FERRUCCIO BUSONI

ROBERGE B663: «Highly enthusiastic portrait of Busoni as a pianist, couched in a very dense and literary language, by one of Germany's leading music critiec of the period. Reproduces two caricatures of Eugène Ysaÿe by Busoni.»





Weimar 1901. Man versucht die Vergangenheit zu beschwören. Ein Meister mit einem Christuskopf und einem neuen Evangelium hat, dem Rufe des Großherzogs Karl Alexander folgend, den verwaisten Thron Liszts eingenommen. Die Schar von Jüngern, die er bannt, ist in eine neue Zeit hineingeboren. Die Konzertindustrie hat den Zenith erreicht, die musikalische Ausübung wird von dem Räderwerk des Agenten geregelt und in Schwung gebracht. In Berlin laufen alle Fäden des Betriebes zusammen. Die kleine Residenz kann nur mehr einen Schatten der Vergangenheit beschwören.
Rausch des Internationalismus, nur möglich, wo darstellende Musik, der Genuß der flüchtigen Stunde, das Schaffen überwuchert. Aber doch stark genug, um ewig zu scheinen. Ewig wie im romantischen Paris Liszts, dem aber dieser Rausch aus den Bedürfnissen einer glänzenden Gesellschaft strömte; darum ganz anders als in dem plötzlich hochaufgeschossenen Berlin, das die Gesellschaft erst aus sich entwickeln soll. Das System will hier ersetzen, was dort die Laune schuf.
Auch Ferruccio Busoni, den wir in Weimar als Maestro der Sommermonate grüßten, hat seit 1894 Berlin zum Wohnsitz gewählt. Er haßt die Industrie, aber er liebt den internationalen Geist. Und hofft, daß sich hier bauen läßt. Ein Künstler, der als im Grunde Einsamer wie auf einer Insel der Weltstadt lebt und neuerungssüchtige Junge verschiedenen Stammes magnetisch an sich zieht; Haupt einer Republik von Bohèmeleuten, nicht eigentlich lehrend, sondern sich Gleichgesinnten mitteilend und doch heranbildend, ratend, helfend. Es geschieht, daß auch die Eigenen in anderen Künsten sich in geheimem Bunde mit ihm fühlen. Ihr findet sie alle in den Busoniabenden wieder: Maler, Bildhauer, Literaten, den Snob, die besondere Frau aller Spielarten; kurz: die pittoreske Mischung von Menschen, die den neuen Berliner Westen bevölkert. Der Duft des Ungewöhnlichen erfüllt den Saal, die Rassen geben sich ein Stelldichein, es klingt eine Sinfonie von Farbe und Stimmung in den Reihen, deren Insassen nicht immer die Liebe zur Musik, sondern die Erwartung des Seltsamen hierhergeführt hat. Aber da sitzen auch neben den berühmten die werdenden Pianisten, immer bereit, Zeichen in die Noten einzutragen, um die Erinnerung an das Erlebnis dieses Abends als Lehre in sich zu hegen; Irrende, die meinen, daß sich das Seltsame umpflanzen lasse. So hat die Industrie das Fest aus sich heraus geboren, und das schon übelbeleumdete Klavier hält die Sinne gebannt weil ein einziger es meistert.
Der wahre Erbe Liszts. Er ist es, obwohl er nie sein Schüler war. Zunächst: er steht zwischen den Rassen. Das Vaterland Paganinis, scheint es, ist auch das seinige. Aber wie weit ist er von jenem Empoli, das ihn 1866 in die Reihe der Italiener aufnahm, abgebogen! Selten hat ein Datum wie dieses durch das künftige Leben seine Beweiskraft verloren. Schon in den Eltern gärt Blutmischung: der Vater zwar von zweifelloser Rassenreinheit; die Mutter aber trägt als geborene Weiß die Erbschaft des Deutschtums in die Familie hinein. Alles Weltbürgerliche in Neigungen und Kunst Busonis ist also hier schon vorgezeichnet. Und wird entfaltet durch den Weg, den das Kind beschreitet. Es folgt seinem Vater, der als Klarinettenvirtuose mit dem Wanderstab durch die Welt zieht. Paris, Triest, Wien, Graz sind Stationen auf der Reise durch das Europa, von dem er künftigen Ruhm erhofft.





