Er
hintermalte mit dem Pinsel
Der
Schriftsteller Hugo Loetscher erinnert sich an seinen Freund Varlin
Ich kann nicht von Varlin
reden, und schon stellt er sich mir in den Weg. Schon sehe ich uns in Beizen
hocken, in jenen Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren, als Zürich
grossstädtisch wurde und nicht wusste, wie man das macht; wir übten
dafür im Niederdorf.
Und ich sehe ihn an einem Sonntagmorgen früh an der Bahnhofstrasse. Wir
beide Frühauf-steher. Ich höre in einer menschenleeren Strasse seinen
Satz: «Was willst du in dieser Stadt, die keine Ahnung von Kunst hat.»
Und meine Antwort: «Das ist vielleicht unsere Chance». Ich auf dem
Weg ins Bahnhofbuffet: Er kommt von dort und macht einen grossen Bogen bis zum
See, bevor er ins Atelier geht, sein Arbeitsweg ist als Umweg ein Fluchtweg
vor der Staffelei, sofern er eine solche benutzt und nicht nach dem erstbesten
Bemalbaren greift, und seis eine Bettlade.
Oder wir treffen uns, ich als junior editor der Zeitschrift «du»,
wegen einer Sondernummer über ihn. Ich notiere mir Anekdoten, mit denen
er nicht spart: Da malte er das Zuchthaus Le Bois Mermet in Lausanne und erlebt,
wie ein Gefangener davor einen Polizisten niederschiesst, die Leiche wird integriert
und ergibt einen braungelben Farbtupf für den Mittelgrund des Bildes.
Später dann in Bondo, von wo seine Frau Franca ist und wo er die letzten
Jahre verbringt. Wir planen für Schifferlis Arche eine Monogafie, die erste
über ihn. Er steht in der Nacht auf, verschiebt den Umbruch, trifft eine
andere Auswahl, korrigiert die Aufsätze, und das geht so weiter Tag für
Nacht, dass wir mit List das Buch in Druck geben. So zeigen wir ihm auch nicht
mehr die Druckfahnen. Und was macht der Druckfehlerteufel (Schifferli war praktizierender
Katholik) – in der genialen autobiografischen Skizze von Varlin liest man
anlässlich des Brandes in seinem Rokoko-Atelier in Zürich: «40
Bilder verbrennen, weitere sehen wie Rem Brand aus. Ich bin nicht versichert.»
Im Buch aber stand: «Ich war versichert.» Wir hatten ihm gegen seinen
Willen zu einer Police verholfen. Ein Anlass genug, um mein Foto zu zerreissen,
das in der Bondo-Küche zwischen Zeitungsausschnitten und Rezepten steckte,
ein Anlass auch, dass Varlin in den Zürcher Buchhandlungen das Buch über
diesen Varlin verlangte und auf Seite 34 ein «nicht» hineinflickte.
Nun war ich aber auch beneidenswertes
Opfer geworden, er malte mich. «Loetscher hatte Zeit zum Sitzen und ich
eine leere Leinwand», lautete sein späterer Kommentar. Er machte
mir klar, dass der Mund schief ist und auch die Augen nicht richtig platziert
sind, aber schliesslich war ich nicht beim Schönheitschirurgen, sondern
bei einem Porträtisten – mit wenigen Strichen und nach einer kurzen
zweiten Sitzung ein nervös getroffenes Bild mit dem hohen leeren Raum über
mir – ein Porträt, das gehandelt wurde, als Varlin den Kunstpreis
der Stadt Zürich erhielt und Friedrich Dürrenmatt an seiner Stelle
redete, ich habe in Dürrenmatts Arbeitszimmer buchstäblich in seinem
Rücken eines Tages die breitformatige Heilsarmee von Varlin mit meinem
Hochformat ersetzt.
Problemlos war es nicht, porträtiert worden zu sein. Varlin meinte eines
Tages leicht indigniert: «Du gleichst immer weniger meinem Porträt.»
Er malte die Leute nicht beschönigend; er war überzeugt, dass das
Modell im Lauf der Zeit dem Porträt ähnlich wird, wie sich ja auch
im Lauf der Zeit Herr und Hund angleichen. Ich entschuldigte mich für meine
unmusische Sturheit, worauf Varlin beschloss, mich ein zweites Mal zu malen,
ein Bild mit unzähligen Sitzungen. Wenn ich die Wahl habe, bin ich bereit,
mich dem ersten Porträt anzugleichen.
