ERNST KRAUSE

JOSEPHSLEGENDE

RICHARD STRAUSS
DER LETZTE ROMANTIKER


INDEX - VORBEMERKUNG


ISBN 3-453-55065-X
[...] Ein merkwürdiges, von Ariadnes Höhenluft kaum berührtes Werk, das ebenso wie Strauss' andere Stücke dieser Gattung nur «Zwischenarbeite», Parergon ist! Sich stilistisch in der Josephslegende zurechtzufinden (die Autoren schrieben ursprünglich Josephs Legende) ist nicht ganz leicht. Von einer «Legende» im Sinne der Lisztschen «Elisabeth» kann bestimmt keine Rede sein. Auf die alte biblische Erzählung deutet auf der Bühne zunächst gar nichts. Man sieht den prunkvollen Saal eines Palastes der italienischen Renaissance, sieht Menschen in Kostümen des 16. Jahrhunderts an einer reichbesetzten Tafel schmausen und ahnt erst nach geraumer Zeit, daß der Mann in orientalischer und die Frau in venezianischer Tracht, die vom Hochsitz unter einem Baldachin aus das Treiben gelangweilt überschauen, Potiphar und seine Gattin sind. Warum die Legende ihrem ursprünglichen Boden entrissen und in diese untypische Umgebung versetzt worden ist, werden Hofmannsthal und Kessler als Verfasser der Handlung überzeugend kaum erklären können. Ein bestimmter Konflikt, der sich nicht aus der Psyche der alten Agypter, sondern nur aus der kulturellen Einstellung der Renaissancemenschen begründen ließe, ist in die Fabel keineswegs hineingekommen. Die Pracht und der verweichlichende Luxus, die äußerlich die Dekadenz und Perversität der Potiphar charakterisieren, hätten sich ohne Schwierigkeiten auch ins Bild der Hofhaltung eines echten oder nachgeahmten Ägyptens einfügen lassen.
Die Potiphar erleidet so genau das Schicksal, das Wilde der Salome und Hofmannsthal der Elektra bereiteten: ihr übermächtiger Sinnestrieb, der in der ursprünglichen Fabel durchaus einfach, nur unbeherrscht ist, wird kompliziert, ins Modern-Dekadente umgedeutet, der humanistische Grundgehalt der Josephserzählung spürbar veräußerlicht. Die ganze lange Handlung, die dem Auftritt des Joseph vorausgeht, die erotischen Tänze verschleierter und unverschleierter Frauen, der Tanz der Liebessehnsucht der Sulamith, die mit peinlicher Naturalistik ausgeführten Boxkämpfe - das alles kann in Verbindung mit dem eigentlichen Spiel der getanzten Verführung keinen anderen Sinn haben als den, die Verworfenheit des Weibes aus der Gesellschaft zu erklären, die sie umgibt. Die Versuchungsszene selbst und die Klage des zurückgewiesenen Weibes lehnen sich an den biblischen Bericht an. Dafür ist die Errettung Josephs durch einen Erzengel dichterische Zutat. Sie ist auch danach.
Es gibt keine zweite Strauss-Partitur, bei der sich die Werkidee so langsam und mühevoll herausbildete. Und es gibt auch keine andere Bühnenschöpfung des Meisters, deren Entstehung von solchen Äußerungen des Unmuts begleitet wurde. Sollte Strauss, der mit wachen Sinnen Begabte, hier doch empfunden haben, daß dies vorwiegend dem «Festlichen und Prunkvollen» zugewandte Ballett nicht mehr in eine Zeit paßte, die wenig später in den Strudel eines Weltkriegs hineingerissen werden sollte? Juni 1912 kündigte Hofmannsthal, dem es eben trotz aller Beredsamkeit nicht gelungen war, Strauss an die Idee einer tragisch-großen Ballett-Sinfonie Orestie und die Furien von dreißig bis höchstens vierzig Minuten Dauer zu fesseln, den Plan an: «Ich habe mit Kessler, dem eine wahrhaft produktive, speziell malerische Phantasie eigen ist, ein kurzes Ballett für die Russen gemacht, Joseph in Ägypten [...].» Diesmal sagte Strauss nicht nein: «Der Joseph ist ausgezeichnet: wird verschluckt! Habe schon zu skizzieren angefangen, die (kulturphilosophischen) Ausführungen des Grafen Kessler überzeugen mich zwar nicht ganz, aber sei's drum, ich werde um die Klippe schon herumkommen, besonders wenn im Textbuch (vielleicht beim Personenverzeichnis) der Charakter der Frau Potiphar ganz genau bezeichnet wird [...]».
