FERRUCCIO BUSONI

BRIEFE AN SEINE FRAU
1908-1912


work in progress

1908



Ich schreibe Dir eigentlich nur um einen Augenblick mit Dir zu sein: zu sagen gibt’s Nichts. - Nichts. -
Hier dreht sich Alles im bekannten Kreise... Als ob man im Jahre 1884 wäre, wo ich alle diese Freuden schon kostete - nur gab es damals alle Wochen einmal das Hanslick’sche Feuilleton - wie in kleinen Städten den Markt-Tag - und Rubinstein spielte.
Ibsen hat mir grosse Freude gemacht - John Gabriel Borkman scheint mir einfach unübertrefflich und vielleicht sein Grösstes.
Von Klein Eyolf gefiel mir - jetzt - nur der Schluss: das Übrige hat mich gequält.
Ich sage mir und jetzt. Denn ich merke immer deutlicher dass es keine absoluten Grössen und Werthe gibt: alles ist, wie es einem im Augenblick vorkommt.
Nur daran, dass sie sich am Wenigsten ändern, erkennt man die Grösseren...
[Wien,] 14. J[anuar] 1908


Der erste gelungene - unzufällige Flugversuch, ohne Ballon, rein mechanisch: diese endliche Antwort auf Leonardo’s Frage zuerst, dann auf die Fragen und Erwartungen der ganzen Welt: mir scheint, es ist passender und würdiger wenn ich meinen Brief, heute, mit diesem Thema eröffne als mit dem jenes auch nicht mißlungenen “Flügelversuchs”, den ich gestern Abend im grossen Musikverein-Saale der “Kaiserstadt” ausführte.
Ich bedaure jeden Tag, dass Du nicht mit bist; der Bösendorfer war strahlend; Göllerich fand den Todtentanz vollkommen. Nach dem Concert, im grünen Anker, angenehme Geselligkeit: Schalk, Botstiber, Dr. Schenker, Galston und die besseren Schüler, die mich anbeten (ich sage es nur aus Freude)...
Eigentlich war es wieder ein Debut! Kein Mensch wußte mehr wie ich spielte, und die Konservatorium-Direktion war wohl nervös um den Eindruck, den “ihr Professor” machen würde. -
Der Clavier-Abend wird wohl das “Tipferl auf das i” setzen...
Mir geht es gut - nur müd’ und ein bischen zu Vieles im Kopf. -
Ibsen hat mich sehr erbaut. Immer führen bei ihm die Frauen das große Wort. Die Männer bestätigen mit einem jämmerlichen Echo. Die Hedda Gabler ist mir jetzt völlig klar und kann nicht anders sein als so.
Ich freue mich, wenn ich wieder meinen eigenen Gedanken frei nachgehen kann: ich glaube es kommt noch viel Gutes...
Wenn es nur wieder Mai wäre! -
Wien am 16. Jan. 1908

Das Wiener Tagblatt brachte ein herrliches Feuilleton über Gerhart Hauptmann’s neuestes Werk. Ich erlaubte mir es ihm zuzuschicken mit ein paar Worten.


Dieser Brief ging heute nach Wien. [1]
Laß ihn zweimal copiren, an Bösendorfer und N. Fr. Presse schicken. Das Original aufbewahren.

[London,] den 3. März 1908
Sehr verehrliche Direction.
Sie haben, ohne den Versuch einer Verständigung anzubahnen, völlig unvermittelt eine “Kündigung” mir zugeschleudert.
In völliger Unberücksichtigung des Eintreffens einer Erwiderung von meiner Seite haben Sie die noch unausgefochtene Angelegenheit in einer einseitigen für mich ungünstigen und fast ehrenrührigen Darstellung öffentlich gemacht.
Sie sind noch weiter gegangen, indem Sie einen Nachfolger - immer öffentlich - proclamirten.
Herr Director Bopp - anstatt sich an mich zu wenden - hat meine Schüler für einen öffentlichen Vortrag geprüft und gewählt, meine allein hier maßgebenden Vorschläge und Meinungen völlig umgehend.
Darauf erlaube ich mir zu bemerken:
Ich glaube, daß Ihr Interesse für die Meisterklasse, falls es wirklich der Trieb Ihres Unmuthes war, am wirksamsten dadurch bethätigt worden wäre, daß Sie, bevor Sie zu einem gewaltsamen Beschlusse schritten, eine Verständigung mit mir angebahnt hätten, indem Sie den Wunsch und selbst die Forderung einer Modificirung des von mir mitgetheilten Planes an mich gerichtet hätten.
Dieses wäre der erste Schritt gewesen, das Wohl dieser Institution zu fördern. Und Sie hätten mich bereit gefunden, auf eine solche Verständigung nach Kräften und Umständen einzugehen, um so eher, als mir selbst das künstlerische Gedeihen meiner Schüler nahe und die Absicht einer Versäumnis meiner übernommenen Pflichten durchaus fern lagen.
Noch immer halte ich daran fest, daß von einem Contractbruch vor Ende des Schuljahres keine Rede sein kann - (ich war und bin völlig entschlossen die vereinbarte Anzahl Stunden zu erfüllen und für das künstlerische Ergebnis zu bürgen) - und ein freundliches vermittelndes Wort von Ihnen hätte auch die Unregelmäßigkeiten, die sich gegen meinen Willen einstellten, einzuschränken vermocht.
Dieses wäre - ich wiederhole es - für das Wohl des Fortgangs dieses Meisterschuljahres am zweckmäßigsten, am menschlichsten und am korrektesten gewesen.
Die Veröffentlichung Ihres durchaus unreifen Beschlusses durch die Presse war gleichwohl jenen Attributen nicht entsprechend; von der Entstellung der Thatsachen, die durch die öffentliche Handhabung hinzutraten und gegen die ich hier in fernem Lande mich nicht wehren konnte, abzusehen.
Die Proklamirung eines Nachfolgers war, nach allem vorher Erwähnten, taktlos.
Deshalb bekenne ich mich als den, der Unrecht erlitten hat und protestire laut dagegen.
Trotzdem versuche ich noch einmal - aus herzlichstem Interesse für meine mir sehr lieb gewordenen Schüler und zur Wahrung meiner Würde - Ihnen in freundlicher Form einen Ausgleich dahin vorzuschlagen, daß mir von Ihrer Seite die Fortsetzung und Beendigung dieses Schuljahres zugestanden werden.
Ich bin überzeugt, daß diese Form die einzige ist, Ihren eigenen Interessen zu walten, das Wohl der Schiller zu wahren und das an mir begangene Unrecht zum Theil auszumerzen.
Ich würde mich sodann am 14. März in Wien und auf eine Woche einfinden können und mich vom 21. April an bis Ende des Schuljahres ununterbrochen meinem Amte widmen.
Ich bitte Sie, mir zum 6. oder 7. des Monats hieher telegraphieren zu wollen.
Hochachtungsvoll

[1] An die Direktion des Konservatoriums.


