Falltür ins Vergessen
Im Keller einer Buchhandlung in Berlin-Friedenau lagern
noch heute verbotene Bücher aus der Nazizeit


Ressort: Sonntagszeitung
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
12.12.2010, Nr. 49, S. 28



Ein großes, verschneites Eckhaus in Berlin-Friedenau, "Der Zauberberg" steht an der Fassade, es ist Freitagabend, leichter Schneefall, die Schaufenster der Buchhandlung sind noch erleuchtet. Innen schenkt der Jurist und Buchhändler Harald Loch zusammen mit Natalia Liublina an Freunde, Nachbarn, Künstler, gute Kunden Champagner aus. Eine kleine Weihnachtsfeier nach einem guten Jahr.

Einige Gläser später schiebt er den alten Buchhändlerschreibtisch mit der großen neuen Ausgabe von "Zettel's Traum" darauf beiseite, klappt eine Falltür auf, und wir gehen eine Holztreppe hinab. Ein kleiner Kellerraum, Klappstühle stehen herum, und an den Wänden stehen alte Holzregale voller alter, sehr alter Bücher. Es ist der Keller der legendären Buchhandlung Wolff's Bücherei, wie Der Zauberberg bis vor einigen Jahren hieß, gegründet 1931 von Andreas Wolff. Damals hatte der spätere Theaterkritiker Friedrich Luft dieses Friedenau noch eine höchst "unliterarische Siedlung" genannt und den tollkühnen Übermut des gebürtigen Russen Wolff bewundert, ausgerechnet hier eine Literaturhandlung zu eröffnen. Dass dasselbe Friedenau heute geradezu als Weltliteraturstadtteil gilt, in dem gleich zwei Nobelpreisträger, Günter Grass und Herta Müller, wohnten beziehungsweise wohnen und in den siebziger Jahren auch Hans Magnus Enzensberger, Uwe Johnson und Max Frisch - vielleicht hat das auch ein wenig mit der geistesmagnetischen Anziehungskraft dieses Hauses zu tun.

Und hier, dieser Keller, erzählt eine Geschichte aus den Gründungsjahren dieses Bücherreichs. Wolff's Bücherei war von Anfang an, wie viele Buchhandlungen damals, auch als Leihbücherei angelegt. Bücher waren teuer, für wenig Geld konnte man sich die Neuerscheinungen auch einfach ausleihen. 1933 änderte sich für die deutschen Buchhändler alles. Die meisten der deutschsprachigen Erfolgsautoren durften sie von einem Tag auf den anderen nicht mehr verkaufen und überhaupt nicht mehr im Laden haben. Andreas Wolff passte das nicht. Und schon damals schob er wohl seinen schweren Buchhändlerschreibtisch beiseite, öffnete die Falltür und schaffte, was verboten war, hinunter in den Keller. Kunden, denen er vertraute, durften in diesen Jahren hinunter in den Keller und sich die gewünschten Bücher ausleihen. Auf irgendwelchen Wegen gelang es Wolff sogar, Neuerscheinungen der emigrierten deutschen Autoren aus den Exil-Verlagen zu beschaffen. "Ich habe durch ihn, 1936, Klaus Manns ,Mephisto' lesen können", erinnerte sich Friedrich Luft einmal. "Das musste innerhalb von 24 Stunden geschehen. Das Buch blieb im schnellen Umlauf. Die Schlange der Interessenten war lang. Ich las durch Andreas Wolffs Vermittlung Thomas Manns ,Lotte in Weimar'; weiß der Teufel, wie er da rangekommen war."

Und jetzt stehen wir also in diesem Keller. Die Bücher sind immer noch da. Fast siebzig Jahre nachdem sie hier unten versteckt wurden. Modergeruch. Einige Regalecken scheinen seit damals nicht wieder angerührt worden zu sein. Dicke Staubschichten auf den Büchern, die sich, in dickes graues Papier gebunden, aufeinanderstapeln. Manche kleben aneinander, getrocknete Feuchtigkeit, manche lassen sich kaum noch öffnen. Einige der Bücher scheinen sich selbst langsam in Staub zu verwandeln. Viele Autorennamen habe ich noch nie zuvor gehört. Viel Unterhaltungsliteratur ist dabei, Reisebücher, Expeditionen, verbotene Amerikaner wie Upton Sinclair. Die "Mephisto"-Ausgabe finde ich nicht. "Lotte in Weimar" auch nicht. Einige Bücher hat Katharina Wagenbach, geborene Wolff, die Tochter des Gründers, frühere Ehefrau von Klaus Wagenbach, die heute noch die wunderschönen Bücher der Friedenauer Presse herausgibt, zu sich nach Hause geholt. Aber unendliche vieles ist noch da. Ein kleiner Heldenkeller.