Als der Musiker Bedenken wegen des verwandten Verhältnisses Salomes zu Jochanaan äußerte, erwiderte der Dichter: «Ich kann wirklich keine Übereinstimmung finden als die, daß in beiden Stücken eine Dame von einem Herrn etwas verlangt, was wir gewohnt sind, nur als von einem Herrn verlangt und von der Dame gewährt oder nicht gewährt auf der Bühne zu sehen...» Nun traten die Mitautoren mit allerlei Weltanschauung, tieferem Sinn, ja fast Religion auf den Plan; und Strauss in seiner genialen Naivität erklärte rundweg: «Joseph geht nicht so schnell, als ich dachte... Was mich mopst, dazu finde ich schwer Musik. So ein Joseph, der Gott sucht - dazu muß ich mich höllisch zwingen. Na, vielleicht liegt in irgendeiner atavistischen Blinddarmecke noch eine fromme Melodie für den braven Joseph...» Das klang nicht sehr respektvoll und trug dem Komponisten einen strengen, mahnenden, anfeuernden Brief in der vollen dichterischen Diktion Hofmannsthals ein.
«Ich bin betroffen, daß Sie gerade bei der Josephsfigur stocken, die mir als das Beste und glücklichst Erfundene erscheint... Wie ich die Figur sehe, so müßten Sie die Musik dafür... in der reinsten Region Ihres Gehirns zu suchen haben, dort, wo Aufschwung, klare Gletscherluft, Höhe, unbedingte scharfe geistige Freiheit zu finden ist... Dieser Hirtenknabe, geniales Kind,eines Bergvolkes, der sich unten in üppiges Fluß- und Deltavolk verirrt hat, sieht für mich einem edlen, ungebändigten Füllen viel eher ähnlicher als einem frommen Seminaristen. Sein Gottsuchen, in wilden Sprüngen nach aufwärts, ist nichts anderes als ein wildes Springen nach der hochhängenden Inspiration ... Es ist nicht möglich, daß Sie gar keine Brücke von diesem Knaben Joseph zur Erinnerung an Ihre eigene Jugend fänden - ob Potiphar oder nicht: ein Höheres, funkelnd, schwer erreichbar, war oben - und wollte herabgezwungen sein: das ist Josephs Tanz...»
Erst zehn Monate später schrieb Strauss dem Dichter «aus wagnerischer Almeneinöde», daß er «in der Langeweile nun doch glücklich Josephs Tanz fertig skizziert habe und hoffe; daß die Sache nun rüstig weiterschreite und bis zum Herbst in der Klavierskizze und bis Frühjahr 1914 in Partitur vollendet sei» [...] «Es ist eine große und mühsame Arbeit», von der er später behauptete, er habe sie «aus einem Impuls heraus ... ohne nach irgendeinem Stil zu suchen» geschrieben.
Aufschwung, klare Gletscherluft, Höhe, Inspiration... Was von dem ist in dieser Partitur zu finden? Was drückt diese Musik in ihrer dekorativen, breitflächigen Farbenglut von den literarisch-ästhetisierenden Reformen der in diesem Falle geistig aktiveren Partner aus? Der in Kesslers Kommentar aufgezeigte Kontrast «vom Kostüm bis in das Innerste des durch Gebärden und Musik sich offenbarenden Seeleniebens der Figuren» kommt bei Strauss kaum zum Ausdruck. Produktive Anregung bildete für den Farbkünstler weniger das barocke Ballettlibretto als ganz unmittelbar Veronese, Tintoretto oder Tiepolo, festliche Architekturen, prunkende Gewänder, schöne Frauen. Die Partitur erschöpft sich im pompösen Ornament, obgleich sie (wie jeder Choreograph einräumt) ungewöhnlich tänzerisch ist. Die Themen sind von betonter Schlichtheit. Die wenigen Leitmotive werden viel seltener verändert, umgestaltet und umgedeutet als bei anderen Werken. Wie bei Salome malt Strauss den Kontrast zwischen der seelischen Reinheit des Gottsuchers und der Hysterie des liebeübersättigten Weibes vor dem Hintergrund einer kernfaulen, lüsternen Gesellschaft. Doch während er in Salome immerhin die moderne musikalische Formel für die Schilderung ekstatischen Liebesverlangens aufstellte und im gesungenen Drama ausbildete, ist die getanzte Josephslegende nur prunkvoll-artistisches Ausstattungsstück in barocker Unwirklichkeit und mystischer Verklärung.