Das Wunderkind also wird gefeiert. Es empfängt von dem kritischen Papst Hanslick in Wien 1876 die Weihen. Der rühmt an ihm Frische und Natürlichkeit. Und ahnt nicht, daß in dem Kleinen der Feind alles dessen heranwächst, was ihm selbst teuer ist. Man stelle sich vor, wie der geistreiche Widersacher seiner Zeit den gereiften Busoni eingeschätzt hätte! Unfähig, seine künstlerische Wandlung zu begreifen, hätte er ihm das gleiche Verdammungsurteil entgegengeschleudert wie allen denen, die seinem Ideal der Natürlichkeit Fehde angesagt hatten.
Die Zeiten sind dahin, wo das Wunderkind, von der Umwelt reich beschenkt, in gradlinigem Wachstum zur Größe emporschnellen darf. Der kleine Busoni wird in den Spätherbst Richard Wagners hineingeboren. über dem künftigen Schaffen liegt der heimliche Bann des Epigonentums. Wer diese Zeichen mit wachen Sinnen auf sich einwirken läßt, ist dem Zwiespalt preisgegeben. In Ferruccio Busoni begünstigt ihn schon die Abstammung, das musikalische Wetter und das Klima vollenden ihn. Hier wird das Denken notwendig die Wege des Gefühlsscharf kreuzen. Die 'interessante' Musik, eine Frucht des Mißtrauens in den Instinkt, des krampfhaften Suchens nach Eigenart, also eines tiefen Irrtums muß ihn in ihre Kreise ziehen, ja, zu ihren Häuptern zählen. Wenn trotzdem die positive Leistung herausspringt, so geschieht es, weil wir hier vor einer reichen und entwicklungsfähigen Natur stehen, die auch in ihren Irrungen noch fruchtbar ist. Die Einheit von Schaffendem und Nachschaffendem zeugt eine unbestreitbare, festgefügte Eigenart.
Der Zwiespalt trägt auch äußerlich den Bruch in das Leben dieses Virtuosen. Das Kind schreibt ahnungslos seine Noten hin, fügt Klavierstücke und anderes nach seinen ersten Eindrücken und Erinnerungen zusammen. Es wird von Wilhelm Meyer-Remy in Graz, einem wohlbekannten Lehrer heranwachsender Musiker, in strenge Zucht genommen und mit dem Handwerk vertraut. Schon leuchtet ihm Bach voran. Der Halbitaliener hat Italien, das ihn vielfach ehrt, innerlich überwunden. Die Heimat Johann Sebastians zieht ihn an. Und das Deutschland, das ihn nun aufnimmt, wird er nicht lassen können. Er wird es sich erkämpfen gleich jenem Liszt, der dort die Abkehr von aller Äußerlichkeit vollzieht. Aber Busoni hat nicht so viel zu opfern wie sein Ahne. Gewandelte Zeiten und gedämpftes Künstlertemperament wirken zusammen, den Sturmlauf des Virtuosen zu hemmen. Das Berlin des Jahres 1885, in dem der Neunzehnjährige, bereits mit dem Rubinsteinpreis Bedachte um Anerkennung wirbt, bleibt kühl. Nichts zeichnet ihn unter den zahlreichen Könnern aus, die nun in einer Berliner Saison aufmarschieren. Das äußere Erlebnis muß hier die Krise und den Aufschwung bringen. Von Leipzig, dem Sammelpunkt fremder Musiker, kommt er als Lehrer an das Konservatorium in Helsingfors. Die nordische, die finnische und russische Tonkunst offenbarensichihm. HeimatslautundFarbeinunlöslichern Bunde treten ihm entgegen. Der Heimatslaut in ihm ist getrübt, aber die Farbe fängt er auf. Sie übermannt ihn. Sie wird er mit den Kräften seines Geistes und seiner Sinne entfalten. Denn dieser metaphysisch gerichtete Geist bietet sich der Analyse wie der Synthese dar, und unter den Sinnen ist es das Auge, das im künstlerischen Sehen geübt ist und selbst die zeichnende Hand leitet.
