel, Guntram von Richard Strauss, Kain von d'Albert, der Arme Heinrich von Pfitzner. Von diesen, dem Jahrhundertausgang zugehörenden Werken biegt die Linie um nach der italienischen Richtung mit d'Alberts Tiefland. Es folgt die Reihe von Straussens grossen Tondichtungen für Orchester und Bühne: Feuersnot, Salome, Elektra, bis hinauf zu den archaisierenden Stilschöpfungen Rosenkavalier und Ariadne. Zwischen ihnen steht zeitlich Pfitzners Rose, Busonis Turandot, Brautwahl, Schönbergs Erwartung und Glückliche Hand, Schrekers Ferner Klang, und der Entstehungszeit nach, Strawinskis Petruschka. Der Reigen setzt sich fort mit Pfitzners Palestrina, neben den die Chronik Busonis Arlecchino und d'Alberts Tote Augen stellt. Die Geschichte vom Soldaten, Schrekers Gezeichneten und Schatzgräber, Straussens Frau ohne Schatten, bezeichnen das Ende der Kriegszeit.
Jetzt tritt eine neue Generation auf. Hindemiths Einakter, Cardillac, Neues vom Tage, Kreneks Zwingburg, Orpheus, Jonny, Bergs Wozzeck, schliesslich Weills Dreigroschenoper. Mahagonny, Ja-Sager und Bürgschaft repräsentieren die deutsche Jugend der Nachkriegszeit. Zu ihr stässt der Franzose Milhaud mit seinem Columbus, während die Italiener Casella, Malipiero, Castelnuovo-Tedesco sich an der Oper kleineren Formates als artistischem Unterhaltungsspiel versuchen. Zwischen diesen Neuerscheinungen der letzten Generation, deren Anfangserfolg im weiteren Verlauf zu stocken beginnt, stehen wieder grosse Werke der Älteren: Straussens Intermezzo und Ägyptische Helena, Pfitzners Herz, Schrekers Schmied, Strawinskis Ödipus. Auch hier zeigt sich durchweg unverkennbares Erlahmen der Wirkungen wie der Kräfte selbst. Um die Wende des dritten Jahrzehnts versandet die Schaffensbewegung fast völlig.
Diese, nur in den wichtigsten Erscheinungen skizzierte Reihe gibt den Eindruck zunächst einer fast krampfhaften Eruption, die in der Uberstürzung, zugleich wahllosen Vielfältigkeit der Erscheinungen eine geistige Willensgemeinschaft nicht erkennbar macht, daher eine ordnende Betrachtung kaum zulässt. Festzustellen ist das Vorhandensein verschiedenster Stiltypen, nicht nur als Anregungen für Entwurf und Ausführung, sondern auch als praktische Möglichkeiten der Aufführung. Indem die Opernproduktion sich als solche zwar fortsetzte, aber ohne ausreichende Erfolge, nötigte der praktische Bedarf in zunehmendem Masse zur systematischen Weiterpflege der vordem Geschaffenen. Woher aber sollten Sänger und Aufführer kommen für ältere Werke, die zu begreifen, daher auch wiederzugeben waren nur aus bestimmten Bedingnissen von Zeitkonstellationen und -Stilen?
Es ist der Beginn des historisierenden, rückblickenden Zeitalters. Unlösbar mit seiner Produktion verbunden, ist, wie stets, die Frage der Reproduktion. Angesichts der Vielfältigkeit der Aufgaben wird sie zum Problem. Es stellt sich dar entweder als Forderung freier schöpferischer Umgestaltung, oder Forderung rein nachbildnerischer Wiedergabe. Beide Forderungen lassen eine reine Lösung nicht zu. Der Sinn des Kunstgeschehens würde bedingen, dass in allen darstellend ausübenden Künsten für den jeweiligen Gebrauch immer wieder neu geschaffen werde, somit alles Vergangene vergangen bleibe, äusserstenfalls als Dokument dieser Vergangenheit gezeigt werde. Alle grossen schöpferischen Zeiten haben es auch so gehalten. Diese rigorose Lösung des Erbschaftsproblems kommt hier nicht in Betracht. Es bestehen die Tatsachen sowohl der immer noch aktuell lebendigen Wirkung des Uberlieferten, als auch des Mangels an ausreichender Eigenproduktion. Beide Tatsachen kennzeichnen das historisierende Zeitalter und die ihm zugewiesene Aufgabenstellung.
Das Problematische dieser Aufgabenstellung ergibt sich aus dem Fehlen eines eigenen, unmittelbaren Verhältnisses zum Gesangsorgan. Dafür zeigt sich das Vordringen von Nebenelementen orchestraler, also reflektiv spekulativer Art, Stoffbetrachtungen, dramaturgischen und weltanschaulichen, also durchweg aussergesanglichen Ideologien. Die Oper wird mehr und mehr gesehen als Schauspiel, das sich gewissermassen zufällig des Gesanges und der Musik bedient. Die stilbedingenden Grundlagen der Materialgesetzlichkeit dagegen geraten so völlig in Vergessenheit, dass sie allmählich überhaupt nicht mehr geglaubt werden. Sie gelten bestenfalls als Kuriositäten längst vergangener Zeiten, die ernsthaft nicht mehr diskutabel sind. Die wissenschaftlich geschichtliche Musikanschauung tritt an Stelle lebendig schöpferischer Klangerfassung. Musik wandelt sich vom tönenden Laut zum geschriebenen Notenbild.
Für die Produktion ergibt sich daraus Notwendigkeit und Anreiz zur Nachahmung dieses oder jenes Werkstiles, aber ohne Erkenntnis seiner schöpferischen Grundlagen. Die Stimmen werden benutzt bald nach diesem, bald nach jenem Vorbild der Typisierung. Ihre Maske wird zum Schema, ohne Erkenntnis des ihr innewohnenden Funktionssinnes. Handlungen werden zu ethischen, sozialen, religiösen Gesinnungs-Kundgebungen. Fern bleibt die Einsicht, dass das Wesen der Opernhandlung niemals primär ist, wie das des Schauspieles, sondern immer Ergebnis der Schöpferischen Stimmerfassung, aus der erst das Phantom der menschlichen Erscheinung erwächst. Dieser Erkenntnismangel gegenüber der vokalen Grundgesetzlichkeit wird unterstützt durch allgemeines Vorherrschen des Instrumentalempfindens. Dabei prägt sich freilich auch hier noch aus der nicht völlig zu unterdrückenden Eigenlebigkeit des Materiales die innere vokale Führung durch, soweit sie nicht überwuchert wird von anderen spekulativen Elementen.
