CARLO MARINELLI

NIKOLAI RIMSKIJ KORSAKOV

STORIA DELL'OPERA UTET

«Welche Wärme und wieviel Ergreifendes hat sie in ihre Stimme und die Gestaltung ihrer Rolle gelegt! Fast während der ganzen Partie geht sie selbst in den hohen Tönen nicht über ein &Mac220;mezzo voce&Mac221; hinaus, wodurch sich nach unserem Eindruck bei Marfa jene sanfte Demut und Schicksalsergebenheit manifestiert, die dem Dichter in ihrer Gestalt vorgeschwebt haben mag.» So bejubelte die Moskauer Presse das Auftreten der Sopranistin Nadeshda Sabela-Wrubel, die am 3. November 1899 als Marfa in der «Zarenbraut» eine der bis heute wichtigsten Rollen des russischen Repertoires kreierte.

Die Uraufführung von Nikolai Rimski-Korsakows Oper fand im Moskauer Solodownikow-Theater statt. Damals sangen die Künstler der «Russischen Privatoper», jenes einmaligen
Experiments des Eisenbahn-Unternehmers Sawwa Mamontow, der nach einer Alternative zum zaristischen Opern- und Musikbetrieb suchte. Anfang 1885 hatte er sein Opernhaus mit Dargomyschskis «Rusalka» eröffnet. In der Folgezeit gestaltete er einen Spielplan, der sich aus grossen internationalen und aus russischen Opern zusammensetze. 1899 wurden bei Mammontow mehr als vierzig Werke russischer Komponisten aufgeführt, während am Bolschoi-Theater in Moskau in der gleichen Zeit lediglich zehn russische Werke über die Bühne gingen. Mammontow hatte herausragende Künstler wie den bedeutenden Symbolisten Michail Wrubel, Valentin Serov und Konstantin Korovin mit der Gestaltung der Bühnenbilder beauftragt. Illustre Sänger wie Fjodor Schaljapin und Nadeshda Sabela-Wrubel und der junge Sergej Rachmaninow als Dirigent fanden an der Russischen Privatoper ihre musikalische Heimat. Gemeinsam legten sie die Grundlage für eine neue Art von Musiktheater, in der darstellerische Absicht und die entsprechende Werkidee eine untrennbare Einheit bildeten. Ungeachtet der künstlerischen Erfolge des Unternehmens hatte Mammontow fortwährend mit Geldsorgen zu kämpfen. 1899 machte er Bankrott. Wegen ungesetzlicher Finanzmanipulationen angeklagt, wurde er verurteilt und inhaftiert. Obwohl man ihn später freisprach, war er geschäftlich ruiniert. Das Ensemble arbeitete eineZeitlang ohne ihn nach seinen Prinzipien weiter.

Sechs der insgesamt fünfzehn Opern von Nikolai Rimski-Korsakow wurden von der «Russischen Privatoper» uraufgeführt. Der Komponist wusste sein Werk bei Sawwa Mammontow in guten Händen, und so fand im Frühjahr 1898 auf der Bühne des Petersburger Konservatoriums eine Rimski-Korsakow-Woche mit Aufführungen der Opern «Das Mädchen von Pskow», «Sadko», «Mainacht» und «Snjegurotschka» statt, bei der Rimski-Korsakow die Proben des Mammontow-Ensembles leitete und sich mit dem Ergebnis  durchaus zufrieden zeigte.

Gegenüber seinem Bühnenbildner Michail Wrubel hat sich Rimski-Korsakow grundsätzlich über die dramatischen Möglichkeiten der Musik geäussert: «Ich sage Ihnen, dass ich die Musik ihrem Wesen nach für eine lyrische Kunst halte. Und wenn man mich einen Lyriker nennt, so bin ich stolz; nennt man mich aber einen dramatischen Komponisten, so bin ich ein wenig gekränkt. In der Musik gibt es nur Lyrik; es kann dramatische Situationen geben, aber keine Dramatik. ... In der &Mac220;Zarenbraut&Mac221; gibt es dramatische oder besser gesagt tragische Situationen, doch muss man dort singen und singen... Gott sei Dank bin ich, wie es scheint, kein dramatischer Komponist, denn ich passe die Musik zwar der Szene an, aber ich opfere sie ihr nicht.» Damit bekräftigte Rimski-Korsakow ein weiteres Mal sein Bekenntnis zu Formvollendetheit und handwerklicher Gediegenheit. Eine Dramatik oder ein Realismus, wie ihn etwa Modest Mussorgski anstrebte, war ihm zeitlebens suspekt, denn er glaubte, dafür die der Musik eigenen Gesetzmässigkeiten aufgeben zu müssen.

Wie schon die Oper «Das Mädchen von Pskow» spielt auch «Die Zarenbraut» zur Regierungszeit des Zaren Iwan IV., der auch als Iwan der Schreckliche in die Geschichtsbücher Eingang gefunden hat. Die schon früh von Legenden umwobene, widerspruchsvolle Persönlichkeit hat viele Historiker beschäftigt. Nicht selten war ihr Urteil einseitig negativ. Offenkundig ist der Widerspruch zwischen den Jahren voller innenpolitischer Reformen und aussenpolitischer Erfolge seit seiner Thronbesteigung 1547 einerseits und den ab 1565 folgenden Jahrzehnten der Zerrüttung und Niederlagen andererseits. Iwans von frühabsolutistischen Tendenzen geprägte Regentschaft war von wesentlicher Bedeutung für die Festigung der Zentralgewalt in Russland.