Diese künstlerische Gesamtanlage für den Musiker in sich entdecken, heißt sich auf Liszt besinnen. Der sucht, wir hören es von ihm selbst, den etwa Siebenundzwanzig, jährigen. heim und fordert Umkehr. Das neue Liszt-Evangelium wird dem Bachevangelium überbaut. Dieses bestimmt die Architektur, errichtet Quadern, türmt den Dom der Mehrstimmigkeit; jenes durchwirkt sie mit der Farbe, die zwar aus dem malerischen Sinn stammt, aber ohne eine besondere Technik nicht zur Tat werden kann. In den Werken Liszts ist diese Technik niedergelegt. Sie heißt es sich zu eigen machen. Auch hier spielen sich ja zwischen Poly-, und Homophonie Kämpfe ab, die mit dem übergewicht der Einstimmigkeit endeten. Freilich: verschieden geartet sind trotz alledem in beiden Erlebnis und Entwicklung. Der eine schöpft aus dem romantischen und gesellschaftlichen Paris, dem er sich inbrünstig hingibt, der Nachgeborene muß sich durch Nüchternheit und Industrie den Weg bahnen. Liszt hat den übermächtigen Instinkt, der lange genug aller Zersetzung durch das Denken trotzt; Busoni räumt von Natur dem analysierenden Hirn eine Herrschaft ein, die dem schwächeren Instinkt gefährlich wird. In jenem ist, bei allem Fortschrittsgeist, ein unzerstörbarer Hang zur Trivialität, die den volkstülichen Grund bezeugt, in diesem lebt der unbeirrbare Trieb zum Besonderen, der zu Konstruktionen führt. Dort wohnt ewig das schlechthin Musikalische; hier wird es bekämpft und verneint.
Ja, zwischen dem jungen Künstler, den der Paganinirausch zur Umwälzung der eigenen Klavieristik auffordert, und dem anderen, den der Lisztrausch zum Umbau seiner Technik bestimmt, herrscht Gleich- und Gegenklang. Es ist, als ob das Bewußtsein der Blutsverwandtschaft mit Liszt Busoni aufriefe, den Lebens- und Schaffensrahmen seines Vorgängers absichtsvoll nachzuzeichnen. Dort aber weist lebendiges Beispiel, hier das Studium einen Weg. So keimt und vollendet sich im Lisztjünger der Fortschritt in mühevollem Aufstieg. Noch nie hat Virtuosentum so bewußt und schrittweise geistige Inhalte in sich aufgesogen. Das Landläufige wandelt sich an einem Punkte zum Artistischen. Zwischen dem Urpianisten Liszt und dem anderen gibt es noch immer organische Bindung; zwischen dem Urpianisten Busoni und dem anderen scheinen alle Brücken abgebrochen.
Lauschen wir ihm nun etwa zwanzig Jahre nach jener Wendung, um 1910, in einem jener Konzerte, deren Rahmen wir schon gefügt haben. Der Virtuose mustert mit raschem Blick den Saal. Der Drang, sich in Szene zu setzen, klingt auch in diesem Spätgeborenen nach. Der Schauspieler und der Theatraliker im Virtuosen schaffen hier eine Art Pose; alles strafft sich zur sieghaften Erscheinung, aber auch die Zeichen der Ironie, die den inneren Zersetzungsprozeß verrät, werden auf den Zügen sichtbar. Schon aber fliehen diese Schatten, und ein Mystiker scheint ganz in Anbetung versunken. Er spielt eine seiner Bachbearbeitungen. Die instrumentierenden Finger, die Liszts Spiel Charakter und Farbe gaben, arbeiten im Dienste eines Hirns, das blitzhaft bildnerische und malerische Eindrücke in die Klangregion des Tastenreiches überträgt; ein Baumeister duckt sich, setzt zu terrassenförmiger Aufschichtung der Gotik flächenhaft die Hände auf, läßt die Orgel in ihrem majestätischen Schritt durch die Klaviatur aussprechen.
