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«Ballett über Engel?
Ein Stück über Menschen!»


Heinz Spoerli im Gespräch
mit Raffael Boriés



© Magazin Opernhaus Zürich.
Pubblicato con autorizzazione
scritta della Dramaturgie.


RAFFAEL BORIÉS: Heinz Spoerli, im Ernst, glauben Sie an Engel? Was hat Ihnen die Anregung gegeben, ein Ballett über Engel zu machen?

HEINZ SPOERLI: (schmunzelt und lacht) So richtig kann ich das auch nicht mehr sagen. Ich habe einige Jahre an Vorlauf, ehe ein Stück in mir reif ist, so dass ich es machen möchte. In diesem Fall hat mich der Zeitgeist gepackt. Ich weiss, was ich beim heutigen Engelboom und bei all der Esoterik nicht mag. Der Titel für dieses Ballett warauch mit Bedacht gewählt, um nicht auf die Engel hinzudeuten, sondern mir die Freiheit zu lassen, dieses Thema nur in einigen Punkten zu berühren. Ich glaube, dass Menschen sich mit einem eigenen Kosmos umgeben können. In dieses individuelle Weltbild passen auch Engel hinein. Ich sehe um mich herum, was die Menschen aus diesem Thema machen.
Da habe ich mich auch schon selbst gefragt, wieso es mich hineingezogen hat. Mich interessiert aber der Zwischenbereich, dieses Unnennbare. Es hat eine religiöse und auch psychologische Dimension. Es kommen viele Elemente zusammen, wie die Mythen, die Tiefenpsychologie und Religiöses. Ich würde aber gar nicht so konkret sagen wollen, dass ich ein Ballett über Engel mache, sondern es ist ein Stück über Menschen, die gerettet oder nicht gerettet werden. Über Menschen, die anständig leben, die ihr Leben meistern, die im Guten wie im Schlechten leben. Auch das hat schon was mit Engeln zu tun. Dadurch, dass noch niemand einen Engel real gesehen hat - in der Vorstellungswelt unserer Imagination schon - habe ich alle Freiheiten, mit dem Thema auf meine Weise umzugehen.


R.B.: Das heisst also, Sie nehmen das Thema der Engel, um über Menschen zu erzählen?

H.S.: Wenn man über Engel liest, dann liest man über etwas, was eigentlich nicht existiert. Und ich muss mit etwas arbeiten, was existiert. Also ist es mir ganz wichtig, dass ich mich nicht in nicht nachvollziehbare Bereiche einlasse, wie die der Esoterik, dass ich mich nicht in einen luftigen Bereich hineinbegebe. Dann habe ich das falsche Thema erwischt. Ich muss also etwas machen, was der heutigen Realität entspricht, das heisst, ich nehme mir nur die Ränder eines Themas, begebe mich in Anspielungen, in Andeutungen, aber grundsätzlich würde ich kein Ballett über Engel machen. Da müssten ja alle fliegen. (Lacht herzhaft) Das ist ein wichtiger Punkt für mich gewesen. Ich habe vieles über Engel gelesen, das man eigentlich nicht darstellen kann. Vielleicht mit einem Bild darstellen, zum Beispiel, wenn man viel Licht in einem Raum gibt. Oder vielleicht komisch schwarz gekleidete Personen durch den Raum laufen lässt. Oder sonst etwas. Vielleicht noch Engelchen machen. Verstehen Sie, was ich meine? Ich möchte keine Aufzählung von Engelattributen abhaken. Dann habe ich eine Aufstellung, aber keine Vorstellung. Und wir machen eine Tanzvorstellung.

R.B.: Sie haben sich ja sehr intensiv mit dem Thema beschäftigt. Sie haben sehr viel darüber gelesen, um es dann wieder loszulassen.