Aus dieser Situation, die beruht auf dem talentmässigen Willen zur Produktion ohne organische Beziehung zum schöpferischen Sinn der Gattung erwachsen zunächst zwei Schaffensarten: die sinfonische Oper als Nachahmung Wagners, die Gesangsoper als Nachahmung des romanischen Puccini-Typs. Die erste Gattung hat in Humperdinck, Pfitzner, Strauss, die andere in d'Albert und Schreker ihre wichtigsten Vertreter gefunden. Zu ihnen kommt als dritte und originellste Gattung die Oper ohne Gesang - im Grunde aus Verlegenheit, die aber hier geistreich zur schöpferischen Absicht umgedeutet ist: Strawinskis Pantomime. Dieses sind die drei Hauptwege der Vorkriegs-Oper.
Vorbild für die Umlegung des Schaffensimpulses in die sinfonische Instrumentalhandlung war Wagner, die stärkste, zugleich die überhaupt wichtigste musikalische Vollnatur nach ihm ist Richard Strauss. Sein Schaffen umspannt den weitesten Zeitraum von allen Erscheinungen seit Wagner. Es vereinigt die gegensätzlichen Typen in organisch logischer Ordnung und enthält zudem mit Salome und Rosenkavalier auch zwei Welterfolge der deutschen Oper. Das Gesamtwerk ist eine Reihe von Muster zu Muster tastender Stilexperimente, die an zwei Stellen überraschend gelingen, eine gerade Fortsetzung der Erfolgslinie aber nicht zulassen, sondern immer wieder das neue Experiment fordern.
Daran zeigt sich die innere Unsicherheit im Hinblick auf das Verhältnis zur Oper als Gattung. Strauss beginnt im Guntram mit der Wagner-Imitation. Die Herkunft vom sinfonischen Orchester ist unverkennbar, ebenso die Abhängigkeit vorn Vorbild. Sogar die Personalunion von Komponist und Librettist wird nachgeahmt. Der Zusammenhang ist so offenkundig, dass vom Werk nur der Eindruck einer Begabungsbekundung bleibt. Von hier ab lenkt Strauss in den seiner Natur gemässen eigenen Weg ein, zur «Tondichtung», wie er seine sinfonischen Orchesterwerke nennt. Diese Kennzeichnung ihrer geistig künstlerischen Struktur ist richtig Das Straußsche Programm ist der sinfonischen Form nicht durch gefühlhafte Bezugnahme verbunden, es ist ihr organisch eingewoben. Es ist nicht, wie bei Liszt, Bekenntnis oder Meditation - es ist zunächst eine «Handlung», ein musikalisches Geschehen der harmonisch instrumentalen Bewegung, genau wie bei Wagner. Nur ragt es bei Strauss anfangs noch nicht in die vokale und szenische Ausdruckssphäre hinüber, es bleibt auf die Region des Instrumentalen beschränkt.
Erst nach weitausgreifendem Abschreiten dieses Instrumentalgebietes vollzieht sich eine nochmalige Expansion zum Wort, zur sichtbaren Szene, zur singenden Stimme. Nun aber ist diese nicht mehr Führerin. Sie ist letzte Steigerung und Übersetzung der primär instrumentalen Handlung, aus dieser erwachsen, programmatische Deuterin, wo die Bestimmtheit des rein instrumentalen Ausdrucks versagt, oder wo Ausdruckssphären beschritten werden, die in jedem Fall dem Instrument unerreichbar bleiben. Auch in ihnen indessen kommt dem Stimmklang nur noch koloristische Bedeutung als'eines Teiles der Harmonie zu.
So vollzieht sich eigentlich das Auseinanderfallen der von Wagner als grundlegend empfundenen Vereinigung von Wort und Ton. Das Wort dient als solches jetzt der programmatischen Erläuterung. Die Stimme wird zum Teil des Orchesters, von diesem getragen, aus ihm Impulse empfangend, seine Funktionen gleichsam als singendes Orchester-Organ erfüllend, während das klärende Wort dazu von einem literarisch kultivierten Dichter in gar nicht klanggebundener Form beigesteuert wird. Der alte, vorwagnerische Begriff des Textes ersteht von neuem in reziproker Form: er wird nicht, wie einst, zur Unterlage, sondern zur geschickt angeglichenen Verdeutlichung. Das Klanggeschehen als solches geht im Orchester vor sich, ihm fügt sich nun als äusserste klangsinnliche Steigerung die singende Stimme bei. Dieses Orchester, einst Träger absolut abstrakter Ideen, wendet sich aus dem Willen zu gesteigerter Intensivierung dem Ausdrucksgebiet zu, dem auf anderem Wege die lyrische Oper ihre Typisierung verdankt: der Erotik des Geschlechterspieles.
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So erwachsen aus der sinfonischen Tondichtung die sinfonisch eingebetteten, vokalszenischen Bühnenspiele "Feuersnot", "Salome" , "Elektra". Der Geschlechtsakt selbst ist stofflicher Inhalt. Er gibt das Ziel der Phantasiegestaltung, die sich in "Feuersnot" naiv sym~ bolisch äussert, von da aus durch immer stärkere Einbeziehung Pathologischer Elemente gesteigert wird. Strauss gelangt dabei in der Stimmtypisierung zu deutlicher Anlehnung an die romanisch