Der gebrochene Akkord ist verbannt, das königliche Registerwerk nie durch Harfengetön verblaßt. Der Farbenkünstler schattiert die Trag- und Querbalken, die der Baumeister tatkräftig und folgerichtig hinsetzt, und gibt mit dem Atem des Pedals dem Aufgeschichteten rauschenden Klang und bezaubernde Echowirkungen. Der protestantische Bach hat hier durch modernste Verfeinerung der technischen und der Klangmittel eine Üppigkeit erhalten, die ihn aus der kleinbürgerlichen Luft in die weltbürgerliche, aus der Glaubens- in die Stimmungssphäre trägt. Eine Beethovensonate; eine der letzten. Die terrassenförmige, farbensatte Aufschichtung des Werkes, die den Rhythmus nach ihren Gesetzen gestaltet, will auch ihre eigene Phrasierung. Sie spaltet das Melos, legt das mit innerer Notwendigkeit gefügte in Einzelabschnitte auseinander und stellt dem Dämonischen, zwischen ungebändigter Leidenschaft und hellseherischer Weltentrücktheit Schwebenden in Beethoven die eigene leidenschaftliche Bewußtheit entgegen. Bei allem Reiz des Subjektiven empfinden wir die Welt, die zwischen dem Schaffenden und dem Nachschaffenden liegt, und fühlen das Wesen des Werkes auf die geistreichste Art angetastet. Die Romantik wird beschworen: nicht die Gefühlsromantik Schumanns, da der Geist des Spielers sich gegen die kleinbürgerliche Gemütsausbreitung auflehnt, sondern die Nervenromantik Chopins, die auch den Klaviersatz handgerecht und weltmännisch machte. Auch hier schneidet Busonis Art tief in Melos und Phrase ein; die Anmut hat sich der quadratischen Teilung zu beugen; der Zauber des Halbschattens und die gemeißelte Passage wollen jede Widerrede des Gefühls ersticken, wenn Mittelstimmen, die im Dunkel lebten, ins Licht treten, Hauptstimmen ins Dunkel gerückt werden.
Brahms löst Chopin ab. Er ist dem gegenwärtigen Busoni als künstlerische Gesamterscheinung fremd. Beider Trotz, obwohl aus verschiedener Gegend stammend, konnte sich zuweilen, wie im D-moll-Klavier-konzert, berühren und im eigenwilligen Rhythmus aufkochen. Doch das Schwerblütige in Brahms, das auch die Auflösung von Romantik und Kontrapunkt in einem flüssigen Klaviersatz hindert, hat ihn aus seinem Bannkreis entfernt. Paganinivariationen sind das einzige Brahmssche Klavierwerk, das den Virtuosen Busoni lockt. Hier spricht das A.moll-Thema zur Grundstimmung des Meisters, erhält von dem Kenner der Klaviertechnik Schwingen, die es über die Lisztschen Veränderungen hinausführen, und wird zugleich vielfach seelisch beleuchtet. Was Wunder, daß auch der Lisztgläubige Busoni sich ebenso durch den klippenreichen Satz wie durch die Stimmungsbilder angeregt fühlt!
Wieder ist der Bildner am Werk und schafft Miniaturen, die hier im Zwielicht flüstern, dort, mit eisernem Rhythmus hingesetzt, in hellem Glanz strahlen, immer aber durchwirkte Technik in Ausdruckswert wandeln. Das ist richtunggebend geworden. Und nun Liszt, der andere Eckstein des Programms. Der Welt, die dessen höchsten Kunstwert bezweifelt, stellt Busoni das eigene Kredo entgegen. H-moll-Sonate, Années de Pèlerinage, Paraphrasen oder Etüden, alles verteidigt er mit dem vollen Aufgebot seiner Meisterschaft, mit einem bezaubernden Zusammenklang von glitzernden Passagen, rollenden Oktaven, Trillern, Tremoli, die das Virtuosentum auf vorläufig höchster Stufe und in persönlichster Entfaltung zeigen.
Der Künstler ist hier ganz Schauspieler und Mystiker zugleich geworden. Er kennt nicht reines Ornament oder Talmilyrik. Seine Feinarbeit will das eine durch dramatische Darstellung, das andere durch inbrünstiges Sichversenken auf seine letzte Formel bringen. Aber hat nicht der Jünger in dieser Lisztvergottung dem Meister zu viel unterschoben? Hat er durch eine Besonnenheit und Gewissenhaftigkeit, die alle sich kreuzenden Strömungen seines Geistes in einem Moment höchster Spannung verwerten will, nicht auch dem Impuls die Spitze abgebrochen? In der Tat hat sich das Lisztspiel in diesem eigenartigsten Vertreter des neuen Geschlechts gewandelt. Der impressionistische Baumeister gibt ihm gedämpftere, gebrochene Farben und eine verhaltene Leidenschaft. Seine immer krampfhafte und wie zum Sprunge bereite Technik bietet sich zwar den verschwimmenden Farbentönen, aber nicht den Gewalttätigkeiten unbeherrschten Titanentums dar; sie fängt zwar den Atem des Orchesters auf, ohne aber je den Ausartungen der Blechbläser zu folgen. Kurz: das Dämonische ist durch das Geistige gebändigt. Aber auch so empfängt der Virtuose Huldigungen, wie sie unserer nüchternen Zeit zu widersprechen scheinen. Die Intelligenz verneigt sich vor der künstlerischen Geistesarbeit. Und Eros spinnt heimlich seine Fäden.