Es ist über drei, und ich bin noch nicht aus dem Hause, so eifrig wählte und braute ich in Tönen: eine glückliche Woche!...
Hier ist ein ungemein lieber junger Mann von kaum 20 Jahren, der Sohn des großen Photographen-Künstlers Hanfstaengl in München. Eine so echte, reine Natur, einfach, witzig und intelligent, besonders im Kunstgeschmack erstaunlich entwickelt. Den soll Benni kennen lernen - er kann ihm ein vortrefflicher Freund werden.
Stecken doch diese Hanfstaengl (von Lenbach an) mit allem was malt, eng zusammen..
[Wien,] 15. April 1908


Als ich heute früh im Zuge mich Wien näherte, hatte ich ein Gefühl von Jugend und Beginn und es war wie eine späte Reminiscenz von jener Fahrt, die mich vor 25 Jahren als Gast nach Döbling brachte. -
Meine Wohnung geht hier nach der Wallfischgasse und ist geräumig und angenehm wohnbar... Wunderbare Blumen in Töpfen waren zum Empfang aufgestellt. Frau Pollhammer ist meine Wirthin, eine sehr anständige und gute Frau, etwas vornehmer wie Liszts “Baulline”, aber so ähnlich doch und trotz ihrer ehrlichen Freundlichkeit ein bischen überlegen...
Alle Welt weiß in Wien, daß ich hier bin - die Geschichte, wenn auch gemein, hat keine Bedeutung. Nimm doch nicht alles schwer, liebe Gerda, die Welt ist so, und es ist viel Ehre (?) daß sie sich mit einem beschäftigt, wenn auch im bösen Sinne.
Egon’s Brief war höchst erquickend darauf, wie eine Protest-Antwort...
Wien Wallfischgasse 4
am 27. April 1908


...Die alten Freunde Thusmann und Leonhard Turnhäuser erwachen aus dem Winterschlaf, recken sich, gähnen und drehen sich noch einmal um, bevor sie ganz auf-stehen. “Le petit lever” nannte man es bei Ludwig XV., welcher bekanntlich im Aufstehen und im Zubettegehen ein großer König war...
Dazwischen denke ich an mein Adoptivkind, die Liszt- Ausgabe, und an eine Vorrede dazu.
Wie findest Du - unter anderem - den Satz (über Liszt):
“ - - seine Verwandlung vom Dämonen zum Engel von der ersten Bravour-Fantasie “sur la Clochette” (einer teuflischen Suggestion Paganinis) bis zur kindlichen Mystik des “Weihnachtsbaumes”, worin jene letzte Naivetät, welche die Frucht aller Erfahrung ist, fremdartig in ein “beßres Land” hinüberklingt”...
In Italien kaufte ich zufällig ein Buch “Quanto mi pare” von einem Giuseppe Brunati. “Selon mon caprice” könnte der Sinn des Titels sein. Und meint “Despotismus”. Es ist ein gutes Buch, ausgezeichnet in der Sprache, lebhaft in den Gedanken und eigenartig im Stoff. Der letzte Nachkomme eines großartigen und schrecklichen Renaissance-Geschlechtes kleiner Tyrannen, ist der Held.
In dem degenerirten Körper blüht noch der scharfe Geist, die Grausamkeit und Willkür von der Gattung der Borgias und bildet, im Jahre 1906, einen merkwürdigen Contrast zum neuen Italien.
Bruchstücke aus seiner Familienchronik werden erzählt - und zeigen auf das Monumentale, wenn auch Barbarische, der alten Unterdrücker gegen die farblose Heerden-Gesellschaft der heutigen Demokratie.
“Das Genie des Herrschens” - eine ausgestorbene Gattung, wird verherrlicht.
Mir sagt jetzt ein solches Sujet zu. Der Typus des Herrschergenies scheint mir aber, verwandelt, in die amerikanischen Industrie-Könige übergegangen zu sein. Ihr Volk sind die gequälten Arbeiter, ihre Eroberungen die großen Speculationen, die oft ein ganzes Land retten oder vernichten können.
Ich habe mich in ein freiwilliges “Exil” begeben, ich sehe es jetzt ein. - Wenn ich nur “in Stimmung” komme. Der Unterricht hat das relativ-Gute, daß ich mein Clavier frisch erhalte...
Wien 30. April 1908


...Am 7. wird hier ein Brahms-Denkmal enthüllt, zu welcher Feier ich eingeladen bin. In diesen Tagen spielt auch italienische Oper, nur 4 Vorstellungen, darunter Rigoletto und Don Giovanni. Ich glaube, ich gehe hin das ist so recht das Futter, das ich brauche und vielleicht, daß die Brautwahl in Fluß kommt. Sie stockt nicht ganz, aber ich muß sie treiben; während es nur dann richtig ist, wenn man getrieben wird...
[Wien,] 4. Mai [1908]


5. Mai
...Thusmann jammert schon ganz Katzen-musikalisch am Froschlaich. - Gestern (Montag) war Stunde. - Du siehst, ich versuche was zu thun...


Wien, 8. Mai 1908
Nichts Stimmungsloseres als die “Enthüllung” [des Brahms-Denkmals]. Es wurden sehr trockene a cappella-Chöre des Meisters gesungen... Ein Wald von schwarzen Regenschirmen, die eine tonlose Rede auffingen! Brahms sitzt gut und nachdenklich - sehr ähnlich auf einem Postament das wie Cement aussieht, aber billiger Marmor ist. Unten links liegt (!!) eine Muse mit einem gewöhnlichen Cabaret-Gesicht und greift in eine Lyra, die ebenfalls auf den Stufen liegt - eine mißlungene Figur...
Freund schreibt mir, unter Anderem: “Was die Sache erschwert, ist, daß Ihre Harmonik viel reicher ist als diejenige Debussy’s, z. B. haben Sie bei letzterem die alterirte Tonart herausgefunden, so ist die Sache äußerst einfach, während bei Ihnen die Harmonie sich aus der Melodie, besser gesagt aus dem musikalischen Gedanken ergibt.”


[Wien,] 9. Mai [1908]
Ich war im Arbeiten, habe 7 Seiten in einem Zuge componirt, ging fein. Alles gestern Abends auf der Straße ausgedacht. Hoffe Dir bald mehr verkünden zu können...


[Wien,] Sonntag [17. Mai 1908]
Rigoletto! Ich hörte die Oper ein einziges Mal vorher, in meiner frühesten Kindheit, vielleicht in meinem neunten Lebensjahre. Noch kann ich erinnern, einen Abend, in via Geppa in Triest, daß meine Mutter mir das Sujet (für die Jugend bearbeitet) erzählte. - Unvergeßlich bis in mein reifes Mannesalter hinein blieben mir die erste Festmusik, der geflüsterte Raub-Chor (Entführung) und der Wind im Sturme, der von Menschen-Stimmen hinter der Bühne gemacht wird. Es sind nicht viele Jahre (vielleicht vier), daß ich den Clavierauszug zum ersten Mal sah. Die Festmusik und den Flüsterchor hatte ich noch sicher im Gedächtniß behalten.


Dienstag 19.
...Die Brautwahl ist noch weiter gekommen, nie habe ich so leicht gearbeitet. Ich habe geschrieben und geschrieben, um festzuhalten; und werde dann das ganze überschauen.
Rigoletto gestern war für mich stimmungslos: es wurde viel zu sehr “gesungen” - so z. B. das Duett mit Sparafucile (bei Victor Hugo Saltabadil genannt) das wie eine Radierung zwischen einer Reihe farbiger Bilder steht, gab nicht - wie es sollte - das “Frösteln”.
Die schweren Thüren von Eichenholz blähten sich wie Segel im Winde, die Costüme waren von der typischen Opernart, wie Caran d’Ache und andere Caricaturisten sie gern darstellen. Nun kommt hinzu, daß ich die Oper mir in Musik und Darstellung nach eigenem Ideal fabricirt hatte: die gestrige Aufführung stimmte nie damit überein.
Nun werden wir noch Don Giovanni hören, dann komme ich nach Hause...


[Wien, 19. Mai 1908]
...Seit 2 Tagen verfolgt mich eine Idee, stärker als alle früheren, nämlich die: daß ich (nach der Brautwahl) müßte als das natürlichste Resultat dieser ganzen fünfjährigen Entwicklung eine italienische Oper schreiben!
Es scheint mir jetzt das Richtigste und ich würde dafür gern die Meyrinks, Shaws, Gobineaus etc. zurücksetzen [1].
Ich fühle, daß mein Styl sich erst da in voller Blüthe wird entfalten und ich dahin kommen werde, wo ich sein soll.
Das Textbuch ist die schwere Frage. Ich dachte an Boito, an italienische witzige Novellen, doch geht man sicherer eine schon fertige dramatische Figur (wie im Falstaff) zu nehmen. Goldoni geht nicht - Gozzi kaum, aber vielleicht - das ist also noch sehr zu überdenken. Vielleicht schreibst Du noch darüber...

[1] Bezieht sich auf Opernpläne.