H.S.: Man liest darüber, man informiert sich, man sammelt in sich einen Wissensfundus an. Man muss sich bei so einem riesigen Thema natürlich einschränken, die Konzentration ist das Wichtigste, weniger die Information, die man sich von überall holen kann. Am Schluss muss man die Fähigkeit haben, es auf den eigentlichen Punkt hinzuführen, da, wo man mit dem Stück hinmöchte. Alles, was ich in de rVorarbeit tue, die Gespräche mit Ihnen als Dramaturg, mich mit dem Thema beschäftigen, Musik hören, Gedichte lesen, daran kann ich mich halten. Es ist für mich ein Anfang, mit dem ich das Haus meines Balletts zu bauen beginne. Und der Rest ist Instinkt und Inspiration.

R.B.: Welchen Stellenwert, welches Gewicht hat für Sie die Musik in einem Ballett? Inspiriert Sie die Musik? Sind Sie mit der getroffenen Auswahl der Musik zufrieden oder könnte es für Sie noch Alternativen geben?

H.S.: Nein, ich bin zufrieden. Mit der Musik, die ich für dieses Stück ausgesucht habe, habe ich eine Plattform, auf der ich machen kann, was ich will. Es ist gewagte Musik, die ich qenommen habe. Ich finde es sehr aufregend. Zum Beispiel mit dem Stück von John Adams «Lallapalooza», an dem ich gerade mit der Gruppe arbeite. Es ist ein enorm dynamisches Musikstück. Ich finde es gut, dieses Chaos zu haben, die Musik vermittelt es mir. Sie bricht auf, so dass wir in unserem Thema wieder seriös werden können, ich kann auf den Boden zurückkommen. Alle können menschlich werden. Es sieht vielleicht oberflächlich aus, aber tut dem Ganzen gut. Es holt uns auf den Boden zurück. Das bezwecke ich.

R.B.: Brecht sagte einmal, dass jede Improvisation gut vorbereitet sein will. Ich nehme Sie im Ballettsaal als einen Menschen wahr, der total aus dem Bauch heraus schafft. Jemand, der sein Handwerk beherrscht, aber der sich dem Moment der Musik überlässt, vielleicht auch der Gnade der Inspiration durch andere glückliche Umstände. Viele andere Dinge sind für eine solche Arbeit bestimmt mitentscheidend. Sie hören die Musik, take by take, und setzen das in Bewegungsbilder um.

H.S.: Bei diesem Ballett ist die Musik vielleicht noch etwas schwierig. Bei anderen Stücken habe ich die Musik ständig in mir. Mit dieser Musik geht das selbstverständlich nicht. Bachs Goldbergvariationen kann ich ständig Tag und Nacht hören. Doch im Ballettsaal bin ich immer im Thema, da bin ich bei mir. Ich bin immer auf das Stück konzentriert, auch wenn mir zuweilen mal nichts einfällt.

R.B.: Kann hierbei auch etwas total Neues entstehen, mit den Figuren zum Beispiel? Vielleicht auch neue Bewegungsabläufe, obwohl Sie aus Ihrem Repertoire schöpfen können?

H.S.: Ja, natürlich. Das ist auch der Grund, warum ich mich nicht vom Sitz erhebe und nichts vormache. Das tue ich extra, das ist bewusst. Ich will, dass die Tänzer mich nicht verstehen. Hört sich etwas schwierig an. Ich möchte versuchen und selber suchen, noch einen anderen Bogen zu bekommen. Wenn ich es mir aus dem Bauch rede, dann kann ich es so machen, wie ich es möchte. Somit habe ich einen Dialog mit dem Tänzer, der manchmal -von aussen gesehen - sich furchtbar anhört; wenn ich mich mit Worten an das herantaste, was ich in mir als Bewegung sehe.

R.B.: Gibt es dann auch Zeiten, wo es blockt, wo der Tänzer, die Tänzerin etwas nicht übernehmen kann oder wo sie eingreifen möchten?