Die suggestive Kraft dieser Kunst, das spüren wir, ruht in ihrem artistischen Reiz. Sie lenkt durch ihre Vollendung und Farbigkeit unweigerlich den Blick von dem Was auf das Wie. Echt virtuos wandelt sie auch das Geringste in Augenblickswert um, ist aber verführerisch genug, ihn dem Hörer als Dauerwert vorzutäuschen. Das will auch der Spieler. Wer ihn um seiner spielerischen Wundertaten willen allein rühmen wollte, würde ihn mißverstehen. Diese Virtuosität ist nicht umsonst so sorgfältig ausgebaut: sie will Sprachrohr einer eigenen, von der herkömmlichen Art verschiedenen Musik sein. Sie verschiebt das Schwergewicht von dem landläufigen Musikalischen in das Plastisch-Malerische. Daraus fließt alle Eigenart der Darstellung. Mit unbeirrbarer Folgerichtigkeit wird das gebundene Spiel verneint, die Linie gestört, die Dynamik umgeschaffen, mit neuem Rhythmus der Umbau vollzogen. Ein System, Frucht und Theorie, scheint Unmögliches, blühende Kunst gezeugt zu haben. Mit zauberischen Mitteln wendet sie sich gegen unser durch Erfahrungen gestütztes und umsponnenes Urgefühl. Dieses läßt sich nicht ganz in die Kreise des Spielers drängen, entdeckt eine überspannung der Denklogik und als ihre Folge: Begrenzung der Kunst, glänzendste Einseitigkeit. Die enge Mauer steht gegen die weite Kunst.
Man begreift, daß der Pianist, der alle Musik der Vergangenheit in seinen persönlichen Wert ummünzt, nur mit Mühe zum Erfolg hat aufsteigen können. Nie waren Technik und Musik verschwistert wie in diesem Virtuosen. Nie war ein Bund gefährlicher als dieser. Er läßt alle Reize der Verführung gegenüber den Jüngeren spielenHaben sie einmal, unter Verzicht auf ihr Urgefühl, beschlossen, die Wege seiner Technik zu wandeln, dann ist es um ihre Selbständigkeit geschehen. Sie müssen sich notwendig zu seiner Darstellungsart bekennen. Nur daß, was bei Busoni blühendes Eigengewächs eines spekulativen Geistes ist, in den Jüngern zum photographischen Abdruck erstarrt. So steht es zunächst. Doch sollte nicht Umschmelzung dieses Schöpferischen durch einen starken Instinkt möglich sein?
Aber der Widerspruch anderer, der nur schweigt, wenn seine pianistische Kunst das Mindere erhöht, läßt den Meister nicht ruhen. In dem «Entwurf einer neuen Asthetik der Tonkunst» sucht er schon 1907 seine Abkehr von allem Gewohnheitsmäßigen zu begründen. In der 1916 erweiterten Skizze wird eben das Gefühl, dessen dau,ernde Kränkung ihm vorgeworfen wird, auf seinen Wert geprüft. «Gefühl ist eine moralische Ehrensache - wie die Ehrlichkeit es ist -, eine Eigenschaft, die niemand sich absprechen läßt - die im Leben gilt wie in der Kunst» [...] «Gefühl (in der Tonkunst) fordert aber zwei Gefährten: Geschmack und Stil.» So entscheidet wie, derum ein Subjektives: die eigene künstlerische Einsicht. Ihr setzen die Widersprechenden ihren musikalischen In, stinkt entgegen.