Bei diesem nervösen Zustand von gestern, waren die Stunden Fahren und Spielen eine schlechte Kur. Als ich nämlich am sogenannten Berliner Bahnhof in Leipzig ausstieg, ging ich direkt zur Phonola...
Als ich dort für das festgesetzte Honorar das Pro-gramm gespielt hatte, mehr eine Zugabe, ein Zeugnis ausgestellt, 2 Photographien unterschrieben, Godowsky und mich selbst in der Maschine angehört und noch zu einer photographischen Aufnahme “an der Phonola” gesessen, war es _ 5 Uhr, also rund sechs Stunden seit ich den Anhalter Bahnhof verlassen. Bei dem “drückenden” Wetter, Resultat: Kopfweh. Das Zeugnis, das ich zu unterschreiben gebeten wurde, war schon fertig “getippt” und lautete: “Ich halte die "DEA" für die Krone der Schöpfung”. - Ich sagte: das würde mir kein Mensch glauben, und schrieb natürlich ein eigenes...
Ich wollte fast in Leipzig bleiben und eine Affiche versprach sogar ein glänzendes “Maifest im Palmengarten”. Um acht Uhr war ich so müde, daß ich das Sitzen in einer 1. Classe im Zuge für ein Paradies ansah, mir das Erwachen in Leipzig am Sonntag Morgen hingegen sehr unangenehm vorstellte. So nahm ich nach kurzem Entschluß den Zug nach Wien - und habe es nicht bereut...
Wien, 31.Mai 1908


...Ich schwitze an meinem Liebesduettchen - heute fängt es an zu “dämmern”. Sonntag und Montag war es ganz Nacht.
Ich tröste mich mit Flaubert - der hat sich gequält!
Wo bleibt da die Theorie von Genie und Leichtigkeit?
Diese ältere Ausgabe vom “Antonius” ist ganz ver-schieden von der letzten; und auch diese schon die Umarbeitung eines Jugendwerkes. Die drei Versionen nehmen die Jahre 1849-74 in Anspruch, 25 Jahre!
Als er die erste seinen Freunden vorlas, sagte er vorher zu ihnen: Si vous ne poussez pas des hurlements d’enthousiasme, c’est que rien n’est capable de vous émouvoir. Die Vorlesung dauerte vier Tage, worauf die Freunde, ermüdet, ihm sagten: Nous pensons que tu dois jeter cela au feu!
Darauf ruht das Buch sieben Jahre, wird dann zu seiner Zufriedenheit umgestaltet - nur der Scandalprozeß gegen “Madame Bovary” nimmt ihm den Muth, den zweiten Antonius herauszugeben. Dieser zweite ist der, den ich jetzt lese. Der dritte, “édition définitive”, kommt noch 18 Jahre später, vollständig verschieden.
Liest man von Mozart, daß er “Don Giovanni” in 6 Monaten schrieb, so schämt man sich seiner Langsamkeit: erfährt man von Flaubert’s 25-jährigen Mühen, so kriegt man Gewissensbisse über die eigene Flüchtigkeit. Nirgends, nirgends kann man in Kunstfragen eine Regel aufstellen. Jeder Federstrich fordert seine eigenen Bedingungen...
Im neuen Werke vermeidet man die alten Fehler, macht aber wieder neue, weil das Problem sich immer ändert... An jedem Anfang ist man wieder schüchtern und ungeschickt...
16. Juni 1908 - Wien


Es lag an dem Text. - Die “Malsitzung” mußte fort, sie hätte den Faden zerrissen. Nun ist das Duett fertig! Alles geht Schlag auf Schlag. Die Form wieder sehr abgerundet. Eben ist Thusman unvermuthet eingetreten und hat sein entsetztes “Aber!” in Falsett ausgestoßen. Jetzt habe ich noch drei Seiten Text zur Vollendung des Actes...
...Der “Antonius” ist interessant - was für ein gutes Ballet-Sujet wäre übrigens so eine Brueghel-Versuchung!
Von einem solchen Gemälde hat auch Flaubert den ersten Anstoß bekommen. - Ich glaube es ist ein kolossaler Stoff für ein Ballet!
Hätte man Zeit! Wäre ich nur 10 Jahre jünger!...
Vielleicht kannst Du jeden 2. Tag ein paar Zeilen schreiben, so daß Frage und Antwort einander ablösen...
Heute ist “Corpus domini” der 18. Juni 1908.


[Wien, 23-Juni 1908]
Liebe Frau Gerda. Dieser Brief ist nur für mich geschrieben und nicht abgeschickt. - Dein Ferromann.

Liebe Frau P.
Deine Bemerkung, ich wäre ein zu ernster Mann für eine komische Oper, gab mir zu denken.
Mir klingt sie wie ein Tadel, und da ich weiß Du meintest in diesem Augenblick keinen solchen, so muß ich sie auf eine Verschiedenheit der Idee vom Ernste zurückführen.
Ich empfinde viel mehr Ernst im Humor, als in tragischen “Spanpanaderln“. Mir sind die Meistersinger ernster, als die Cavalleria; Figaro als der Prophet; Leporello ist die Schöpfung eines ernsteren Geistes, als Fides; Don Quixote tiefer, als der Kampf um Rom. Mangel an Humor ist bei einem Dichter ein ebenso bedenkliches Zeichen, als Überwiegen des Pathetischen, wie bei V. Hugo.
Beethoven steht nur die psychologische Tragik an, ganz matt geräth ihm die Situationstragik. Die Situationstragik, die einen Conflict zwischen mindestens zwei Menschen erfordert, während die psychologische im einzelnen Menschen selbst spielt. Beethoven wäre der Mann für eine höhere komische Oper gewesen.
Aphoristisch: Vom Baume des Ernstes ist der Humor die Blüthe. Man sieht es an Shakespeare und an Ibsen.
Also ist es sehr anspruchsvoll, wenn ich eine komische Oper schreibe.


...Ich glaube daß de meisten Menschen natürlich sind: auch Neigung zur Verstellung ist eine Natürlichkeit. Du meinst mit “natürlichen Menschen” solche, die Deinem Wesen am ähnlichsten sind. Die klug sind ohne Arg und im Sprechen nicht literarisch. Und einen gewissen großen Zug der Empfindung haben.
Frau B. ist doch sehr natürlich; wenn Du aber so denken und schreiben solltest, müßtest Du Dich verstellen. Ysaye ist die Pose (die Du nicht leiden kannst) wahre Natur.
Ein Schriftsteller muß durch eine unendlich lange und complicirte Reihe von Verstellungs--Übungen gehen, bis er die künstlerische Natürlichkeit erreicht. Wie könnte Balzac 4000 Menschen wahr beschreiben - wovon ihm nur vielleicht 10 ähnlich sind - ohne sich zu verstellen?
Ein geborener Verbrecher, der tugendhaft lebt, ist unnatürlich, ein Jesuit.
Natürlichkeit ist eine große Stärke und darum zu be-wundern; Schwächere (nämlich die Meisten) müssen durch Bedingungen, Erziehung, Interessen sich selbst verläugnen. Unnatürlichkeit ist oft der Wunsch, wie ein gewisses Ideal auszusehen und Mangel an eigenem Gesicht.
Und endlich glaube ich: nur ein ganz Einsamer, ganz Freier kann ganz natürlich sein, und wer ist so günstig gestellt?...
Wien am 27. Juni 1908

Vorgestern, Donnerstag, am Schluß einer anstrengen-den “Klasse” kam Kapff und hielt mich noch 2 Stunden mit den pessimistischesten, verkrachtesten Gesprächen fest. Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe Nichts mit Leuten zu thun, die mit dem Leben fertig sind.
Das Stöbern in der Vergangenheit ist mir widerlich. Entweder hat man was gethan, wie man es nimmer kann; oder wie man es jetzt besser kann. Beide Erinnerungen sind irritirend.
Ich hatte weder Freundschaft noch Mitleid mit Kapff. Am liebsten hätte ich ihm einen Revolver geschenkt. Es war das erste Mal, daß ich mich so hart fühlte. - Ist das schlecht? - -- -
Gestern machte ich die drei ersten Acte der Brautwahl fertig. Es sind genau zwei Jahre seit dem Tage, an dem ich den Text beendete.
In Wien habe ich 80 Seiten der Clavierskizze geschrieben. Nun fehlt nur die Schlußscene. -...


