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Smetana: Ma vlast (Mein Vaterland)

Der sinfonische Zyklus Ma vlast, der in den Jahren 1874 bis 1879 entstand, ist das wichtigste tschechische Orchesterwerk überhaupt. Was wahrscheinlich nicht allgemein bekannt ist: der Zyklus ist ausdrücklich der Stadt Prag gewidmet. Auch wenn gerade die späteren Werke Smetanas häufig die Natur zum Gegenstand haben, war der Meister doch - ganz im Gegensatz zu Dvorak - mit Leib und Seele Städter.

Jedes Jahr beginnt das bedeutendste Musikfest Prags, der Prager Frühling, am 12. Mai (Smetanas Todestag) mit der Gesamtaufführung des Zyklusses. Der Prager Frühling endet stets mit der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven. Der Zyklus entstand als »Ergänzung« zu Libuse. Zumindest die ersten beiden Teile Vysehrad und Vltava (Die Moldau) waren von Anfang an geplant und sind nicht nur musikalisch miteinander verbunden, sondern stehen in besonders enger Beziehung zu Dalibor und Libuse.

Smetanas ursprünglicher Plan sah ein fünfteiliges Werk vor, mit den Überschriften Bila Hora (Weisser Berg), Vysehrad, Vltava, Rip und Lipani. Nach der Fertigstellung von Vysehrad und Vltava änderte er den ursprünglichen, sehr historisch akzentuierten Plan, und fügte diesen beiden Teilen einen Stoff aus der Sagenwelt, Sarka, und als Abschluss eine Apotheose an die Natur, Z ceskych luhu a haju (Aus Böhmens Hain und Flur), hinzu.

Ja, zunächst war der Zyklus im Sinne einer Sinfonie nur vierteilig und hiess schlicht Vlast. Nach den Opern Hubicka und Tajemstvi schrieb die Presse begeistert, dass Smetana dabei sei, seinen Zyklus um weitere drei Teile zu ergänzen, was der Meister selbst sofort richtigstellte. Möglicherweise störte ihn wegen der engen Beziehung des Doppelspanns Vysehrad und Vltava eine gewisse Unausgewogenheit. Smetana komponierte daraufhin ein weiteres Zweigespann Tabor und Blanik. Mit diesen beiden hussitischen Dichtungen wird die Bindung an Libuse noch enger, was wir uns im Detail noch genauer ansehen werden. Jetzt trat im Titel das Ma hinzu.

Dieser Titel Ma vlast ist meiner Ansicht nach nicht wirklich übersetzbar. Wer hier einen besonders starken Nationalton zu erkennen glaubt, liegt sicherlich nicht richtig. Natürlich ist Ma vlast, ähnlich wie Libuse, eine Anthologie nationaler Werte. Während Smetana bei Libuse aber davon überzeugt war, dass der Inhalt in seiner Bedeutung ausserhalb Böhmens unverständlich ist, gibt es für Ma vlast keine derartige Einschränkung. Im Gegenteil. Wahrscheinlich öffnet kein anderes Werk (die tschechische Literatur eingeschlossen) dem Nichttschechen einen so leichten und ergiebigen Zugang zur tschechischen Kultur wie Ma vlast. Statt »Mein Vaterland« sollte der Titel im Sinne von »Über uns Tschechen« aufgefasst und als Einladung verstanden werden.

Doch, Moment, da ist noch das Wörtchen Ma! Dieses hört sich wie ein Bekenntnis an. In der Tat werden von manchen Konzertführern Tabor und Blanik als religiöse Bekenntnismusiken bezeichnet. Stimmt das? Nicht ganz, wie wir gleich sehen werden.