Wir fühlen es immer wieder: der Erbe Liszts wird viel mehr noch als sein künstlerischer Ahne durch Außer, musikalisches gelenkt. Seine ausdeutende Kunst folgt, viel mehr noch als die Liszts, der Richtung seines schöpferischen Geistes. Er ist stets 'Bearbeiter'. Er faßt den Begriff der Bearbeitung so weit, daß ihm selbst der in Notenschrift niedergelegte Einfall schon übertragen erscheint. Dieser geistreich durchgeführte Gedanke scheint das Subjekt in den luftleeren Raum zu stellen, will ihm aber Überfreiheit schenken: in der Ausführung und in der Umgestaltung des Gegebenen. So ist er der erste, der die Transkription logisch und da, mit auch künstlerisch stützen will. Er überträgt in größtem Stil. Zwischen seiner übertragung der Bachschen Choralvorspiele und der glänzenden klanglichen Spaltung der «Spanischen Rhapsodie» von Liszt in einen Klavier-, und einen Orchesterpart gibt es für ihn nur Grad- nicht Artunterschied. Alles macht ja seine Klangphantasie und seine geistige Kraft in gleicher Richtung schöpferisch. Und doch: wie viele Stufen führen von der gewaltigen Neuherausgabe des «Wohltemperierten Klaviers» zur «Fantasia contrappuntistica», in der Bachsches Fugenmaterial und Busonis durchbrochene Architektonik, Gothik und Impressionismus eine neuartige, zwitterhafte Verbindung eingehen!
Damit ist, für den Zuschauer, der Schritt von der Bearbeitung zum eigenen Werk getan. Gewiß schwebt auch Busoni das älteste Virtuosenideal eines völligen Gleichklangs von Schaffen und Nachschaffen vor. Doch der innere Zwiespalt, der Kampf mit der Theorie, die er immer frei ableiten will, und die ihn doch selbst ableitet, gestattet nicht organisches, sondern nur ruckweises Fortschreiten. Meißelt der Pianist an seiner Kunst, dann ist der Komponist zur Ruhe gezwungen. Und die Außenwelt ahnt nichts von der Geistesnot, die solcher Zwang her, vorruft. Doch schafft natürlich der Klavierspieler für den Tonsetzer. Beide sind aufrührerisch. In beiden ist Klangphantasie das Mittel der umwälzenden Triebkraft. Sie will Sonderart um jeden Preis. Doch schon fühlt sie sich, nach eigenem Geständnis, durch die gegenwärtigen Klangmittel, durch die herkömmlichen Instrumente gebunden, die auch das Neueste noch mit der Patina des Gewohnheitsmäßigen überschichten. Man sieht: der Einfall wird als ein Abstraktum gedacht. So gilt es sich zu bescheiden, das Reich der Harmonie nach Ungewohntem zu durchstreifen. Das Ohr ist bereit, selbst Dritteltöne zu sondern und zu werten. Hier, unbeschränkt auch durch die Form, die etwas Fließendes wird, schalten zu können, das dünkt Busoni ein Weg nach oben. So ist das Räderwerk des Geistes in ewig hastender Bewegung, das Auge trägt dem Ohr immer neuen Baustoff zu, und dieses, längst allem landläufigen Hören abtrünnig, befiehlt Zusammenklänge, die der musikaufnehmenden Mitwelt nicht einleuchten wollen. Konstruktion als bewegende Kraft und Experiment als ihr Ergebnis arbeiten gegen jede Festlegung, gegen jede Umrissenheit des Gefundenen. Der Ruhepunkt des 'Gefühls' wird weder vom Schaffenden gewollt, noch vom Empfangenden erreicht.