(Verona,) 9. Sept. 1908
Man könnte Thränen weinen über den Zustand dieses Landes. Die Sonne scheint senkrecht herunter und blendet und drückt ohne zu erheitern. Die Menschen unbeschäftigt, sorglos, neugierig und unwohlwollend mustern und kritisiren den vorbeigehenden Fremden. Auf den Stufen schöner Paläste schläft animalisch das Volk. Die Magazine sind den meisten Theil des Tages geschlossen, mit Läden und Schlössern verrammelt. Die Frauen, ungebildet und ohne Geschmack, sehen weder rechts noch links und verrathen nur Unnaivität...
“O Italia, Italia mia,
o fosti tu men bella
o almen più forte!”


...Abends fuhr ich nach Parona, einem hübschen uralten Häuserfleck am Flusse wunderbar gelegen. Dort genoß ich den Sonnenuntergang und das Aufsteigen des Mondes im krystallklaren Himmel und Essen und Trin-ken im Freien... Die Hitze ist noch blühend. Ich fühle mich wohl, angenehm einsam. Denke immer an Euch in Liebe.
[Verona,] 9. Sept. 1908


Dritter Brief.
Die Städte sind Leichen, aber das Land lebt. Das beste Beispiel: Siena. Auch ich frage mich, ob die Städte zurückgegangen oder in der Renaissance stehen geblieben sind? Fast glaube ich das Letzte. Das Bürgerleben jedenfalls...
Genau gesehen, sind diese alten Gebäude nicht besser als unsere heutigen. Mit wenigen Ausnahmen. Die meisten sind sogar recht simpel. O Ketzerei! Aber in Italien sind die gegenwärtigen schlimm.
Ich glaube - und die Idee ist recht gut - daß wie in der Musik nicht das “Thema”, sondern das Zusammenwirken aller Mittel im Geiste des Componisten den Werth ausmacht, so auch der “Charme” von Italien in einer Unendlichkeit von zusammentreffenden Bedingungen besteht.
Und dieser Charme ist da. Wenn man (wie ich heute) Abends aus einer Theatervorstellung herauskommt, und gegen dieses Schwindellicht der Bühne, steht draußen der “unbeweglich” schöne Himmel; die Häuser sind durch Laternen unten rötlich gefärbt, durch die Ecken huschen Silhouetten vorbei und verlieren sich in unbegreifliche Winkel, der Mond triumphiert über fantastische Dächerformen, der laute Gesang läßt die Stille zum Bewußtsein kommen - es ist Nichts und doch mehr als anderswo.
Liebe Frau Gerda. Heute Abends dämmert in mir eine große Idee. Ich möchte diesem Italien eine Nationaloper geben, wie sie Wagner Deutschland gegeben hat und [wie sie] hier noch nicht ist. Ich fühle, daß ich es kann und daß es mein Lebenswerk werden soll... Mozart hätte der italienische Klassiker sein können, aber sie wissen hier kaum von ihm. Ich will sehr darüber denken...
[Verona,] am 9. S. 1908


...Ich habe über die italienischen Frauen ein bischen nachgedacht und bin zu der Ansicht gekommen, daß ihr Wesen aus Mangel an männlichem Verkehr entsteht.
Sie kennen nur ihre Brüder und Onkel; den harmlosen Onkel, den gefürchteten Onkel und den komischen Onkel. Wenn sie mit Freunden ihrer Brüder gelegentlich zusammenkommen, so sind gewisse Themen und gewisse Ausdrücke ausgeschaltet. Von Brüdern und Onkeln werden sie als Kinder behandelt und von den Freunden mit einer formellen Distance, die immer denselben Ton gibt.
Die Existenz der Männer außer diesem Verkehr bleibt eine Legende, die in ihren Mädchenträumen beliebige und unwahre Begriffe annimmt. Doch bleibt es immer bei Kategorien. Es gibt für sie “sympathische”, “hübsche”, “achtungswerthe”, und “gefährliche” Männer, Alles vom Hörensagen.
Die Frauen sprechen nur unter sich, und der Kreis dreht sich wie ein Uhrzeiger um die Ziffern.
Diese Zustände drücken mich sehr bei italienischen Reisegenüssen, wo die “Weiblichkeit” ausbleibt. -
Denn was hätte ich davon, wenn ich hier Frl. F. oder Frau G. aufsuchte? Schlimmer als Nichts.
Aber diese Reflexionen sind nur so “dazwischen”. Ich habe auch Anderes gedacht, z. B. meine Ideen über Cho-pin niedergeschrieben. Ferner habe ich eine Biographie von Leonardo gelesen, die - trocken wie sie war - mich doch sehr anregte.
Ich muß noch einmal (und zu Ende) diesen Meresch-kowsky lesen. Ich dachte, daß er (Leonardo) die ge-wünschte Figur für meine italienische Oper geben könnte. Der historische Hintergrund mit den Sforza’s ist groß und man könnte den Leonardo zu einem ähnlichen Mittelpunkte der Handlung machen, wie Hans Sachs in den “Meistersingern.”
Die Episoden, wie er am Hofe des Sforza die Festlichkeiten arrangirt und manches Kunststück dazu erfindet, erinnern ganz an die Rolle vom Faust beim Herzog von Mantova (?) im Puppenspiel, die auch Goethe im 2. Theil benutzte.
Das Milieu, hauptsächlich in Mailand, scheint mir günstig und ausgiebig. Ich werde darauf hin weiter arbeiten.
Vor Allem aber die Brautwahl.
Heute nacht nach Basel, wo ich Brief erwarte, endlich!...
Vierter Brief, am 13. Sept. 1908 [Mailand]


...Es war spiegelglatte See und eine milde Nacht. Wir kamen schließlich mit “Verfrühung” an. Der erste unmittelbare Eindruck von London war diesmal nicht sehr angenehm; ich sah nur eine Zusammenstellung von ganz kleinen Sachen - (so wie gewisse lange Symphonien, die “paar-Takt-weise” komponiert sind).
...Ergreifend wirkte auf mich der Aufsatz Vasari’s über Leonardo, schön in Sprache und Empfindung, wenn auch biographisch ganz kümmerlich.
Auch das Buch von Mereschkowsky hat gute Sachen (so z. B. das Tagebuch des Giovanni Boltraffio) - als Kunstwerk ist es nicht kühn und zusammenhängend genug, aber voll bester Absichten. Die Figur und die Epoche Leonardo’s gewinnen immer mehr in meinen Augen - sie scheinen mir das würdigste Nationalsujet abzugeben.
Ich werde dabei wohl bleiben und versuchen, eine neue und vollkommenere Theater-Tonkunst darauf zu bauen.
Ich möchte es dann mit aller Gewissenhaftigkeit arbeiten, vielleicht fünf Jahre lang. Denn ich fühle, daß sich ein reiferer und selbständigerer Mensch in mir geformt hat, wie ein neuer Zahn hinter den noch festen und gesunden vorderen wächst.
Die Fülle der Motive ist bei dem Sujet überreich. Wie liebenswerth ist es! Ich muß noch viel mehr davon wissen, ehe ich beginne.
Wie schön sagt L[eonardo] selbst: “Liebe ist Kenntnis einer Sache. Je tiefer die Kenntnis, desto mächtiger die Liebe”...
[London,] 5. Nov. 1908