Und dann die letzte Begegnung. Varlin im Krankenbett, das sich als Sterbebett
hinzog. Dürrenmatt hat die Szene in einer ergreifenden Zeichnung festgehalten.
Ich war in Begleitung einer jungen Frau. Varlin war von ihrer Schönheit
angetan; er bat um Block und Bleistift und begann zu zeichnen. Er hielt den
Bleistift verkehrt, die Spitze nach oben, so kratzte er übers Papier. Es
war der Moment, da hat ihn der Tod gezeichnet: le mort et la belle.
Erinnerungsfetzen, Episoden tauchen auf, unvermeidlich, da wir, wie ich sagen
darf, befreundet waren, so stellt sich seine Person zunächst einmal vor
die eigenen Bilder. Aber war dies nicht auch sonst der Fall?
Er war eine Figur, sicher
eine Zürcher Figur, was er bitter kommentierte: «In Zürich berühmt
und in der Welt verseckelt.» Und es sind auch zuerst Zürcher Typen,
denen er zu einem Überleben auf der Leinwand verhalf. Eine Zürcher
Figur, mit der man sogleich Anekdotisches verband. Ein streitbarer Varlin auch,
der gegen eine Ausstellung und damit gegen die konkrete Kunst protestierte,
indem er mit Rasierklingen auf die eigenen Bilder losging. Ein Mann, der den
Witz beherrschte und Ironie als Waffe einsetzte, wo man lieber Humoriges gehabt
hätte, dem man auch in der Schweiz auf gut Deutsch Tiefe nachsagt –
er verstand mit Worten umzugehen. Vielleicht war nicht dies zuletzt ein Grund,
dass an seiner Beerdigung keine Malerkollegen anwesend waren, aber Schriftsteller:
Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Jürg Federspiel und auch ich.
Sicher, er war ein Mann der Clownerien, wie sie etwa Ludy Kessler in seinem
Film festgehalten hat, man denke an den Gag mit der Spaghetti-Orgie oder wie
Varlin seine Bilder in eine Waschmaschine steckt. Das sind Versteckspiele, Ablenkungsmanöver.
Es war klar, dass sich auch bei ihm, wie hinter allem Clownesken, verletzte
Sensibilität verbarg. Verletzungen hatte er gekannt, auch wenn er selten
davon sprach, mit welchem Umgang er als Jude in unserer Gesellschaft zu rechnen
hatte.
Sein Maskentreiben kannte
noch ganz andere Motivationen. Varlin, der aufbrausen konnte, war ein schamhafter
Mensch, als müsste er sich entschuldigen, dass er für sich den hohen
Anspruch von Kunst reklamierte, und der zweifelte, ob er diesem Anspruch gerecht
wird. Wenn er an der Leinwand kratzte und korrigierte, erneut anfing und verwarf
oder Bilder beschnitt und sie übermalte, da erlebte man, wie sehr Kreativität
in Frage stellt und wie Verzweiflung Ausdruck sucht. Das ging in seinem Fall
bis zur Selbstzerstörung. Dies konnte sich schon darin äussern, dass
er mit seinem ungestillten Willen zur Perfektion überkorrigierte, sodass
man das Werk vor dem Schöpfer schützen musste; er wusste dies, und
so willigte er auch jeweils in den Entzug ein.
Einen Varlin, den ich besitze, habe ich aus der Mülltonne geholt, die vor
seinem Atelier zur Abfuhr bereitstand. Ich nahm die zusammengerollte Leinwand
hervor, ging ins Atelier zurück und fragte, ob ich dieses Bild behalten
dürfe. Varlin staunte; als ich sagte, ich fände dieses bemalte Stück
Leinwand ein gutes Bild, begann er, meine Meinung zu teilen, und nahm es wieder
an sich: Er wolle die Schäden, die beim Zusammenrollen entstanden waren,
ausbessern. Ich hörte nichts mehr davon. Doch nach seinem Tod überreichte
mir Franca, seine Frau, das Bild; es war ausgebessert und signiert. Varlin war
ein treuer Mensch, er hat nicht den zeitgemässen Irrtum begangen, Mobilität
mit Untreue zu verwechseln. So besitze ich ein Bild von ihm, das er in Spanien
gemalt hat, wofür er Farben benutzte, die für seine Bergeller Bilder
typisch werden sollten.
In einem unserer Bergeller
Gespräche, in Stampa, vor Francas Mühle, wo ich an meinem Roman «Der
Immune» arbeitete, konnte ich einmal einen Satz weitergeben, den ich bei
André Gide gefunden hatte und den Varlin auch zu seinem machte: «Versteht
mich nicht so rasch.»