So muß das Schaffen Busonis zwiespältig seinem Virtuosentum folgen. Dieses aber hat mehr Macht über die Geister als jenes; dient es der eigenen Sache, dann wirbt es ihr einen Augenblickserfolg. Was an Werken vor dem künstlerischen Umbau liegt, ist unpersönlich, epigonenhaft und darum versunken; was rücksichtslose, unerbittliche Umwertung aller Werte ist, klingt als Ergebnis geistvoller Spekulation bei einem Ausschnitt der Gesellschaft, bei einem Kreis von Künstlern und Literaten an, denen es höchstes Glück scheint, dem Neuesten Pate zu sein. Der Versuch mündet zunächst in das Nocturne Symphonique für Orchester. Hier ist das Klangexperiment auf dem Grunde einer Neuharmonik so weit vorgerückt, daß auch das anpassungsfähige Ohr verneinen möchte, weil zuhörende Phantasie die Notwendigkeit dieser Fortschrei, tungen bestreitet. Unbestritten nur bleiben Werke der Mitte, wie die Musik zu Gozzis Turandot, deren glänzende Farbigkeit den Grundtrieb des Virtuosen bestätigt, ohne sich vom Banne berühmter Muster zu lösen. Dieser aber gibt die bisher verblüffendste Synthese seiner Kunst im «Concerto für Klavier mit Orchester und Schlußchor», das die Erfahrungen des Klaviermeisters und das Wollen des Klangphantasiemenschen zusammenfaßt: mit einem Riesenkönnen in der horizontalen und vertikalen Gliederung des Gewebes und in der Beherrschung der Klangelemente. Das ist eine vorwärtsweisende Tat. Auch sie hatte, selbst in der berauschenden Gestaltung durch den Meister, Mühe zu bezwingen. Bis sie, eines noch nicht weit zurückliegenden Tages, von der getreuesten Photographie Busonis, dem Pianisten Egon Petri unter dem Taktstock des Komponisten in Berlin anklang.
Den Taktstock seiner eigenwilligen Persönlichkeit als Ausdrucksmittel hörig zu machen, hat siebenjährige Pionierarbeit im Dienste fremder neuer Kunst erstrebt. Der Lisztjünger tritt auch darin seine Erbschaft an, daß er uneigennützig an der Spitze des Berliner philharmonischen Orchesters das Aufwärtsgerichtete ringsum zum Tönen bringt. Oder ist es nicht vielmehr idealer Eigennutz, weil diese César Franck, Vincent d'Indy, Debussy, Guy Ropartz, Delius und ähnliche, denen vor allem sein Schürfen gilt, den Boden für die Kunst Busonis zu durchfurchen, die Aussaat für ihn vorzubereiten scheinen? Es ist die Zeit, wo man die Erleuchtung vom Westen erwartet, wo die neufranzösische literarisch-malerische Musik sich dem deutschen Blut beizumischen sucht. Der Weltkrieg hat hier, den Europäismus gefährdend, Halt geboten. Und auch die Experlmentalkunst Busonis, die sich in einer Oper «Die Brautwahl» an E. T. A. Hoffmann neu entzündet hatte, muß sich bescheiden und des Kommenden harren. Der Meister, im Mittelpunkt europäischen Waffenlärms ein Einsamer, geht nach Amerika, das ihm von jeher Kränze windet, ohne ihn gewinnen zu können, und zieht sich nach der neutralen Schweiz zurück, um zwischen den Kriegführenden ruhig an seinem Werk weiterzubauen. Dort sind die Bühnenimpromptus Turandot und Arlecchino geboren.
Noch stehen wir unter dem lebendigen Klang dieser Erscheinung. Sie ist uns Gipfel des schöpferischen Virtuosentums der Gegenwart. Unter dem Antrieb des Lisztschen Fortschrittsgedankens und einer Tatkraft, die aller Hemmungen spottet, sagt sich Busoni entschieden von dem Leitmotiv los, das nur den jungen Virtuosen kennt. Er glaubt an die suggestive Kraft auch seiner Mannheit. Denn er steht inmitten einer nachwagnerischen Musik, die der Naivität entsagt und sich zum gedankenschweren Ausdruck aller Zeitkultur gemacht hat: die int teressante Musik umgibt und fördert ihn. Er kennt nicht die Tragik eines Liszt, der Chopin, Schumann, endlich Wagner erlebt, lauter Erfüllungen von Vollnaturen, an denen er die eigene Zwiespältigkeit mißt. Busoni sieht, da der Maßstab des Schöpferischen sich verändert hat, die gealterte, zwiespältige Zeit im Einklang mit sich. Mit einem starken Einsatz von Theorie darf er als phantasievoller Gehirnmensch an seine Aufgabe herantreten und erreicht dank seiner Meisterschaft die positive Leistung. Sie führt ihn in einen Seitenweg der Kunst. Dieser unnaive, besonnene Virtuose kann nicht volkstümlich sein. Denn er wendet sich gegen den Instinkt. Er wendet sich endlich auch unbefriedigt gegen sein Instrument. So scheint uns Busoni zunächst Gipfel und Schlußpunkt des Virtuosentums.