[London,] Sonntag 8. XI. 1908
Ich habe mir das Buch des cultivirten Barbaren Mereschkowsky zu sehr zu Herzen genommen. Es war mir - besonders gegen Ende immer weniger möglich, es als Literatur zu lesen (trotz lobenswerther Anstrengungen des Autors, erinnert es oft an Baedeker) - noch als Quelle für meinen eigenen noch sehr dämmerigen Plan zu betrachten; - ein immer stärker wachsendes Mitgefühl für Leonardo gewann über Alles die Hand. Vielleicht irre ich mich darin, daß ich in dieser Gestalt einige Ähnlichkeiten mit meiner viel kleineren zu sehen glaubte und ich fiel schließlich in eine fast verzweifelte Traurigkeit. Noch heute stehe ich unter diesem Eindruck und finde es grotesk, daß ich mich schön anziehen soll um bald in dieser erbärmlich großen und runden Albert Hall zwei alte Stücke herunter zu spielen. Überhaupt verspricht diese englische Tournee viel moralisches Elend und es ist ein häßliches Bild, welches diese Thätigkeit gibt: ein immer neues Anfangen mit alten Kniffen, und das eigene Altern. - Noch wäre ich jung genug um ganz Neues zu beginnen, aber ich sehe kein Ende und zerbreche mir über einen Ausweg meinen müden Kopf. - Vielleicht ist es unrecht, Dir diese Stimmung mitzutheilen, aber wem soll ich’s sagen, wenn nicht Dir? Ganz herunterwürgen ist schwer.
Ich möchte noch gern einen Zipfel der neuen Tonkunst erwischen und womöglich selbst einen Saum daran nähen. Immer deutlicher fühle ich, wie künftig unser ganzes Gezirp als “prähistorische” Epoche bezeichnet wird. Es ist nur zu hoffen, daß die Menschheit noch rechtzeitig von diesem dummen Hang zu Raschheit, Massenhaftigkeit, und Besitz abbiegt, damit noch große Künstler entstehen können. So ein Übergang-Thier zwischen Künstler und Industriellen (auch im Kunstwerk selbst) wie R. S., zeigt auf böse Fernen. Und doch glaube ich fast, daß in der neuen großen Tonkunst auch Maschinen nötig und betheiligt sein werden. Also bringt vielleicht die Industrie auch ihren Theil zum künstlerischen Aufstieg bei.
“Il y aura des ailes!”
Mit dieser Prophezeiung von Leonardo, die gerade in unseren Tagen wahr zu werden beginnt, schließe ich etwas hoffnungsfreudiger...


[Newcastle,] 10. N. 1908
...Das Leben ist hier gräßlich, grau und freudelos...
In mir schläft alles, dabei träume ich aber unruhig, von unerreichbaren Dingen, großen Werken und schönen Ländern - und Ruhe!!...


(Train from) London to Leeds Nov. 17. 1908
...Ich habe dieser Tage oft in Albums meine Unterschrift vom Jahre 1901 getroffen und mich gefreut über den Weg, den ich seitdem gemacht habe...
In London ist - mit Berlin - das meiste musikalische Leben, doch nur Reproduction...


(Manchester,) 20. Nov. 1908
Auch hier traf Dein kleiner Brief im Künstlerzimmer ein mit seiner guten Wirkung. Das Concert verlief sehr befriedigend.
Richter hat dem Directorium zu verstehen gegeben, daß er nicht so jung ist wie vor 5 Jahren und nicht die ganze Arbeit mehr leisten kann. Doch versprach er, selbst für einen Stellvertreter zu sorgen. Dieser ist niemand Anderer als ein Schwiegersohn der Cosima, der gestern dirigirte. Inzwischen hält der “müde” Richter Theaterproben in London ab! - Die Frau des neuen Dirigenten ist Cosima’s Tochter Isolde... Diese Frau, die schon ganz weiße Haare hat, sieht schön, gut und gebildet aus. Sie war zu mir sehr freundlich: sagte mir, daß Frau Cosima mit vieler Freude und Dankbarkeit davon gehört hätte, wie viel ich für Liszts Compositionen gewirkt hätte und daß sie mir ihre Grüße schickte. Das war mir eine schöne Belohnung...
Abends vorher spielte hier Kubelik, mit Landon Ronald... Kubelik sieht von Weitem aus wie Beethoven und in der Nähe wie Director Reinhardt vom Deutschen Theater. Er ist klein und schmächtig wie Galston. Ich hörte ihn zum ersten Male und war überrascht, wie wenig Sensationelles dieser Geiger hat: eher gewissenhaft und monoton und nicht sehr reizvoll. Wer kann das Publikum enträthseln?...
Es ist schwer, zwischen hundert albernen kleinen Sorgen, die Stimmung zur Vollendung der Brautwahl zu finden, doch lasse ich das Werk nie ganz aus meinen Gedanken...
...Den Zeitungsausschnitt schicktest Du wohl hauptsächlich wegen der grotesken chinesischen Kaisergeschichte. Aber merkwürdig waren auf dem Blatt die Auf deckungen Sardous über Dante. Macchiavelli ist nicht ganz zu trauen - er war (trotz seines starken Geistes) ein bischen von der Art meines Vaters.
Ich lese eben das neue Buch A. France’s “l’île des Pingouins” wo es über die Geschichte sehr spöttisch hergeht.
Da es unmöglich ist, sich ein genaues Bild einer längst todten Person zu machen (selbst über Mitlebende erfährt man nichts Wahres), so ist es am Besten, wenn das Publikum sich ein Ideal formt, das erhebt und so an etwas Schönes glaubt. Die Legende scheint mir der versteckte Drang zur Vollkommenheit zu sein. So lassen wir den Dante, wie wir ihn verehren!...
[London,] 23. Nov. 1908


1909



Gestern strahlten Meer und Himmel, blau und gelb, Alles bewegte sich, flatterte, wehte im frischen Winde. - Heute ist es still und grau. So schön Triest ist, so ist etwas Entedelndes in der Atmosphäre; nie könnten hier große neue Gedanken entstehen und auch den Begabten drückt es zu Boden.
Ich fürchtete mich herzukommen - indessen Mama hat die Gefahr überwunden und Papa schleppt sich...
Diese Zeit ist schlimm, überhaupt Österreich! ich kann selten hier froh werden. Es hat zuviel gegen sich in allem Möglichen, aber dazu noch diese abgestandenen Erinnerungen...
Noch einen Verdruß habe ich gehabt. Zwei unbekannte italienische Herren haben ein Drama “Leonardo da Vinci” publicirt!!
Zwar ist es eine elende Pastete - aber meine Idee ist entjungfert, entweiht. That mir sehr leid. -...
Triest 12. 1.09


Ich bin recht traurig zurückgekommen. Ich werde immer einsamer und bin froh, wenn im Hotel-Zimmer Niemand klopft. Beschäftigung finde ich immer. Heute that ich schon alles Mögliche, unter anderem hab’ ich das rein geschriebene Klavierstück [1] nach Paris geschickt...
[Wien,] 13. Jan. 1909

[1] Nuit de Noël.


[Wien, 14. I. 1909]
Deinen lieben Brief erhielt ich in Triest, er that mir sehr wohl...
Dieser Anblick von den beiden Eltern im Bett mit einer spanischen Wand dazwischen, wird immer greller in der Erinnerung. Der Papa ist wie ein dreijähriges Kind, und wenn zwei Minuten keiner an seinem Bett steht, fängt er an zu schreien... Er ist schrecklich blaß, hält den Kopf ganz tief geneigt und hat fast keinen Blick mehr. - Arzt und barmherzige Schwester und eine unbeschreiblich häßliche Magd stehen abwechselnd um sie herum. Die Cousinen haben sich unendliche Mühe gegeben, besonders Carolina (sie wohnt wieder in Triest) ist unbezahlbar in Geschicklichkeit und Geduld. -
Das Wetter ist trübselig. Trotzdem ist in mir eine Art Frühlingsgefühl, das sich nicht niederdrücken last