Es ist bezeichnend, dass in den wenigen künstlerischen Credo-Sätzen,
die er ablegte, das Wort «Ehrlichkeit» Bedeutung erlangt, im Zusammenhang
mit Alberto Giacometti etwa, den er sich, wie er gestand, zum Programm machen
wollte, nicht im Stil, sondern im Kunstverhalten, jedenfalls eine Ästhetik
verratend, die sich auf Gesinnung stützte.
Er war ein besessener Realist. Er brauchte Vorlagen und Modelle, weil diese
ihm eine raison d'être lieferten, ob Fassade oder Mensch oder irgendein
Gegenstand. So sehr er auf Vorlagen angewiesen war, er lieferte sich ihnen nicht
aus. Er hielt nicht Realität fest, sondern zeigte auf, woran er sich rieb.
Und es nahm sich manchmal auch so aus, als räche er sich an der Wirklichkeit,
indem er sie malte.
Er handhabte ein kritisches Malen, was sich bereits in der Wahl der Sujets ausdrückte,
wenn er neben dem verblichenen Glanz der Grand Hotels nicht die Grossklientele
malte, sondern die Portiers und Kellner. Er kompensierte mit dem, was am Rand
lebte und nicht ins schöne Bild passte und dem schon gar nicht mit der
guten Form beizukommen war. Ein Liebhaber des Alltags. Gefängnissen zum
Beispiel galt seine Aufmerksamkeit, nicht nur einem in Lausanne, sondern auch
dem Zuchthaus in Venedig. Die Spitäler und Kliniken zu Hause und in Alumnecar
den Friedhof In seinem Italienbild treten arbeitslose Neapolitaner auf, die
eine Krippe bewachen, und Gassenjungen. Neben dem spanischen Schuhputzer der
Tee trinkende Durchschnitts-Engländer. Unter den Porträtierten findet
sich auch ein Zürcher Clochard, worauf Varlin sehr stolz war, aber er wurde
erschüttert, als er in New York an der Bowerie, an einer einzigen Strasse,
Hunderte von Clochars vorfand – seine Skizzenbücher aus New York sind
eines seiner kostbaren und kaum bekannten Werke.
Nicht mit Worten hinterfragte
er, sondern er hintermalte mit dem Pinsel. So können seine Bilder entlarven
und blossstellen, was manche Kritiker dazu veranlasste, in ihm einen Karikaturisten
zu sehen, ein Urteil, das den Urteilenden davon enthebt, die Sache ernst zu
nehmen. In der Tat, Varlin hat seinen karikierenden Strich als engagierter Anti-Nazi
eingesetzt; aber das optische Kabarett macht ihn nicht aus, auch wenn es lockte,
als es galt, «So lebt die Schweiz» zu malen.
Wenn sich Monströses in seinem Werk findet, und das kann man schon beim
Porträt einer Kinderfrau ausmachen oder am Tisch der grossen Völlerei,
dann ist daran zu erinnern, dass die Fratze nicht eine varlinsche Erfindung
ist, sondern eine Erscheinungsform der Wahrheit. Wenn ihn eine enge Freundschaft
mit Dürrenmatt verband, dann nicht zuletzt weil sie sich dem gleichen Vor-wurf
ausgesetzt sahen, zu übertreiben, ein Vorwurf, der sich rasch einstellt
in einer Gesellschaft von Kompromiss und Konsens. Varlins Auge war zu scharf
als dass er einen Blick des Ausgleichs gehabt hätte. Ich konnte mit ihm
den Abwässerblick meines Kanalinspektors teilen, der das zur Kenntnis nimmt,
was an Dreck ungesehen zu unseren Füssen fliesst.
Es hatte mich schon immer
gelockt, Varlin in einen künstlerischen Kontext der Zeitgenossen-schaft
zu stellen. Ich bin nicht der Einzige, der ihn in einer Ausstellung zeigen möchte,
in der auch Bilder von Francis Bacon zu sehen sind, hinzufügen würde
ich Bilder von dem Mexikaner José Luis Cuevas oder von Willem de Kooning.
Und sicher ein Bild von Chaim Soutine – nicht zufällig vertrat der
Kunsthändler, der in Paris aus einem Guggenheim einen Varlin machte, auch
Soutine.
