Wenn Schönheit Wahrheit ist
«Il ritorno d'Ulisse» von Monteverdi im Opernhaus Zürich
Grosse Zeiten waren das, die Jahre nach 1975, in denen das Opernhaus Zürich unter der Direktion von Claus Helmut Drese die Neuentdeckung der Musik Claudio Monteverdis und die Verbreitung der historischen Aufführungspraxis betrieb. Gewiss, ganz unbekannt war Monteverdi damals nicht, «Orfeo» war immer wieder gespielt worden, selbst «Il ritorno d'Ulisse in patria» war seit den sechziger Jahren ab und zu auf der Bühne erschienen. Dennoch geriet der Zürcher Monteverdi-Zyklus mit Nikolaus Harnoncourt und Jean- Pierre Ponnelle zu einer europaweit wahrgenommenen Sensation. Nie war diese Musik in solchem Rahmen, in solchen Klängen, in solchen Bildern zu erleben gewesen. Ganz und gar neu wirkten die alten Instrumente, das schnarrende Regal, die schneidenden Naturposaunen, die fülligen Zupfinstrumente mit ihren langen Hälsen. Blendend die barocke Pracht der Ausstattung, unvergesslich der Spielwitz (in den der Dirigent mit jener Gewissheit einbezogen wurde, mit der Hitchcock in seinen Filmen erschien), denkwürdig die theatralische Zuspitzung im Musikalischen.
Inzwischen ist ein Vierteljahrhundert vergangen. Gehört Monteverdi zwar noch immer eher zu den Randerscheinungen im Musiktheater, ist uns jedoch die alte Musik vertraut geworden und hat die historische Aufführungspraxis bereits eine zweite Generation von Musikern erreicht. Wenn nun das Opernhaus Zürich Monteverdis «Ulisse» mit Nikolaus Harnoncourt am Pult erneut auf den Spielplan setzt, so hat das geradezu etwas Alltägliches - vor dem Hintergrund der künstlerischen Grosstat aus den siebziger Jahren erst recht. Ein simples remake mithin? Man mag es so sehen. Die Einrichtung der Partitur, die Harnoncourt vorgenommen hat - vornehmen musste, da das Werk damaligen Gepflogenheiten gemäss nur rudimentär notiert ist -, scheint nur in Einzelheiten verändert. Und im Graben wirkt zwar die aus dem Orchester der Oper Zürich gebildete Formation «La Scintilla», doch sitzt da eine beträchtliche Zahl von Musikerinnen und Musikern, die schon an der Premiere im November 1977 dabei waren.
Gleichwohl ist dieser Abend über die Rückkehr des Odysseus zu Penelope, die zwanzig Jahre lang auf ihren Gatten gewartet hat, etwas grundsätzlich anderes geworden. Es hat natürlich damit zu tun, dass wir alle - Ausführende wie Aufnehmende - ein Stück älter und an Erfahrungen reicher geworden sind; und damit, dass die Musik eine Kunst ist, die wie die Zeit selbst vergeht und demzufolge jede Wiederholung ausschliesst. Jedenfalls: An die Stelle der sensationellen Wirkung von damals ist jene Schönheit getreten, in der sich für Nikolaus Harnoncourt die Wahrheit verwirklicht. Niemand, der an dieser mit Jubel aufgenommenen Premiere dabei war, wird den ruhig leuchtenden Streicherakkord vergessen, der dort erklingt, wo Odysseus seine Gattin an ihrer beider intimstes Geheimnis erinnert: an jenes seidene, von Penelope selbst gefertigte Betttuch, das die Stätte ihrer Liebe bildete. Da ist das Erkennen endgültig, der Knoten entwirrt, die Spannung gelöst - und es geschieht musikalisch in einer Weise, die zutiefst berührt.
Zuvor ist es zu einem Verlauf gekommen, der von einem wohltemperierten Beginn über eine scharfe dramatische Anspannung schlüssig zum lieto fine führt - und schlüssig trotz wiederum erheblichen Kürzungen am Notentext. Der Prolog und der erste Akt (Harnoncourt hält an der Dreiaktigkeit der Partitur, die dem fünfaktigen Verlauf in den überlieferten Libretti widerspricht, fest und lässt die Pause nach dem ersten Akt abhalten) - die Exposition also wirkt einigermassen gedämpft. Das Klangbild bleibt ausgeglichen, enthält wenig von jenen Krassheiten, die der Produktion von 1977 ihre Frische sicherten, steht näher bei der Einspielung, die Harnoncourt 1971 mit dem Concentus musicus Wien erarbeitet hat. Gleich geblieben ist das Prinzip der dramaturgischen Ausgestaltung des Generalbasses, der je nach Figur, je nach Situation, sogar je nach Satz von Akkordinstrumenten allein ausgeführt oder aber durch den Einsatz unterschiedlicher Melodieinstrumente gefärbt wird. Dabei wird einem wieder bewusst, wie wenig in Monteverdis «Ulisse» in herkömmlichem Sinne gesungen wird, wie viele Arten des sprechenden Singens und des gesungenen Sprechens es dafür gibt.