(Lyon, le) 16. Févr. 1909
...Lyon ist schöner als Mailand und keiner kennt mich hier. Leider ist’s strenger Winter, Frost und Schnee.
Bordeaux ist eine nicht uninteressante Stadt. Das Culturniveau (wenn man von Paris kommt) aber sehr primitiv, provinzhaft. Die Kunst des “beau parleur” steht in hohem Ansehen. Natürlich die Weinbauinteressen im vordersten Grunde.
Solche Sätze, wie folgende, beweisen Beides:
J’avais fait suivre le Lafitte au Mouton Rotschild par le respect dû à son ancienneté et ne voulais pas déranger l’ordre nature!, d’autant plus que le maître (das war ich) donnait une préférence legitime au Lafitte: mais - entre nous, je trouve le Rotschild supérieur.
Das sagte der Präsident der Concertgesellschaft gelegentlich eines Déjeuners in seinem Hause...
Auffallend war im Concert die große Anzahl schöner und gutgekleideter Frauen. Natürlich war Alles, was Bordeaux davon besitzt, hier beisammen.
Ein alter Musiker, den ich schon bei Erard getroffen hatte, ein Mann von Kopf, Herz und großer Güte, bat mich, nach diesem Déjeuner, eine halbe Stunde in seinem Hause zu verbringen...
Er wohnt auf einem kleinen runden Platz, der gewiß über 100 Jahre steht und nur einstöckige Häuschen zeigt; rein und so still, daß weder Mensch noch Wagen vorbeikommt. Drinnen hat er es sehr hübsch und behaglich. Außer seiner Frau fand ich eine junge Dame von großer Schönheit und Vornehmheit des Ausdrucks, in tiefer Trauer gekleidet... Eine Gesangsschülerin. Und der Alte bat mich flehend und doch stolz, sie singen zu lassen.
Sie sang 4-5 Lieder von Fauré mit einer warmen, tiefen Stimme, großem Gefühl und Geschmack und einem sehr ausdrucksvollen Mienenspiel, Alles in den Grenzen der Noblesse: ein Bild der “Donna Anna” aus Don Giovanni.
Dieses kleine Zwischenspiel hinterläßt eine weiche, fast etwas fantastische Erinnerung: fantastisch dadurch, daß es ganz aus dem Typus unserer Zeit fällt und eher in die Epoche zurückführte, da der kleine Platz gebaut wurde. -...


[Mailand,] Freitag [19. Februar 1909]
Zwischen Leonardo und V. Hugo (von dem ich Les rayons et les ombres in Lyon fand) gestützt, wie Moses von den Propheten, kann ich oben bleiben, in dieser Stadt... Von Leonardo hört man immer Neues und Erstaunlicheres, er wird eigentlich entdeckt. - Der Band V. Hugo’scher Gedichte ist von vollendeter Schönheit, in Sprache - Gedanken - Form.
Unnachahmlich sind solche Verse:

“quant au destin, n’y songez pas.
Le ciel est noir, la vie est sombre.
Hélas! que fait l’homme ici-bas?
Un peu de bruit dans beaucoup d’ombre.”

Oder, wenn er von Bettelkindern sagt:

“Leurs mains rouges étaient roses quand Dieu les fit.”

Oder, wenn er “an einen großen Bildhauer” schließt:

“Ce que ces hommes-là font
dans l’ombre ou défont
ne vaut pas ton regard levé
vers le plafond.
-------------
Eux, esclaves des nains, toi, père des colosses!”

Von Leonardo fängt man erst an seine Schriften und Notizen wirklich zu lesen. Daraus entnimmt man, daß er bereits die Ideen des Aeroplans, der Schraube (Propeller) und des Taucherapparates ahnte.
Er wollte den Venetianern den “Isonzo” so reguliren, daß man künstliche Überschwemmungen bilden könntet die Feinde abzuhalten oder zu vernichten.
Man hat ihn Nichts machen lassen.
Und so ging mir durch mein Gehirn, ob die dramatische Idee nicht darin zu gründen wäre, wie ein Plan nach dem anderen versagt, Einer nach dem Anderen sich abwendet, “Er” aber stets einsamer und isolirter, einen immer höheren, freieren Aussichtspunkt bekommt, bis - mit seinem Tode - die höchste Weisheit erreicht wird und sich in einer Prophetic kundgibt. - Denn man will nicht nur eine dramatische Biographie. Chè te ne pare?

Sonnabend
...Der gestrige Abend war schön - den Leuten etwas zu hoch...


Genova, 27. Febb. 1909
...Die ganze Reise - seit Bordeaux - ist durch Kälte und Schnee charakterisirt. Sogar in Nizza schneite es. Die Züge sind hier langsam, umständlich, immer überfüllt, immer verspätet, oft kommt das Gepäck nicht mit...
Die Reise nach Nizza und zurück zeigte mir zum ersten Male die Küste, die man “la Riviera” nennt. Trotz des häßlichen Wetters schien es mir eines der schönsten Länder, die ich jemals sah. Und ich nehme mir vor, es mit Dir, einmal, in Ruhe zu genießen... Vorne das Meer, hinten malerische hohe Berge, dazwischen Terrassenland mit Palmen, Citronen und Wein; überall, abwechselnd, alte Stadt-Pyramiden, legenden-grau und sonnige Villen.
Nizza - das ich nur ein paar Stunden Abends sehen konnte - scheint ziemlich amüsant, lebhaft und den alleräußerlichsten Neigungen ergeben zu sein. Es liegt allerdings zaubrisch. Monte Carlo ist - wenn man von hier hinreist - vorher, so daß ich einen Blick auf diesen Fleck monströser Kultur werfen konnte, den die Natur auch generös geschmückt hat.
Die Genueser rühmen mehr die Küste, die sich von hier nach Toscana zieht und der .... (hier wurde ich unterbrochen von dem Impresario und nun weiß ich nicht mehr, was ich sagen wollte.)
Auf der Reise nach Nizza hatte ich einen Traum. Darin schien es mir, daß ich, auf dem Lande, von einem Spaziergang in aller Frühe zurückkam und zwischen 6 und 7 Uhr morgens zu einem kleinen Ort gelangte, der das Aussehen einer Straße (nach Art eines Vorstadt--Boulevards) hatte. An einem offenen Parterre-Fenster sah ich Dr. Leopold Schmidt stehen, mit einem halben Cello in den Händen. In der Mitte von vorne nach hinten und von oben nach unten durchgeschnitten war dieses Cello, wie eine Birne die man mit einem Tischnachbar theilt. Als ich frug, was er machte, sagte Dr. Leopold Schmidt: “Ich studiere den Ursprung der musikalischen Töne.” Ich finde, es ist Witz in diesem Traum.
Schade, daß es hier so kalt und grau ist.
Ich glaube, in Italien kann man nur in Rom, Bologna und Mailand einigermaßen seriös concertiren, besonders auf dem Clavier.
Diese werden jetzt die nächsten und letzten Städte sein. Treviso - Nizza - Genova waren künstlerisch unbefriedigend...
Es ist ein Gefühl von gegenseitigem Mißverständnis, zwischen dem was erwartet wird und was ich gebe und was wiederum das Publikum - stutzig geworden empfängt.
Ich habe solche Sehnsucht nach Deinen Briefen.
Außer den Anzolettis ist in Italien niemand, der mich kennt - man sieht mich wie ein fremdes Thier an. Eine traurige Distanz ist zwischen mir und den Italienern, denen ich zu lange und zu weit fort war und eine fremde Cultur zeige. -
Zu der italienischen Ausgabe der Aesthetik werde ich eine besondere Vorrede schreiben...
Papa ist wieder aufgestanden!!