Smetana war zwar gläubig, aber seine Religiosität ist eine Auffassung, die eher aus der naturwissenschaftlichen Ecke kommt. Albert Einstein wird sie später als kosmische Religiosität bezeichnen. Eine solche Auffassung lässt genaugenommen keiner Glaubensgemeinschaft zuordnen. In Jabkenice war die Familie Smetana auch die einzige im Dorf, die nicht in die Kirche ging. Noch merkwürdiger mag es auf den ersten Blick erscheinen, dass auch der erzkatholische (!) Antonin Dvorak eine Hussitenouvertüre für das Nationaltheater schrieb. Niemals hätte Dvorak seinen Glauben verleugnet! So weit her kann es offenbar mit der Religion bei Tabor und Blanik nicht sein.

Das ganze hat viel eher eine politische Bedeutung, die ausserhalb Böhmens nicht existiert. Die Hussiten (Protestanten!) sind für alle Tschechen (mehrheitlich katholisch, wenn überhaupt religiös) ein Nationalsymbol. Warum? Unter den Taboriten entstand nach dem ersten Prager Fenstersturz die erste Republik. Das Böhmerland war frei! Diese Freiheit endete vorläufig mit der für die Taboriten vernichtenden Schlacht bei Lipani. Mit dem zweiten Prager Fenstersturz, der eine symbolische Inszenierung des ersten war, nahmen die protestantischen böhmischen Stände einen zweiten Anlauf, der mit der Schlacht bei Bila Hora in einer Katastrophe endete. Der Sachverhalt ist alles andere als einfach, weshalb ich hier für genauere Details auf den Anhang verweise.

Wie kann nun ein Antonin Dvorak etwas für die Hussiten übrig haben, wo diese doch die Erzgegner der katholischen Stände waren? Es geht hier in der Tat nicht um Religion. Es geht um Nation. Zur Zeit der Hussiten (15. Jhdt.) gab es den Begriff der Nation natürlich noch nicht. Man fühlte sich einer Religionsgemeinschaft zugehörig, die sozusagen ein Ersatz für das war, was wir heute als Nation bezeichnen. Man musste nicht unbedingt mit Inbrunst bei der Sache sein. Eine ähnliche Auffassung gab es sogar in der Antike. Du huldigst nicht der Aphrodite weil Du Grieche bist, sondern umgekehrt: weil Du bestimmten Göttern huldigst, bist Du Grieche, einfach gesagt. Mit der Entstehung der Republik war die Sache der Hussiten (und damit zwangsläufig auch der Protestantismus) endgültig eine tschechische Angelegenheit, unabhängig von der religiösen Verankerung des Ganzen. Der Reformator Jan Hus hat mit seinen Schriften die Entstehung einer verbindlichen tschechischen Schriftsprache erst gefördert.

Hussiten bedeuten also Freiheit. Aber nicht Freiheit für irgendwen, sondern Freiheit für Böhmen. Wenn von Böhmen hier die Rede ist, so bezeichnet dieses immer das ganze Land, also Mähren eingeschlossen. In der tschechischen Sprache gibt es kein besonderes Wort für »Böhmen«. Sowohl Böhme als auch Tscheche heisst Czech. Und Smetana ist ein Czech. Jetzt dürfte die Bedeutung des Ma klar sein.

Mit Ma vlast hat Smetana ein Meisterwerk geschaffen, das sich meiner Ansicht nach der Entwicklung der Beethoven-Sinfonien bis zur Pastorale nahtlos anschliesst und einen Übergang zwischen der Auffassung Beethovens (Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei) und den sinfonischen Dichtungen eines Richard Strauss bedeutet. Den Satz »Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei« formuliert auch Smetana, fügt aber hinzu:

Wenn mich jemand gefragt hätte, warum ich dies oder jenes so ausgedrückt habe und nicht anders, so könnte ich ihm darauf keine Antwort geben.
Und in der Tat. Ist der Inhalt wichtig, um die Musik zu verstehen? Nein überhaupt nicht. Aber der Inhalt ist wichtig! Ein scheinbarer Widerspruch in sich. Ma vlast ist eben Ma vlast. Ein Werk, das in der abendländischen Orchesterliteratur einzigartig ist.



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Heiko Schröder 2003-07-24