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Kultur

Tages-Anzeiger vom 09.06.2004
Der Cherubiner vom Zürichberg

Er war Pazifist, Dichter, Emigrant und galt als Schaltstelle der Weltrevolution. Heute ist Ludwig Rubiner (1881–1920) vergessen. Er wollte es so.

Von Peter Müller

Zürich sei «unwillig willig Weltmittelpunkt», meinte 1917 der Dichter Frank Wedekind an seinem Stammtisch im Café Odéon. Autoren aus halb Europa lebten damals in der Stadt. Der Erste Weltkrieg hatte sie aus ihren Ländern vertrieben, aber das war auch das Einzige, was sie einte. Der Dadaist Hugo Ball hat die Meinungsdifferenzen, ebenfalls 1917, auf eine handliche Formel gebracht: Im Streit lagen in Zürich «Ästhetiker» und «Moraliker». Während die Ästhetiker, vorab die Dadaisten, ihre Opposition gegen die bürgerliche Gesellschaft auf die Kunst beschränkten, verlangten die Moraliker eine Kunst, die politisch wirken sollte.

Ludwig Rubiner, den Ball als Anführer der Moraliker sah, wurde 1881 in Berlin geboren, in einer jüdischen Familie, die aus Galizien eingewandert war. Sein Vater schrieb erfolgreiche Unterhaltungsromane. Ludwig studierte, gehörte avantgardistischen Zirkeln an, lernte früh die wichtigsten Vertreter des Expressionismus kennen. Bald war er als Kritiker tätig, schrieb einen Kriminalroman und witzige «Kriminalsonette». Daneben reiste er.

Die Gewaltlosen

1911 heiratete Rubiner Frida Ischak, die ebenfalls aus einer ostjüdischen Familie stammte. Sie arbeitete als Schneiderin, schaffte es dann aber, an der Universität Zürich Mathematik zu studieren. Auch einen unauffälligen russischen Emigranten lernte sie hier kennen: Lenin.

Für die Rubiners war klar, dass sich die Welt radikal ändern musste. Ludwig gehörte 1911 zu den Mitbegründern der Zeitschrift «Die Aktion», die aus blasierten Schöngeistern engagierte Intellektuelle machen wollte. Schon zuvor hatte Rubiner eine «Politisierung des Theaters» gefordert. Und 1912 postulierte er: «Der Dichter greift in die Politik.» Doch dann kam 1914, der Erste Weltkrieg, und die Dichter machten tatsächlich Politik – indem sie Kriegshymnen sangen.

Rubiner gehörte zu den wenigen, die von Anfang an gegen den Krieg waren. Zusammen mit Frida zog er 1915 in die Schweiz. Dank seines galizischen Heimatorts hatte er einen österreichischen Pass und kein Problem bei der Ausreise. Am Zürichberg, an der Hadlaubstrasse 11 beim Toblerplatz – das Haus steht nicht mehr –, bezog man eine Wohnung. Die Rubiners machten weiter, wo der Krieg sie unterbrochen hatte, fleissiger und fiebriger noch, sie übersetzten Tolstoi und Voltaire, Frida pflegte ihre russischen Kontakte, Ludwig schrieb. Er füllte fast allein die Zeitschrift «Zeit-Echo», gab eine Anthologie mit dem programmatischen Titel «Der Mensch in der Mitte» heraus und verfasste das Drama «Die Gewaltlosen», das er «dem Kameraden, meiner Frau Frida» widmete.

Vulkanisch und priesterlich

Das Stück hat alle Schwächen und Stärken eines expressionistischen Dramas. Es ist abstrakt und diffus, aber auch von einer heiligen Inbrunst. Ideenträger debattieren da über den neuen Menschen und seine alten Schwächen, die Revolution ist ein religiöses Ereignis, sie meint Umkehr und Wandlung, verlangt Opfermut statt Gewalt: «Auf der ganzen Erde, bald, umarmen sich Brüder ...».

Verkündet wird die Weltverbrüderung von einer Figur, die schlicht «der Mann» heisst, und auch fast alle anderen Rollen bleiben namenlos. Nicht nur, weil sie für Ideen stehen. Ihre Anonymität ist zudem ein Merkmal des herbeigesehnten neuen Menschen: Er ist nicht mehr isoliert, geht auf im Kollektiv. In Kurt Pinthus’ berühmter Anthologie «Menschheitsdämmerung» von 1920 heisst es: «Ludwig Rubiner wünscht keine Biografie von sich.» Die Aufzählung von Daten und Taten halte der Dichter für ein Relikt des «individualistischen Schlafrock-Künstlertums». Von Belang für Gegenwart und Zukunft sei nur «die anonyme, schöpferische Zugehörigkeit zur Gemeinschaft».

Eidgenössisch bespitzelt

Nicht alle teilten diese Meinung. Das Ehepaar Rubiner wurde überwacht, von den Schweizer Behörden und der Deutschen Botschaft, die eifrig Informationen austauschten. Besonders als der Krieg seinem Ende zuging und die soziale Unrast wuchs, bekamen die Regierungen Angst. «Als Zentrale der internationalen Revolution kann erachtet werden der Kreis um Rubiner in Zürich», glaubte der deutsche Generalstab. Und die schweizerische Bundesanwaltschaft hielt Frida Rubiner für eine «rabiate Bolschewistin», die sich gern als «Dichtergattin» tarne. Trotz Detektiven, Spitzeln, Briefzensur und einer Hausdurchsuchung konnte dem Ehepaar nichts nachgewiesen werden.

Auch die Mitemigranten wurden aus Rubiner nicht klug. Als glaubwürdige Integrationsfigur galt er den einen, die andern hielten ihn für einen diktatorischen Ideologen. Rigid und priesterlich konnte Rubiner wirken, doch mit dem unglücklichen Kollegen René Schickele hielt er sich an eine Whiskyflasche. Der Dadaist Hans Richter erinnerte sich an einen schweren, rastlosen Mann, einen vulkanisch Leidenden, der seinen Zorn über die Welt hinausposaunte, «ein wahrer Cherubiner».

1918, bei Kriegsende, gab es in Zürich nicht nur Ästhetiker und Moraliker, auch die Moraliker waren nun gespalten. Die Verfechter eines gewaltlosen Umbruchs stritten mit den Propagandisten einer proletarischen Revolution, die vor Waffen und Menschenleben nicht zurückschreckte. Rubiner, der Autor der «Gewaltlosen», entschied sich für den gewaltsamen Kampf. Zusammen mit Frida trat er in die neu gegründete Kommunistische Partei Deutschlands ein.

Ende 1918 hatte das Paar die Schweiz verlassen. Man kam einem möglichen Ausweisungsbefehl zuvor. Frida ging nach München und beteiligte sich an der Räterepublik. Ludwig war in Berlin Lektor bei Kiepenheuer, der sich als Avantgardeverlag profilieren wollte. Doch schon 1920 starb Rubiner, 39-jährig, während einer Grippeepidemie. Er hatte sich zuletzt isoliert gefühlt, die in Zürich erträumte revolutionäre Gemeinschaft war Phantom geblieben. Drei Monate nach Rubiners Tod kamen seine «Gewaltlosen» im Neuen Volkstheater Berlin zur Uraufführung. Ein Flop.

Während ihr Mann vereinsamte, reihte sich Frida Rubiner ein. Sie wurde zur strammen Berufskommunistin, überlebte im berüchtigten Moskauer Hotel Lux den Zweiten Weltkrieg und Stalins Säuberungen und lehrte an der Parteihochschule der DDR. Frida Rubiner starb 1952.

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