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PIQUE DAME

Einführung

 

1877 heisst es in einem Brief Tschaikowskis an Nadeschda von Meck: «Puschkin durchbricht kraft seines genialen Talents so oft die Schranken der Dichtkunst und dringt in das unermessliche Reich der Musiker ein. Das ist keine Phrase. Unabhängig vom Inhalt der dichterischen Form liegt in seinen Versen selbst, d.h. in der Aufeinanderfolge der Laute, ein gewisses Etwas, das in das Innerste der Seele dringt. Dieses Etwas ist eben Musik.» Mit «Eugen Onegin» griff Tschaikowski im folgenden Jahr dann erstmals auf einen Stoff des russischen Dichters für eine Oper zurück; 1883 folgte «Mazeppa» nach Puschkins Verserzählung «Poltawa» und schliesslich 1890 «Pique Dame» nach der gleichnamigen Novelle.
Zunächst allerdings lehnte Tschaikowski das Sujet entschieden ab, das ihm der Direktor des kaiserlichen Theaters 1888 für eine grosse Ausstatlungsoper empfahl. Tschaikowskis Bruder Modest hatte den Stoff 1887 zunächst zu einem Libretto für ein geplantes Ballett des Komponisten Nikolai Klenowski geformt. Als dieser das Interesse an dem Projekt verlor, hoffte Modest, sein Bruder werde sich dafür interessieren. Doch dieser, zwar gerade bereit, aufgrund des Misserfolges seiner Oper «Die Zauberin» sich «aus Rache auf jedes beliebige Thema zu stürzen», erteilte ihm im April 1888 eine Absage: «Eine Oper werde ich nur dann schreiben, wenn ich auf ein Sujet stosse, das mich wirklich packt. «Pique Dame» tut das nicht, und ich konnte nur eine gute bis mittelmässige Oper aus diesem Vorwurf machen.»
Grundsätzlich interessierte Tschaikowski die grosse Oper «à la 'Aida'» nicht: «Ich will keine Könige, keine Bewegungen der Volksmassen, Gotter, Sagen. Ich suche ein intimes, aber doch erschütterndes Drama mit Konflikten, welche ich persönlich erlebt oder gesehen habe und die tief mein Herz rühren.» Dass Puschkins Novelle ihm genau das Verlangte bot, realisierte er nach wiederholter Lektüre ein Jahr später: So wie er selbst sein Leben als schicksalhaft empfand, fesselte ihn nun der unlösbare Konflikt von ungebändigten Leidenschaften und unbeeinflussbaren Schicksalskräften bis hin zur Katastrophe.
Ausschlaggebend für Tschaikowskis Sinneswandel scheint dabei vor allem die Begegnung Germans mit der Gräfin gewesen zu sein, die ihm zur Schlüsselszene wurde. Aus Florenz, wo er die Oper in der unfasshar kurzen Zeit von 44 Tagen komponierte, drängte er seinen Bruder nach der Fertigstellung des ersten und zweiten Bildes, ihm zunächst den Text für dieses vierte und wichtigste Bild zuzusenden. Und auch schon seine ersten Skizzen, die er an den Rändern von Modests Libretto notierte, beziehen sich auf das spannungsgeladene Orchestervorspiel zu diesem Bild, das dem Komponisten, als er es instrumentierte, nach eigenem Zeugnis «eine solche Angst, eine solche Furcht und Erschütterung einjagte, dass es schier unmöglich ist, sich auch nur vorzustellen, das Publikum empfände nicht wenigstens einen Teil dieser Ängste.»
Welch hohen Bezug die Geschichte der «Pique Dame» zu Tschaikowskis eigener Gegenwart gewann, verrät ein Brief vom 3. März 1890 an Modest: «Den Schluss habe ich gestern komponiert. Als ich an die Stelle vom Tode Germans, zum Schlusschor kam, da tat es mir so leid um ihn, dass ich zu weinen begann. Dann kam ich darauf, warum ich so weinen musste. Es zeigt sich, dass German für mich nicht Veranlassung war, diese oder jene Musik zu komponieren - sondern dass er die ganze Zeit über ein wirklicher, lebendiger Mensch war, dabei ein mir sehr sympathischer Mensch.»
Der Selbstmord Germans gehört ebenso wie der Freitod Lisas zu den wichtigsten Veränderungen, die die Brüder Tschaikowski an der Puschkinschen Novelle vornahmen. Diese Zuspitzung auf ein tragisches Ende hin bedingte auch eine andere Charakterisierung Germans: Ist er bei Puschkin ein verschlossener, ehrgeiziger Offzier deutscher Abstammung, der Lisa mit falschen Liebesbeteuerungen nur benutzt, um an das Geheimnis der drei Gewinnkarten zu kommen, wird er in der Oper zu einem von Leidenschaften und Selbstzweifeln gequälten Mann, der schliesslich seiner Spielleidenschaft erliegt. Und auch Lisa, die sich in der literarischen Vorlage mit einem «sehr liebenswürdigen jungen Mann vermählt», wird das Opfer einer extremen Leidenschaft - der zu German.
Als neunte von insgesamt zehn Opern erweist sich «Pique Dame» im Schaffen Tschaikowskis als Höhepunkt einer Entwicklung zunehmender Vereinheitlichung und Geschlossenheit der Handlungsführung und des dramaturgischen Aufbaus, der in keinem Moment den Bezug zum Grundkonflikt des Werkos verliert. Zugleich wird hierTschaikowskis individuelle Lösung eines Hauptkonflikts der Musikdramatik im 19. Jahrhundert sinnfällig, nämlich die Verbindung der hochentwickelten sinfonischen Ausdrucksmittel mit den Bedingungen des Musiktheaters. Mit seiner Methode des sinfonischen Denkens in der Oper spannte der Komponist ein dichtes Netz beziehungsreicher Varianten und thematischer Ableitungen seiner Grundmotive über das Werk, das nachgerade zum Träger der inneren Handlung wird. «Wenn ich mich nicht sehr irre, dann ist «Pique Dame'ein Meisterwerk», vertraute er nach Vollendung der Partitur seinem Bruder an.
© Magazin Opernhaus Zürich. Testo pubblicato con il consenso scritto della direzione della Dramaturgie.