FRANZ WELSER-MÖST SPRICHT
ÜBER «PELLÉAS ET MELISANDE»


© MAGAZIN OPERNHAUS ZÜRICH


Überspitzt formuliert - so Franz Weiser-Most - könnte man die Partitur von «Pelléas et Melisande» als ein riesiges Rezitativ mit Orchesterzwischenspielen beschreiben, und schon darin zeigt sich, das Debussy eine ganz neue Form des Musiktheaters anstrebte - eine Form, die sich als zukunftsweisend herausstellen sollte, denkt man etwa an Schönbergs «Pierrot Lunaire» oder Bartoks «Herzog Blaubarts Burg». Interessant ist dabei der Blick auf ein früheres Werk des Komponisten, seine Kantate «La damoiselle élue» von 1887, die zwar noch auf der Schnittstelle zwischen romantischer Musikauffassung und Debussys zukünftigem Personalstil angesiedelt ist, aber in der Wahl des Textes bereits erkennen lässt, dass es dem Komponisten darum ging, eine dramatische Vorlage zu finden, die keinen festen Ort oder eine bestimmte Zeit vorgibt: «Ich glaube, ich werde meine Musik niemals in eine zu korrekte Welt einschliessen können... Ich möchte lieber etwas, bei dem die Handlung irgendwie dem Ausdruck seelischer Empfindungen unterworfen würde, der bis ins Letzte ausgekostet wird. Mir scheint, dass so die Musik menschlicher, lebensechter werden, und dass man ihre Ausdrucksmittel vertiefen und verfeinern könnte.»
In Maeterlincks Drama fand Debussy die ideale Vorlage, die es ihm zugleich ermöglichte, eine vollkommen eigenständige musikalische Sprache zu entwickeln, die den Errungenschaften des Wagnerschen Musikdramas geradezu entgegengesetzt war. Keine eruptiven Ausbrüche, keine überbordenden Orchesterkommentare, sondern eine feinziselierte, die Fragilität der Figuren und Situationen einfangende Kammermusik, die - so der Dirigent - einmal sehr treffend mit den Worten charakterisiert wurde, es sei keine leidenschaftliche Musik, sondern eine, die mitleidet. Bezeichnenderweise verstummt sie im Augenblick des Liebesgeständnisses von Pelléas und Melisande völlig.

Die von Debussy in dieser Partitur erreichte Feinheit und Akkuratesse der musikalischen Sprache ist es, die Franz Welser-Möst begeistert. Debussy vertonte nicht nur als erster ein eigenständiges literarisches Werk anstelle eines von vornherein als Opernlibretto konzipierten Textes, er räumte auch der Sprache eine bevorzugte Stellung ein. Für diese schafft er in erster Linie atmosphärische Räume, die teils von einzelnen Wörtern oder Situationen inspiriert erscheinen, sich jedoch nie wirklich konkret festlegen lassen. Die Situation, in die Debussy seine Zuhörer mit seiner Musik versetzt, erinnert den Dirigenten an den Zustand zwischen Träumen und Aufwachen, in dem Traumbilder sich schon mit der Realität zu vereinen scheinen, ohne ihr jedoch wirklich anzugehören.
Im selben Masse wie der Text von Maeterlinck seine Bedeutung verrätselt bzw. zu immer neuen Interpretationen herausfordet, so spielt auch Debussy mit musikalischen Bildern und Symbolen. Zum Teil begleitet das Orchester einzelne Worte klangmalerisch, zum Teil erhöht es sie ins Tranzendentale, vor allem im fünften Akt, der Sterbeszene Mélisandes, in dem fast jeder Satz unvollendet bleibt. Einzelne Motive sind an bestimmte Personen oder Situationen geknüpft, die Tonart C-Dur weist eine hemliche Verbindung zu Mélisande auf, um sich im Moment ihres Sterbens nach Cis-Dur zu wenden, doch all diese von Debussy gelegten Spuren taugen nicht zur Entschlüsselung des Textes. Der eigentliche Schlüssel zur Traumwelt dieses Werkes liegt für Franz Weiser-Möst in der Beachtung jedes noch so kleinen Details, denn diese muss man nun tatsächlich ganz konkret nehmen - seien es die Feinheiten der Artikulation, die denen der französischen Sprache entsprechen, seien es die minimalen dynamischen Differenzierungen. Vergleichen lässt sich die Kompositionstechnik Debussys da mit der impressionistischen Malerei, bei der das Gesamtbild erst aus der Fülle der genau und präzise gesetzten Farbpunkte entsteht.