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lyrische Oper, zumal in der Erfassung der führenden weiblichen Stimme. Sie ist von der Diemut ab über Salome und Elektra jener dramatische Zwischentyp, wie ihn ähnlich Puccini in seiner bestgelungenen Frauengestalt, Tosca, geformt hat. Ihr gegenüber steht, zunächst äusserlich führend, der Bariton: Kunrad, Jochanaan Orest, während der Tenor seine Liebhaberfunktion verliert und zu; Charakterfigur-. Herodes, Aegisth umgeformt wird.

In dieser Umbildung des Tenors kündigt sich eine für die gesamte neue Oper wichtige Veränderung an: die Abwendung nämlich von der Stimmerfassung aus primär erotischen Klangimpulsen. Diese Feststellung mag überraschen in der Ausdrucksregion eines Richard Strauss, zumal gegenüber Werken wie "Salorne" und "Elektra". Der Vorgang ist hier auch nur Nebenerscheinung, erkennbar lediglich, soweit nicht die Antriebe der Haupthandlung wirksam sind. Symptomatisch aber ist, dass der Tenor als Liebhaber verschwindet. Er wandelt sich zur Charakterfigur dämonisch hysterisch pathologischer Art. Damit wird rückwirkend auch der Frauenstimme ein Antrieb entzogen. Dieser Ausfall musste sich geltend machen, sobald der orchestrale Impuls nachliess und die naturhafte Aktionskraft der Stimmen wieder stärker hervortrat.