Da steht zum Beispiel der großartige Weltkriegsroman "Die Pflasterkästen" von Alexander Moritz Frey. Er beschreibt darin einen kolossal ängstlichen, schnauzbärtigen Meldegänger, der bei jedem Angriff der Engländer rot anläuft, als handele es sich um eine persönliche Beleidigung. Beim kleinsten Halskratzen läuft er ins Sanitäterzelt, um sich bescheinigen zu lassen, dass er trotz Erkrankung männlich tapfer Dienst tut. Der unbeliebte, feige Choleriker, den Frey da beschreibt, war Adolf Hitler. Er hatte mit ihm im Ersten Weltkrieg im Graben gelegen. Für beide wohl keine sehr angenehme Erinnerung. Dabei wollte Hitler ihn nach Kriegsende sogar für seine Bewegung gewinnen, suchte immer wieder den Kontakt zu seinem Kameraden. Bis "Die Pflasterkästen" erschien. Wenige Wochen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde in seiner Abwesenheit Freys Wohnung zertrümmert, noch in derselben Nacht floh er im Kofferraum eines Freundes über die Grenze nach Österreich, später in die Schweiz, wo er, ohne Staatsangehörigkeit, ohne das Recht, etwas zu publizieren, verarmt lebte und 1957, vergessen von der Welt, gestorben ist. Er hat Deutschland nie wieder betreten.

Geschwisterlich neben Freys Buch lehnt Erich Ebermayers Roman "Kampf um Odilienberg". Ebermayer, ein guter Freund Klaus Manns, hat in sein Tagebuch geschrieben, wie er in der Nacht des 10. Mai 1933 in Leipzig vor dem Radioapparat saß und der Übertragung vom Berliner Opernplatz lauschte, wo Studenten die Bücher ins Feuer warfen und die Verbrennungslisten öffentlich verlesen wurden. War er dabei? Oder nicht? Er war nicht dabei, obwohl er als bekennend homosexueller Autor, dessen Bücher von schwulen Helden nur so wimmelten, damit rechnen musste. Und so blieb Ebermayer in Deutschland, machte phantastische Karriere beim Film, war einer der bestbezahlten Drehbuchautoren des Reiches, kaufte sich eine Villa im Grunewald, ein Schloss bei Bayreuth und wunderte sich nach dem Kriege, dass Klaus Mann von ihm nichts mehr wissen wollte. Am Tag der Machtergreifung hatte er ihn zum letzten Mal gesehen. Klaus Mann war mit dem Zug von München nach Berlin gekommen, sie wollten zusammen an einem Theaterstück arbeiten. Mann hatte noch nicht die Morgenblätter gelesen, Ebermayer empfing ihn mit der Nachricht vom neuen Reichskanzler. Er selbst findet es nicht so dramatisch, auch Klaus Mann lacht zunächst, er glaubt dem Freund nicht. Bis dieser ihm schließlich die Schlagzeile der aktuellen "B.Z." zeigt. In seinem Tagebuch beschreibt Ebermayer die Szene so: "Klaus bleibt jäh stehen, wirft einen Blick auf die Schlagzeile. Er wird bleich, als wäre er von Wachs." Der eine bleibt im Land, der andere flieht. Sie haben sich nie wieder gesehen.

Hier im Keller von Friedenau könnten ihre Bücher heute noch nebeneinanderstehen. Wenn dieser "Mephisto" irgendwo zu finden wäre.

Aber ein Klabund ist da. "Chinesische Kriegslyrik". Ein Buch des schnellsten Dichters der Weimarer Republik, der im Jahr der Bücherverbrennung schon tot war. Siebzig Bücher hat er in seinem 37 Jahre langen Leben geschrieben, darunter die schnellste Literaturgeschichte der Welt ("Geschichte der Weltliteratur in einer Stunde"). Er lebte und liebte so schnell, wie er schrieb. Er wusste, dass er nicht viel Zeit hatte. Sie haben ihn einen "Kettenraucher der Liebe" genannt. Zurzeit erinnert eine Mini-Ausstellung in der Akademie der Künste an ihn. Etwas jämmerlich. Ein paar beklebte Tische in einem leeren Gang. Der Katalog, den es dazu gibt, ist dafür umso umfangreicher und sehr lesenswert, vor allem die Klabund-Würdigung von Matthias Wegner. Er berichtet darin auch von der Totenrede, die der Freund und Arzt Gottfried Benn auf Klabund hielt, in der er von den Dichtern als "Tränen der Nation" gesprochen hat. Und von der kurzen Zeit des Glücks: "Die schönsten Jahre waren wohl die, als er, bald nach dem Krieg, in Berlin in einer kleinen Straße des Südwestens wohnte, in einem kleinen Zimmer, das nur ein Fenster hatte und kein Bett."

Oben, im Stockwerk über dem Keller der verbotenen Bücher, ist der Champagner langsam ausgetrunken. Der "Mephisto" bleibt verschwunden. Harald Loch schließt die Falltür und schiebt den Schreibtisch wieder darüber.