Mit welchen Bildern auch immer er zusammen präsentiert werden soll, ihn
herausholen aus der rein helvetischen Kunstszene, in der er einen unbestrittenen
Platz einnimmt. Nur schon dank seiner Porträts, mit seinen Bildern der
Berühmten und der Unbekannten, entstanden im Auftrag oder aus persönlichem
Entscheid, eine Galerie mit dem Schauspieler, der Wirtin und dem Friedensapostel,
die Putzmacherin neben dem Bigboss und dem Architekten, und last, but not least
seine Frauen-porträts, und wiederum der Stadtpräsident neben einem
Malerkollegen, dem Verleger oder dem Museumsdirektor. Einzelporträts und
Kollektivporträts – ob das der Heilsarmee, deren «Kriegs-ruf»
wir kauften und mit denen wir im Restaurant sangen «Lass den Sonnenschein»
herein, oder später das Gruppenbild der Leute aus seinem Dorf, aus Bondo
– keiner hat in der Schweizer Malerei wie Varlin seinen Jahrzehnten ein
Gesicht der Gesichter gegeben.
Dieses Werk tritt in dem Mass in den Vordergrund, wie die Person selber in den
Hintergrund tritt, in dem Mass, wie wir das Werk nicht mit Erinnerungen an Varlin
verstellen, die am Ende mit der künstlerischen Leistung nichts tun haben.
Wenn wir uns dennoch erinnert haben, dann des-wegen, um von dem zu reden, der
nicht anwesend ist, gleichzeitig aber, um der Person goodbye zu sagen und dem
Werk hallo. Ein Abschied auch, da immer weniger Zeugen auszumachen sind und
sie ihrerseits Abschied nehmen.
Auf jeden Fall ein Gruss dem Spätwerk. Bildern, die in wenigen Jahren in
Bondo entstanden sind und die nicht nur für ein Künstlerleben einen
grossartigen Abschluss darstellen. Es sind Bilder, die zum Erschütternden
und Eindrücklichen gehören, was die Schweizer Kunst im zwanzigsten
Jahrhundert hervorgebracht hat.
Man trifft noch einmal an,
was Varlin ein Leben lang als Künstler beschäftigt hat – das
Einzelporträt wie das Gruppenbild und auch das bei ihm eher rare Selbstbildnis,
das Landschaftsbild wie die Darstellung von Alltagsgegenständen –
aber was er jetzt schafft, ist nicht Fortsetzung. Was er malte, existenzialisierte
sich. Es ist, als nehme er, was ihn einst beschäftigte, noch einmal auf:
noch einmal ein Friedhof, aber diesmal ist es einer voll Todesahnungen mit dem
Schatten eines Todgeweihten. Wie vertraut und zutraulich etwa das frühere
Bild von einem Hund, nun aber ist das Tier Schicksalsgefährte geworden.
Varlin hatte schon einmal sein Mobiliar gemalt, mein Schrank, mein Ofen, aber
der Ledersessel, den er jetzt malt, besitzt eine unausschöpfbare Biografie
der Tristesse, und sein Bett ist auf dem Bild zur Matratzengruft geworden.
Und nicht minder die Schonungslosigkeit, mit der er sich selber darstellt oder
wie er die Zwillinge ins Bild bringt, sich selber und seine Zwillingsschwester,
der weite leere Raum zwischen den beiden, die am Rande postiert sind. Varlin
hat sich einmal spärlich bekleidet in Unterhosen porträtiert, das
war noch provokativ gemeint; aber wir wissen, einige möglicherweise dank
der Pornografie, dass man nicht schon deswegen nackt ist, weil man sich auszieht.
In diesen späten Bildern gibt sich Varlin ungedeckt, vorbehaltlos und ohne
Bedingungen, da spielt keine Entlarvung mehr mit, es ist nicht Blossstellung,
sondern Blösse selber, Blösse als Programm gewordene Ehrlichkeit;
er brauchte keine Realität mehr als raison d'être. Was da zu sehen
ist, steht für sich, steht für sich als Bild und steht für die
Kunst.
Da ist er aller Clownerien enthoben, es ist, als hätte er alle Pointen
in Zürich zurückgelassen und ins Bergell als Potenzial sein Leiden
mitgenommen, eines, das nicht mehr gewillt ist, sich zu verstecken, und das
Abgründe öffnet, die auch die unseren sind. «Vielleicht war
ich doch nur ein Guggenheim», soll einer seiner letzten Sätze gelautet
haben. Auf dem Grabstein aber wünschte er nur Varlin. Der Name, der für
ein Werk steht.
Hugo Loetscher trug diesen Text am 28. Mai 2000 an der Vernissage der grossen Varlin-Retrospektive im Kunsthaus Aarau vor.