...Gestern hörte ich den dritten Act der “Aida”. Es war rührend, komisch, traurig und auch schön.
Die wie in Schaufenstern ausgestellten Damen und das mitsingende Herrenpublikum! Der Sänger ist die Hauptsache. Ein schöner Ton, eine gute Cadenz, bums, Enthu-siasmus, Unterbrechung, bis!...
3. März 1909. Roma


[Rom, 6. März 1909]
...Ich bin eben jetzt auf Reisen sehr nervös und habe das fortwährende Gefühl, daß mir die Zeit entschlüpft (wenngleich ich sie selbst unter schwierigen Umständen nach Möglichkeit ausnütze).
Das macht mich manchmal bitter (wenn auch nicht gegen Dich) und infolgedessen ungerecht.
Ich werde versuchen es nicht mehr zu sein und mich zu freuen, wenn Du Dich freust. Gebe ich mir doch alle Mühe, nach verschiedenen Seiten richtig zu handeln, und mein Leben ist in der Hinsicht ziemlich complicirt...
Schon der Conflict zwischen dem, das ich thun möchte und könnte und dem was ich thun muß, ist sehr aufreibend und hält mich fortwährend gespannt.
Aber vielleicht ist so Alles zum Besten und wer weiß ob die Energie eben dadurch nicht erhalten bleibt und sogar gewinnt!...
Was Benni angeht, so habe ich wieder an ihn gedacht...
Lenau ist keine Lecture für ihn, es ist Gift, wie Schopenhauer und andere liebenswürdige Verzweifler. Er soll nur lesen, was ihn anspornt, nicht was ihn entmuthigt.
Er soll weiter Shakespeare lesen, das wirkt auf Formensinn und Fantasie und rein literarisch.
Überhaupt alles was nicht pessimistisch oder erotisch ist und vor Allem, was (außerdem) künstlerisch gut ist.
Don Quixote, Goethes Gedichte, den Kleist, Gottfried Keller, 1001 Nacht (allerdings erotisch, aber so, daß es gegen das Wunderbare in 2. Reihe kommt), das Leben Benvenutos, Dickens und Edgar Poe, den frühen Ibsen, die deutschen Romantiker; nur nicht diese schwarzen Kopfhänger und Selbstmordstifter, keinen Lenau, Schopenhauer, Werther, Leopardi “the suicide Club” der Literatur.--
Ich habe eine kleine autobiographische Skizze in italiescher Sprache verfaßt und an Anzelotti geschickt, die auf 4-5 Briefbogen bis zu meinem 6. Jahre geht. Sie ist ganz amüsant und zum Theil humoristisch geschrieben...
Ich sehne mich nach Hause!!


(Bologna,) Domenica 7 Marzo 1909
...Ich habe schwere Tage, wenn auch durch sehr herzlichen Empfang überall erleichtert...
Sgambati war sehr lieb zu mir und lud mich zum Frühstück [ein]. Nach der Sonate von Liszt küßte er mir die Hand und sagte, daß ich ihn ganz an den Meister erinnerte und viel mehr, als dessen wirkliche Schüler...
Hier in Bologna sind wieder Tagliapietra und Anzoletti.
Es ist die Zeit der Wahlen (le elezioni) und ganz Italien in Aufregung. - Es ist nur Parthei--Agitation; wie auch die Sache ausfällt, das Land wird sich nicht indem...
Liebe Gerda, ich schreibe nicht viel, weil ich sehr müde bin; ich denke an Nichts mehr, als an Züge, Programme und das Ende der Reise. Ich bin aus Allem heraus, nur das Clavierspiel geht gut, ich spiele fast gar nicht mehr mit den Händen. Dieses Spiel wirkt überall gleich stark, was ich auch vortrage...


(Milano, le) 9 Mars 1909
...Ich komme eben frisch von einem Besuch bei Boito. Man hat die Idee angeregt, die Brautwahl italienisch zu geben und ich ging zu ihm, um Rath. Boito ist nicht mehr jung und denkt vor Allem an das, was ihm selbst zu thun übrig bleibt.
Überdies scheint er jetzt, nach fast 40 Jahren!, ernstlich mit seinem Nerone zu einem Schluß zu kommen.
Trotz allem war er freundschaftlich interessirt für das, was er durch mich hörte. Er stellte die Sache als ziemlich leicht dar.
Meine Ansichten trafen mit seinen zusammen. Über dramatische Musik, über Wagner. Er weissagte sich davon Gutes für mein Werk.
Die erste Schwierigkeit ist die Übersetzung, und vielleicht die größte. Auch kann man damit viel Zeit verlieren. Das Interesse des Verlegers und des Theaters schien ihm dagegen recht sicher. -
Es war eine angenehme Stunde mit einem tüchtigen, geistvollen und wohlwollenden Mann.
Gestern hatte ich einen sehr anstrengenden Tag, vier Stunden Reise und 2 Stunden Vorbereitung für ein relativ neues Programm. Zwei andere Stunden dauerte das Concert... Mit dem “Leicht-Nehmen” geht es nicht, die Leute erwarten zu viel und überall sind autoritative Männer dabei. Im Gegentheil, ich habe mir die beste Mühe gegeben.
Roma, Bologna und Milano sind auch sehr gelungen.
Heute reise ich nach Triest - noch vier Stationen bis Berlin!!...


[Wien,] 14 März 1909
...Seit dem 4. März bin ich täglich in Bewegung gewesen. Ich bewundere selbst meine Elasticität.
Am 4. Concert in Rom.
5. nach Bologna.
6. früh angekommen und Concert.
7. Zweites Concert.
8. nach Mailand und Concert.
9. nach Triest.
10. Mittags angekommen und Concert.
11. Reise nach Fiume (5 Stunden), Concert, nach dem Concert abgereist nach Pest.
12. Mittags angekommen, Abends Concert.
13. Nach Wien gefahren.
Pest’s Erfolg war wie überall in diesem Jahre...
Ich bin so außer jedem normalen Zustand, daß ich nicht recht fühle, wie ich mich befinde. Ich glaube, ich bin angegriffen, das merke ich an dem wenigen Denken seit einiger Zeit ... aber ich glaube, daß ich am 4. Tag zu Hause wieder ich selber bin.
Ich wollte Dich nicht ohne Nachricht lassen, fühlte die Notwendigkeit Dir zu schreiben...

Ich schreibe Dir noch einmal und noch heute. Eben komme ich von Bösendorfer, den ich besuchte. Ich erinnerte mich, daß er einen Flügel (in Gedanken an mich) gebaut hatte und daß ich versäumt hatte, ihn zu sehen.
Ich habe mich nach und nach gewöhnt, auf Reisen die Pausen auszunützen und trotz der außerordentlichen Arbeit die ich gethan habe, wollte ich den guten Alten noch erfreuen. Ich hatte selbst viel Freude, denn das Instrument ist ungewöhnlich gut, groß und schön.
Bösendorfer fand ich sehr frisch und froh wie ein Kind, ohne im Geringsten kindisch zu sein. Möchte er noch lange so bleiben können! Und obwohl ich alte Leute nicht sehr mag, so muß ich sagen, daß ich einen großen Trost hatte, meine Mutter auf zu finden. Obwohl schwach und sichtlich noch zarter geworden, war sie klar und geistig beweglich und so gut! Sie segnete mich indem sie sagte: Ich segne dich, der du deiner Mutter so viel Freude und Hilfe bringst. Gott wird es Dir lohnen und Alles wird Dir gelingen. -
Auch von den beiden Sgambati und Boito erlebte ich nur Schönes.
Man könnte sagen: im Alter ist Wahrheit, denn es bleibt der Kern des ganzen Menschen allein zurück und nicht Kraft genug, ihn zu verdecken...
Ach, ich bin so müde und so aus dem Geleise meiner geraden Linie!...


Nach Varese
[Berlin,] 20. Juli 1909
...Heute den ersten Entwurf zu einer Abhandlung über “Melodie-Bildung”. Keine Zeit zu Allem! - Die “Diabelli-Variationen” wieder durchgesehen. FeineAufgabe...


Nach Varese
[Berlin,] 21. Juli 1909
...Morgen packe ich den alten Spitzbuben Manasse ordentlich an...
Die Tage rollen wie Phonola-Streifen vorbei; ist man sehr aufmerksam und bei der Sache, so kann man einiges Interesse und Ausdruck hineinbringen; das Versäumte ist vorüber und wenn man nicht aufpaßt, die Rolle, fast ungehört, zu Ende. - Ich lese jetzt Plato...


Nach Gargnano am Gardasee
[Berlin, 28. Juli 1909]
Heute enthält der “Lokalanzeiger” die Nachricht vom Kanalüberfluge Blériots. Ich kenne jetzt schon ein gut halb Dutzend von Namen solcher “grandi uccelli”, und es ist Hoffnung, daß die neue Jugend durch die neue Laufbahn (“Flug”-bahn) vom Clavierspiel abgelenkt wird. Aber die Juden werden beim Clavier bleiben, denn es ist ungefährlich, und sich darauf beschränken, zu spielen:

Si oiseau j’étais
à toi je volerais.