Zugleich bleibt Zeit, sich in die charakteristische Szenensprache einzuleben, die der Regisseur Klaus Michael Grüber und seine Dramaturgin Ellen Hammer zusammen mit dem Bühnenbildner Gilles Aillaud und der Kostümbildnerin Eva Dessecker pflegen. Es ist eine Art théâtre pauvre, das mit wenigen, dafür aussagekräftigen und gezielt eingesetzten Zeichen arbeitet. Treffen sich Zeus (Anton Scharinger), Neptun (Pavel Daniluk), Hera (Martina Janková) und Athene (Isabel Rey) zum Disput, so stossen zwei hehre Frauen in klassizistischem Habitus mit zwei machtbewussten, wenn auch merklich verzottelten Männern zusammen: Auch im Himmel geht es bisweilen sehr irdisch zu. Und wie im Orchester beständig die Farben wechseln, lösen sich auf der Bühne bemalte Prospekte ab, die nicht nur Schauplätze bezeichnen, sondern auch Götter von Menschen abheben und Stimmungen anzeigen. Vermieden wird dagegen jeder äussere Theatereffekt. Das Schiff der Phäaken, das Neptun in einen Stein verwandelt, wird mit knapper Not zum Kippen gebracht, und die Erdspalte, in welcher der von Athene zum Bettler verwandelte Odysseus für seinem Sohn Telemachos (Jonas Kaufmann) seine ursprüngliche Gestalt annimmt, bleibt geradewegs ausgespart.
Zentralen Schauplatz auf der in leichter Wölbung ansteigenden Drehbühne bildet der Platz vor einer simplen, mit weissem Kalk bestrichenen Hauswand: Wir befinden uns auf einer Insel irgendwo in Griechenland. Das Zepter führt hier der Schmarotzer Iro, der nicht nur alles verschlingt und dabei noch das grosse Wort führt, sondern auch - soll das etwa eine Anspielung sein? - Theaterdirektor ist. In seinem mobilen Puppentheater findet der Wettbewerb der drei am Bogen des Odysseus scheiternden Freier Antinoos (Reinhard Mayr), Pisandros (Martin Zysset) und Anfinomos (Martín Oro) statt. Davor kommt es zum Zweikampf zwischen dem Schwergewicht und dem als Bettler verkleideten Hausherrn und endlich zum ausführlichen Theatertod des ungebetenen Gastes - Rudolf Schasching hat hier einen prächtigen Auftritt. Eindrücklich auch der andere Monolog, jener der Amme Ericlea, den Cornelia Kallisch intensiv ausformt.
Das Puppentheater ist eine jener einfachen Bühnenmetaphern, mit deren Hilfe Grüber den Szenen Profil verleiht. Der Wettbewerb der Freier als Spiel, als Schein und damit als das Unwahre; die Begegnung zwischen dem zwar verkleideten, aber nur scheinbar spielenden Odysseus und Penelope als das Wesentliche, das Wahre. Tritt dieser Bettler auf - es geschieht übrigens völlig beiläufig -, ist alles klar: Grossartig, wie Dietrich Henschel, der seine Partie glanzvoll meistert, zuerst durch physische Präsenz und dann durch stimmliche Ausstrahlung ganz und gar König ist - und ein an Lebenserfahrung gereifter Mensch. Klar ist die Lage auch für Penelope, da scheint Grüber gleich zu denken wie Luigi Malerba in seinem «König Ohneschuh». Vesselina Kasarova, die voll und ganz in ihrer Partie aufgeht, sie aus der Tiefe ihrer Stimme und aus ihrem Inneren heraus gestaltet - Vesselina Kasarova lässt keinen Zweifel daran, dass Penelope genau weiss, wer dieser Bettler ist. Zumindest hofft sie es so sehr, dass es wahr wird. Von da her erhält dieses Wiedersehen, das szenisch ebenfalls ganz unaufgeregt gezeigt wird, seine einzigartige Kraft. Und dann weiss man es: War «Il ritorno d'Ulisse in patria» 1977 eine Pioniertat, so führt diese Aufführung an den Kern des Werkes.
Peter Hagmann