Die Erfassung des Tenorklanges als Charakterfarbe ist nicht neu. Mozarts Basilio ist vielleicht der Stammvater der Linie, Hal&ys fanatischer Eleasar gehört ihr an, Wagners Loge und Mime, Mussorgskis Idiot setzen sie fort. In allen diesen Erscheinungen wandelt sich der Tenor vom einstigen Liebhaber zum Degenerierten, Verkrüppelten, Ausgestossenen. Der Klang des Organes weckt nicht mehr die Vorstellung des Zarten, sondern des grotesk Absonderlichen .

Diese Art der Tenorgestaltung ist ein erstes Zeichen neuerwachenden Sinnes für die Eigenbedeutung des Stimmorganes. Straussens Weg von der "Elektra" ab zeigt in steigendem Masse die seltsam rückwirkende Kraft der Stimme auf jeden, der sich mit ihr beschäftigt. Sie wandelt den stärksten Verächter stimmlicher Werte allmählich zum Erkenner. Mit "Elektra" hat sich Strauss durch die sinfonische Oper mit all ihren Teufeleien des Kolorits und der Harmonik hindurchkomponiert. Im gleichen Masse, wie dieses Gebiet innerhalb der Straußschen Ausdruckszone durchforscht ist, hat das Geheimnis der singenden Stimme Anziehungsicz

kraft gewonnen. Auch Strauss hört sie primär als Frauenstimme. Der Mann wird für ihn immer mehr zum Gattungstyp mit naiv ausgesprochener Zweckbestimmung des Geniessens. Das Orchester bleibt dabei wichtig als Handlungsfaktor, aber es verliert die Führung. Sobald die Stimme wirklich als singend gehört wird, vermindert sich ohne weiteres der sinfonische Anteil des Orchesters.

So entsteht eines der reizvollsten Stilkunstwerke einer epigonalen Zeit: der "Rosenkavalier", Geschichte dreier Frattenstimmen, die über dem plumpen und doch spielgewandten Bass eines MännchenMannes schweben, in verschiedenartigsten Ensemble-Kombinationen miteinander wie mit ihm ihr Spiel treiben, schliesslich in einem aus den Stimmen feierlich geheimnisvoll aufblühenden Terzett und einem Duett von märchenhaft zarter Klangfreude ausklingen. Dieses Stück ist mit Recht Straussens lebendigstes Bühnenwerk neben "Salome", darüber hinaus gleich dieser ein Dokument genialischer Musik. In beiden Opern sind die Stimmen - dort der Salome und des Herodes, hier die der drei Frauen und des Ochs - über alle instrumentalen und sonstigen Intentionen hinaus zu körperhaften Wesen geworden. Was und wie sie singen, ist nicht neu im Sinne epochalen Schöpfertumes. Aber es ist Verbindung einer zu letzter Reife gelangten und nun rückblickenden Kunst harmonischer Orchesterhandlung mit Wiedererkennung einer alten Gesangs- und Stimrnkultur.

Der Blick auf diese und eine Sehnsucht nach ihr hält von hier ab den Musiker Strauss gefesselt. Er spürt das grosse produktive Gesetz, auch wenn es sich seinem musikalischen Weltbilde nicht direkt einfügen will. So sucht er den Mittelweg einer archaisierenden Stilkunst. Die Stimme singt zwar nicht frei aus sich heraus, aber sie tut so, obgleich sie orchestral harmonisch gebunden, obgleich ihre Melodiebildung, ihre Linienführung instrumental bestimmt bleibt. Es entsteht die Zauberpartitur der "Ariadne". Lebensferner als "Rosenkavalier", von ästhetisierenden Elementen durchzogen, wahrt sie aber doch den Ausgleich zwischen Stimme und Orchester als stilbestimmender Faktoren. So entsteht schliesslich die "Frau ohne Schatten", ein Versuch, beide Prinzipien neben. und aneinander ins Grosse zu steigern, das Orchester wieder aufzublähen, es vom sinfonischen in den konzertierenden Stil zu übertragen, daneben die Stimmen schön singen zu lassen.

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Der Versuch ist zu bewusst und rein artistisch durchgeführt, als dass er, ohne innere Bindung der Elemente, organisch wirken könnte. Es folgt weiterhin der besonders merkwürdige, unter allen Straussischen Bemühungen merkwürdigste Versuch, im "Intermezzo" einen neuen Sprachgesangstil zu finden. Das Orchester wird als gewichtiges und melodiegebendes Instrument beibehalten, die Stimme daneben in realistischer, gelegentlich arios geschlossener Deklamation geführt. Zum erstenmal seit Wagner wird der ur. sprüngliche Zusammenhang von Gesang und Sprache, das eigentlich Sprachbedingte des Gesanges, wenigstens theoretisch wieder anerkannt, Strauss schreibt selbst den Text. Aber die innere Hemmung des Orchesterapparates lässt den Willen nicht zur musikalisch sub~ stantiell befriedigenden Tat reifen. Es bleibt dabei, dass die Stimmen zumeist rezitativisch sprechen, mit kleinen ariosen Unterbrechur%gen und einem breit gebauten Schlussduett, während das Orchester die ergänzende Musik dazu macht.