1565 hatte sich Iwan IV. mit der sogenannten «Opritschnina» einen Staat im Staat geschaffen, um wenigstens den Kern seines Reiches ohne die ihm feindlich gesinnte Adelsvertretung, die sogenannte Bojarenduma, regieren zu können. Die Legitimation dafür hatte er sich mit einem klugen Schachzug eingeholt: Ende 1564 zog er in die Aleksandrowskaja Sloboda nördlich von Moskau und erweckte den Anschein, die verhassten Bojaren hätten ihn vertrieben.  Auf diese Weise konnte er sich nach Bittprozessionen der Bevölkerung und der Geistlichkeit  – eindrücklich zu sehen in Sergei Eisenensteins Filmepos «Iwan der Schreckliche» – ausserordentliche Vollmachten für ein Terrorregime nehmen, als er drei Monate später zurückkehrte. Während der Rest des Landes der Bojarenduma unterstellt wurde, die aber keineswegs ohne Mitwirkung des Zaren agierte, organisierte Iwan die «Opritschnina» im Stil eines Teilfürstentums. Als Polizeitruppe und Leibgarde des Zaren fungierten die «Opritschniki», die Iwan mit grosser Sorgfalt vorrangig aus Dienstadligen rekrutierte, die als wichtigste Voraussetzung nachweisen mussten, dass sie zum Bojarentum keine Beziehungen hatten. Alle Opritschniki mussten Iwan bedingungslose Treue schwören. Sie verpflichteten sich, alle Verräter zu melden, keinerlei Freundschaften ausserhalb der «Opritschnina» zu schliessen und jegliche Bindung an Eltern, Familie oder an das Land hinter ihr Treueverhältnis zum Zaren zu stellen. Als Gegenleistung erhielten sie Güter der hingerichteten oder vertriebenen Bojaren sowie Sold und beachtliche Privilegien. Ihre Uniform bestand aus einem schwarzen, mönchskuttenartigen Gewand aus grobem Leinen. Am Sattel trugen sie die Embleme eines Hundekopfes und eines Besens – ein Hinweis darauf, dass diese Garden Jagd auf Verräter machten und sie zum Land hinausfegten. Gegenüber den Opritschniki konnte niemand Rechte geltend machen oder Schutz beanspruchen. Den Zaren störte es wenig, dass seine Opritschniki beim Volk gehasst und gefürchtet waren. Geradezu besessen von dem Verlangen nach persönlicher Sicherheit, sah er über das schändliche Treiben seiner Garden hinweg, die in schamloser Weise vor allem Kaufleute und Städter ausplünderten und das Land in eine tiefe Krise stürzten.

Dieses Terrorregime liefert den historischen Hintergrund für Rimski-Korsakows Oper. Das Libretto zur «Zarenbraut» verfasste Rimski-Korsakow gemeinsam mit Ilja Tjumenew, der selbst einige Werke komponiert und zahlreiche Operntexte, darunter den «Ring des Nibelungen» und «Die Meistersinger von Nürnberg» ins Russische übersetzt hatte. Der Stoff fand sich in dem gleichnamigen Drama von Lew Alexandrowitsch Mei, der seinerseits auf Karamsins «Geschichte des russischen Staates» zurückgriff. Dort wird über Iwan IV. berichtet: «Da er sich als Witwer langweilte, suchte er sich eine dritte Ehefrau. Aus allen Städten rief er die Bräute in die Vorstadt – sowohl vornehme als auch nicht-vornehme, ungefähr zweitausend: jede stellte man ihm besonders vor. Zuerst wählte er 24, dann 12 aus ... Lange verglich er sie nach ihrer Schönheit, Liebenswürdigkeit und ihrem Verstand. Endlich zog er Marfa Wassiljewna Sobakina allen anderen vor. Sie war die Tochter eines Nowgoroder Kaufmanns. Gleichzeitig wählte er für den älteren Zarewitsch eine Braut, Jewdokija Bogdanowa Saburowa. Die Väter der glücklichen Schönen wurden aus nichts zu Bojaren... Aber die Zarenbraut erkrankte, begann abzumagern und auszutrocknen: man sagte, dass sie von Bösewichtern, Feinden Iwans, verdorben worden sei... und der Verdacht richtete sich auf die nächsten Verwandten der verstorbenen Zarinnen Anastasija und Marija...» Obwohl ein Giftmord nicht nachgewiesen werden konnte, berichtet Karamsin weiter, dass der Zar, auf Einflüsterungen seines Arztes Bomeli hin, selbst die ihn am nächsten Stehenden verdächtigte und so den Bojaren Grigori Grjasnoj und den Fürsten Iwan Gwosdjew-Rostowski hinrichten liess: «Am 28. Oktober (1571) heiratete der Zar die kranke Marfa. Er hoffte, dass sie mit Hilfe wahrer Liebe und Gottvertrauen gerettet würde, aber die Hochzeitsfeiern endeten mit einem Leichenbegräbnis. Marfa starb am 13. November, entweder als Opfer menschlicher Bosheit oder nur als unglücklich Schuldige an der Hinrichtung Unschuldiger.».

Im Zentrum der Oper steht die Tragödie der beiden weiblichen Hauptfiguren: der Kaufmannstochter und künftigen Zarenbraut Marfa und der während eines Feldzuges gegen die Tataren geraubten Ljubascha, die ihren Geliebten Grjasnoj an Marfa verloren zu haben glaubt und ihn mit allen Mitteln – auch dem des Giftmordes – zurückerobern will.