H.S.: Ich muss aufpassen, dass sie die Dinge nicht zu sehr mit dem Kopf empfinden, dass sie nicht Eigenes hinein interpretieren. Es soll ja ein Stück von mir bleiben. Klar, es gibt Tänzer, die einen starken Ausdruck, eine eigene tänzerische Sprache haben, diese Persönlichkeiten muss ich in der Arbeit berücksichtigen. Es gibt Tänzer, mit denen ich in einen wunderbaren Dialog treten kann. Sie inspirieren. Von denen weiss ich, was ich erwarten kann. Ich weiss, wie deren Ausstrahlung und Wirkung auf der Bühne sind. Sie wachsen mit jeder Aufgabe und mit jedem Stück, welches man mit ihnen erarbeitet. Es braucht manchmal eine Spannung, um etwas entstehen zu lassen. Ich möchte einen Tänzer dahin führen, dass er auch über sich hinauswachsen kann.
So besteht meine Arbeit als Ballettdirektor auch darin, eine gute psychologische Wahrnehmung zu haben, um die Tänzer entsprechend für bestimmte Aufgaben in einem Stück besetzen zu können. Ich muss wissen, was kann ich von solch einem Tänzer erwarten und was bringt mir ein anderer Tänzer mit anderen Merkmalen in der Rolle. Nicht immer eine leichte Aufgabe, um es allen Recht zu machen.

R.B.: Es besteht ja auch immer noch die Möglichkeit, den Personen ein anderes Vorzeichen zu geben, also aus einem hellen Engel einen dunklen Engel zu machen. Mir fiel in der Probenarbeit auf, dass manche Figur verschieden interpretierbar ist.

H.S.: Das ist klar. Ich habe noch alle Freiheiten. Ich möchte vermeiden, dass Tänzer zu sehr ihre eigene Geschichte hineininterpretieren. Sie werden noch früh genug mitbekommen, wohin ich sie geführt habe. Es wäre unklug, in einem frühen Probenstadium zu sagen, sie stellen einen Bösewicht oder gar einen Engel dar. Dann sind sie mir schon zu sehr geprägt. Sie sollen die Freiheit haben, dass ich sie von Aussen, als Regisseur, als Choreograph an die Figur heranführe. Die entwickelt sich auch im Laufe der Probenarbeit. Das kann sich auch, je nachdem, was ich für Eingebungen und Ideen bekomme, wieder verändern und eine andere Richtung erhalten. In jedem Fall ist mir wichtig zu vermitteln, dass da zwei oder drei Personen sind, die aufeinander treffen, die einen Dialog miteinander haben.

R.B.: Obwohl es in diesem Stück eine Handlung mit rotem Faden gibt, scheint es so zu sein, dass es noch nicht ganz absehbar ist, wie sich die Geschichte weiterentwickeln wird. Das Stück hat seine eigene Dynamik, vielleicht ein geheimes Eigenleben. Wo bringt es Sie hin?

H.S.: Ja, Sie werden noch sehen, dass man auch vieleswieder ändern, hinauswerfen muss, und am Schluss sieht es dann anders aus. Mir ist die Auflösung der Geschichte schon klar. Ich weiss, wie der Schluss des Balletts sein wird. Wie ich dahin komme, ist mir jetzt noch nicht so bewusst. Da lasse ich mich auch überraschen. Ich darf Ihnen noch sagen, dass die wenigsten Menschen wissen und mitbekommen, wie viel Emotionen aber auch Einsamkeit es braucht, bis man durch diesen kreativen Prozess hindurchgegangen ist, bis die Schritte, die Bewegungsabläufe kommen, die man braucht, bis man ein solches Stück in der grossen Linie hat, wo es absolut keine Vorgabe gibt, nur eine Idee, eine Vision, das ist sehr schwierig. Sie wissen selbst, wie viele Gespräche wir geführt, wie viel Musik wir gehört haben, wie viele Bücher wir angesehen haben, ein Prozess, der in das Werden des Stücks hineinfliesst.