Die gerettete Zunge,

[
Fischen Taschenbuch Verlag,
Frankfurt am Main 2000, 177 - 178 e 198]
Vom Frühjahr 1917 an besuchte ich die Kantonsschule an der Rämistrasse. Sehr wichtig wurde der tägliche Schulweg dorthin und zurück. Zu Beginn dieses Weges, gleich nach der Überquerung der Ottikerstrasse, hatte ich immer dieselbe erste Begegnung, die sich mir einprägte. Ein Herr mit einem sehr schönen weissen Kopf ging da spazieren, aufrecht und abwesend, er ging ein kurzes Stück, blieb stehen, suchte nach etwas und wechselte die Richtung. Er hatte einen Bernhardiner, dem er öfters zurief: «Dschoddo komm zum Pàpa!» Manchmal kam der Bernhardiner, manchmal lief er weiter weg, er war es, den der Päpa dann suchte. Aber kaum fand er ihn, vergass er ihn wieder und war so abwesend wie zuvor. Seine Erscheinung in dieser ziemlich gewöhnlichen Strasse hatte etwas Fremdartiges, sein häufig wiederholter Ruf brachte Kinder zum Lachen, aber nicht in seiner Gegenwart lachten sie, denn er hatte etwas Ehrfurchtgebietendes, wie er hoch und stolz vor sich hinsah und niemanden bemerkte, sie lachten erst zu Hause, wenn sie von ihm erzählten oder wenn sie in seiner Abwesenheit auf der Strasse miteinander spielten. Es war Busoni, der da gleich in einem Eckhaus wohnte, und sein Hund, wie ich erst viel später erfuhr, hiess Giotto. Alle Kinder in der Gegend sprachen von ihm, aber nicht als Busoni, denn sie wussten von ihm nichts, sondern als «Dschoddo-kommzum-Pàpa!» Der Bernhardiner hatte es ihnen angetan, noch mehr aber, dass der schöne alte Herr sich als seinen Pàpa bezeichnete.

Sie [die Mutter] ging häufig in Konzerte, Musik blieb ihr wichtig, obwohl sie seit dem Tode des Vaters selten das Klavier berührte. Vielleicht waren auch ihre Ansprüche gewachsen, seit sie mehr Gelegenheit hatte, Meister ihres Instruments zu hören, von denen manche damals in Zürich lebten. Ein Konzert von Busoni versäumte sie nie, und es verwirrte sie ein wenig, dass er nah bei uns wohnte. Sie glaubte mir nicht gleich, als ich von meinen Begegnungen mit ihm erzählte, und erst als sie von anderen erfuhr, dass er es wirklich war, nahm sie es hin und verwies es mir, dass ich ihn wie die Kinder der Gegend «Dschoddo-komm-zurn-Pàpa» statt Busoni nannte. Sie versprach mir, mich einmal in eines seiner Konzerte mitzunehmen, aber nur unter der Bedingung, dass ich ihn nie wieder bei diesem falschen Namen nenne. Er sei der grösste Meister des Klaviers, den sie je gehört habe, und es sei ein Unfug, dass die anderen alle ebenso wie er 'Pianisten' hiessen.

The tongue set fre

[from «The memoirs of Elias Canetti»,
New York 1999, pp. 154-155]
In spring 1917, 1 began the canton school on Rämistrasse. The daily walk to and fro became very important. At the start, right after crossing Ottikerstrasse, 1 always ran into the same gentleman strolling there, and the regular encounters lodged in my mind. He had a very lovely white head of hair, walked erect and absent-mindedly; he walked a short piece, halted, looked around for something, and changed his direction. He had a St. Bernard dog, which he often called to: «Dschoddo, come to Papa!» Sometimes the St. Bernard came, sometimes it ran further away; that was what Papa was looking for. But no sooner had he found it than he forgot it again and was as absent-minded as before. His appearance in this fairly ordinary street had something exotic about it, his frequent call made children laugh, but they didn't laugh in his presence for he had something commanding respect as he peered straight ahead, tall and proud and not noticing anyone; they laughed only when they came home, telling about him, or when they played with each other in the street and he was gone. It was Busoni, who lived right there in a corner house; and his dog, as I found out only much later, was named Giotto. All the children in the neighborhood talked about him, but not as Busoni, for they knew nothing about him, they called him «Dschoddo-come-to-Papa!» They were on tranced with the St. Bernard, and even more with the fact that the handsome old gentleman referred to himself as the dog's Papa.

She went to concerts often; music remained important for her, though she seldom touched the piano after Father's death. Perhaps she had also become more demanding by having more opportunity to hear the masters of her instrument, some of whom were living in Zurich. She never missed a recital by Busoni, and it confused her a bit that he lived nearby. At first, she wouldn't believe me when I told her about running into him, and only when she learned from others that it really was Busoni did she accept it, and she upbraided me for calling him «Dschoddo-come-to-Papa», like the neighborhood children, instead of «Busoni». She promised she would take me to hear him some day, but only on condition that 1 never again call him by that false name. She said he was the greatest keyboard master she had ever heard, and it was nonsense referring to all the others as «pianists» just like him.