Ein Riesenorchester (mit der von der Elektra übernommenen Dreiteilung der Violinen, mit Heckelphon, vier Harfen und Celestas, Klavier und Orgel) wird aufgeboten, ohne daß es jene sinnliche Glut verbreitet, die anderen Strauss-Werken eigen ist. Die Erotik wirkt schal, hat nichts Aufregendes. Das Josephs-Dur ist wie eine blendendweiße Wand, auf der die grellen Farben einer reichen Palette spielen. Wohl sucht das instrumentate Kolorit nach mimischen und stofflichen Assoziationen (das «Rieseln des Goldstaubs», die «Windhunde», die «Boxer»), die zu farbig schillernder Wirkung drängen. Wohl hat Josephs Tanz in einer «zierlichen menuetthaften Welt», eins der längsten Soli der Ballettliteratur, einen gewissen idyllischen Reiz, aber die geistig-elementare Kraft der Musik, die Fähigkeit, nicht nur zu schildern, sondern zu werten und zu analysieren, ist nun zurückgedämmt. Das reichlich einstündige «mimische Drama» ist keine läuternde und reinigende Vision, sondern sinnverwirrender Traum. Auch Hofmannsthal hat die Schwächen schon bald erkannt. «Die Musik hat eine große Allüre, einen wahrhaften Freskostil, das ist ihr Bestes», schrieb er an Bodenhausen. «Im Seelischen bleibt sie viel schuldig.»
Die Zeit hat eigen mit dem Werk mitgespielt. Als La Légende de Joseph am 14. Mai 1914 an der Pariser Grand Opera, am Pult der mit der Rosette der Ehrenlegion geschmückte Meister, in der Choreographie Fokins,mit der Petersburger Sangesschönheit Maria Kusnetzowa und dem jungen Moskauer Mjassin anstelle des «ungetreuen», für den Joseph prädestinierten Nijinski, ihre erfolgreiche Uraufführung erlebte, da wurde in Dresden am gleichen Tage Strauss' stärkster Förderer, Ernst von Schuch, zu Grabe getragen. Nur ein Gastspiel im Londoner Dury-Lane-Theater konnten die Russen mit dem Werk noch unternehmen - dann brach der Krieg aus; und niemand fand mehr Zeit und Geschmack, sich um ein Ballett zu kümmern, das ganz Pracht, Luxus, Sinnenfreude war. Daß es außerdem gerade in Paris, dem internationalen Zentrum damaliger Tanzkunst, kreiert wurde (der ungewöhnlich attraktive Abend brachte die höchste, je in der Grand Opera erzielte Einnahme von 511000 Francs), förderte unter diesen Umständen gleichfalls nicht die Verbreitung. So blieben die Rückwirkungen auf die von Strauss angestrebte Reform eines «Musikdramas ohne Worte» zunächst aus; und es vergingen sieben Jahre bis zum internationalen Erfolg der Aufführungen in Berlin und Wien, bei denen erstmalig der Stil der Zeit des Paolo Veronese erfüllt wurde.
1947 faßte Strauss die besten Teile der Partitur zu einem Sinfonischen Fragment für den Konzertgebrauch zusammen. Heute ist Josephslegende kaum noch ein Dokument der Erneuerung des Balletts; erst recht keine Kulturverpflichtung; höchstens eine dekorativ-wirkungssichere Aufgabe für ein reichbesetztes großstädtisches Corps de ballet. (Irrtum: 1976/79 -brachte Fred Neumeiers inhaltliche freie Renaissance das Werk wieder ins Gespräch). Erlaubt sei, es so zu sagen: ein Tanzpoem, in dem es heiß hergeht und das trotzdem kühl läßt.