,' Intermezzo" ist das letzte stil-experimentelle Werk Straussens. Von hier ab verliert sich der Weg in kunsthaft reflektierende Spekulationen. Auch bei äusserer Verkleinerung des Orchesters streifen sie nichts von ihrer instrumental harmonischen Bedingtheit ab, weil die Grundkonzeption unveränderlich festgelegt ist. So zeigt das Strauss-Werk als Ganzes wohl die wiedererwachende Aufmerksamkeit und Liebe für den Eigenwert der Stimme als wichtigsten Organes der Oper. Aber es unterlässt doch die Ausweitung dieser Erkenntnis zur neuen Gestaltungsgrundlage. Die Bindungen auch des reichst begabten Musikers der Zeit an die jüngste Vergangenheit sind zu stark, das Uberwuchern der instrumental harmonischen Grundempfindung ist zu mächtig, während planvoller Wille zu schöpferischer Neuformung aus der Stimme gar nicht vorhanden ist. Es bleibt bei kluger Erkenntnis, archaisch literarisierender Bezugnahme und zunehmend höher gesteigerter meisterlicher Handhabung des Vokalapparates auf der Grundlage der immer wieder instrumental orientierten Konzeption.

3.

Der Weg, den Strauss seiner Herkunft und Veranlagung nach gehen musste, war zwar nicht aus dem primären Material der Stimme,

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aber doch aus einem überhaupt musikalischen Ursprung abgeleitet. Der Boden des realen Klanges und seiner Eigengesetzlichkeit wurde nicht verlassen, wenn auch der schöpferische Antrieb vom vokalen auf den instrumentalen Klang umwechselte. Daneben kam eine andere Art des Gestaltens auf. Ihr erschien die Straussische Art als zu materialistisch, in Folgen und Auswirkungen unsittlich, den Stoffen nach pervers. Die Ableitung aus der Klangmaterie wurde abgelehnt, dafür eine ideologische Dramaturgie hauptsäthlich aus dem Schaffen Wagners, in Einzelheiten auch Webers und Marschners abstrahiert. Ausserer Aufbau, allgemeiner Zuschnitt der Handlung, Prägung der Charaktere: alles also, was in Wahrheit Folgeerscheinung war, wurde jetzt zur ideell konzipierten Grundlage.

So entstand eine theoretische Asthetik des "musikalischen Dramas", die Wagners Form zur weltanschaulichen Gesetzmässigkeit erhob. Die Oper erhielt eine metaphysische Perspektive im Sinne ausserklanglich bedingter Erkenntnis gedanklicher Art. Der Haupt~ grund für diese ideologische Scheinverklärung der Oper ist zunächst - im Gegensatz zu Strauss - die Blutarmut und schwächliche Physis der hierfür schaffenden Begabungen. Sie leben und atmen selbst mehr in abstrakten Theoremen, als im Klanglichen. Dazu kam das Missverstehen des Wesens der Stimme überhaupt. Damit hängt zusammen die Sterilität der Anschauungen, die, einmal von der naturhaften Schaffensbasis entfernt, sich immer weiter in kunstfremde Gedankengänge verloren. So wurde die naivste und sinnenfreudigste Gattung des Theaterspieles, die Oper, zu einer Kundgebung aussermusikalischer Kräfte, die sie zu einer dem Sinne nach wahrhaft kabbalistischen Kunstgattung umformen wollten.

Das Anfangswerk dieser Reihe ist "Hänsel und Gretel". Trotz geschickter Fassung bleibt der Kontrast einer kindlich volkshaften Märchenhandlung mit dem klanglich, harmonisch und satztechnisch überlasteten Wagner-Orchester. Demgegenüber ist das Stimmliche nur insofern von Bedeutung, als die vorherrschende Verwendung, der Frauenstimme mit der Bevorzugung liedhafter Gesangsformen verbunden wird. Die von Humperdinck hier aufgestellte Typisierung des Orchesters: Verbindung von primitiver Liedmelodik mit kunstvoll tuender Scheinpolyphonie und harmonischer Dialektik, hat sich als handliches Muster für den deutschen Hauskom

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