...Um zu besagtem Vogel zurückzukommen, so scheint mir die Überfliegung des Kanals eine schöne und wichtige That - doch übertrifft sie nicht jene Wright’s; sie ist nur effektvoller. -...


(Firenze,) 7 Agosto 1909
...Diese Stadt ist nicht so schön, wie der Ruf von ihr sagt. Möglich - daß zur Zeit der Erbauung ihrer Hauptwerke diese originell und unerhört prächtig vorkamen; besonders den Florentinern selbst, die niemals an patriotischer Schüchternheit gelitten haben...
Was noch bleibt an Größe und Eigenart des Eindrucks ist nur die Kuppel des Domes, wenn man sich so günstig postirt, daß man die Verkürzungen der 7 tragenden Halbkugeln (d. h. die Hälfte von ihnen) sieht und dabei die Façade vergißt. - Die Skulpturen sind oft schlecht, und die guten von ihnen versteckt... Einige ungenannte Häuser haben wunderbare Proportionen und könntet richtig studiert und angewendet, zu einer schönen modernen Stadtarchitektur führen. Messel hat ein wenig davon gethan. Nur steckt er in seiner Zeit, was das Kokettiren mit Empire und Biedermeier betrifft.
Phänomenal war die Geistesblüthe in Toscana und sie allein erklärt die heutige Erschöpfung.
An Dichtern von Dante und Boccaccio bis Carducci -
an bildenden Künstlern von Giotto, Michelangelo, Leonardo, Benvenuto [Cellini], Verrocchio, Donatello und noch eine ganze Milchstraße kleinerer Sterne -
an Gelehrten Lionardo, Galileo und hervorragende Mediciner und Juristen -
an Musikern Guido Monaco, Monteverdi, Cherubini bis - Puccini (!)
Herrscher, Cardinäle und Päpste, ein Macchiavelli - auch große Feldherren - man kann sogar Napoleone Buonaparte zu den Toskanern rechnen -
Aber jetzt: ein kleines Volk von erstaunlich ungebildeten Provinzkaufleuten, die eine Sperre von Vorurtheilen, veralteten Gebräuchen und Ansichten, lächerlich viel stehende Redensarten zu einer Art Insel der Cultur macht. -
Aber das Land ist himmlisch...
Eine kleine Episode, die erzählt zu werden verdient.
Gestern Abends saß im Restaurant Bonciani nur ein Gast. Er war Priester, trug ein goldenes Pince-nez und sich selbst sehr sorgfältig, fast elegant. Nicht weit von fünfzig, von ziemlich geistreichem Gesicht, kahl in der Mitte, die übrigen Haare in fantastischen Büscheln an der Seite, las er in einer französischen Zeitung. - Er sprach mich in erzwungenem Italienisch an. Draußen spielte eine Straßenkapelle und die Kellner waren an die Thüre geeilt. “La puntualità del servizio è corrotta dall’entusiasmo per l’arte”, sagte er, sich an mich wendend.
Ich fand den Anfang ziemlich versprechend und ließ mich, von einem Tisch zum anderen, in das beabsichtigte Gespräch ein.
Er war vor 32 Jahren schon in Italien gewesen und hatte von damals - wie er sich ausdrückte - “un dolce ricordo” bewahrt. Er bemerkte, daß er damals noch nicht Priester gewesen und so schloß ich - ohne weiter zu fragen - auf eine Frauengeschichte. “Vor 32 Jahren! Damals waren Sie noch nicht geboren!” In diesem Augenblick warf der alte Kellner, der mich bediente, ganz kurz und trocken ein: “Lei ha quarante due anni”. Das berührte mich merkwürdig.
Dann schritt der Priester zum Lob des Weines und entwickelte eine schöne rethorische Eloquenz.
“Questo vino” - bemerkte er - “non vale il lachrymae Christi, non vale il Falerno, non vale il vino di San Marino - ma è un vino pregevole”. Ich dachte an l’Abbé Coignard. Schließlich war er bei der Musik und wollte selbst Componist sein. Die Feigen waren gegessen und ich stand auf. “Arrivederla un giorno o l’altro”, sagte ich. “No”, sagte er ganz bestimmt und tippte mit dem Finger auf den Tisch, “questa sera”. (Hm) “Ich weiß nicht”, sagte ich darauf, “Adieu”; erhob und verbeugte mich...


(Bâle, le) 12 août 1909
Ich sitze in dem Drei-König-Gasthof zu Basel und fühle mich heute so sehr wohl, gottlob. Sonnig und frisch ist es draußen und drinnen und ich bin wie ein neulächelnder Convalescent.
Der Satz, daß man sehr groß sein muß um Großes zu ertragen (wenn auch in der Form von Genießen) stimmt überall: und stark muß man sein, um Starkes angenehm zu empfinden. -
Die Temperatur und die “strenge Fruchtbarkeit” Italiens waren mir, in dem Zustand, der mich hinbrachte, zu stark.
Italien, im Sommer, kann man nur nach einer Er-holung - nicht als Erholung selbst - auf sich wirken lassen. - Dann - allerdings! Aber ich brauchte Kräfte zu sammeln und nicht welche anzustrengen und es schlug mich fast nieder. Doch fühle ich heute - in einer Art Reaction - einen guten Effekt.
Auf dem Wege fand ich eine treffliche und reizende Ausgabe von Cazotte’s verliebtem Teufel.
Die Ausstattung gewisser Bücher ladet mehr zum Lesen ein, als die anderer. Diese hier - in den 40er Jahren herausgekommen - “wirbt” förmlich um Leser. – So habe ich mich leicht in Cazotte hineinführen lassen und werde vor dem Nachhausekommen mit dem Buche fertig.
Das erste Kapitel ist “captivant” (was mehr ist, als “fesselnd” im Deutschen) und erweckte den Gedanken an eine singuläre Oper - oder eine Pantomime.
Wer weiß!? - “Le Diable amoureux” ist schon ein schöner Titel.
Liebe Gerda, wenn ich an Dich, an Euch, an meine Thurmkammer und an das “ungefährliche Italien” denke, dann werde ich ein guter Mensch.
Ich schleppe mich noch zwei Stationen, oder so, und dann wollen wir es schön haben!


[Manchester,] 3. Novbr. 1909
...Manchester sieht aus wie immer. Unten schlüpfriger Boden, schwarz und glänzend, mit häßlichen Menschen und Lastwagen belebt, die Gott weiß warum existiren, gehen, rollen und knarren - der Genius der Heiterkeit in unerreichbare Fernen verbannt - die Dächer und Thürme der Stadt in graue Nebel gespensterhaft verschwindend. Zu welchem Zwecke Uhren an den Thürmen sind? Man kann das Zifferblatt nie lesen.-...
Ich fühle mich so stark und fruchtbar und leide, daß ich nicht Alles und gleich in’s Werk setzen kann.
Nun gibt es noch eine kleine Menge geringer Arbeiten zu thun, die Liszt-Polonaise und die neue Notenschrift herauszugeben, und Ähnliches.
Den Gang über die Wüste möchte ich im “Zauberer” doch scenisch darstellen, wenn es geht: vielleicht zuerst eine leere Bühne mit einer wirksamen Dekoration, dann der wandernde erschöpfte Kassem; unsichtbare Stimmen der lockenden und der warnenden Geister des Zauberers und der jungen Frau. Das Kohlenbecken in der ersten Scene muß, von Anfang an, da sein; anstatt daß der Zauberer Gold daraus zieht (was zu wenig eindringlich für den Zuschauer ist) verwandelt sich das ganze Becken - unter dichtem Rauch - in eine prunkhafte goldene Statue des Buddha.
Solches und Anderes muß noch überlegt, verfeinert und vergrößert werden, auch in den Worten.
Wie denkst Du darüber?
Bitte, schicke mir ein Exemplar des Textbuches auf die Reise, nach Deutschland...
Ich warte nur auf den Moment wo ich meinen Fuß in Vlissingen auf Land setze...


(Köln,) 8. Nov. 1909
Es war anstrengend, von Bradford nach Cöln...
Die Fahrt war wie öl, nur anfangs durch Nebel verzögert. Wir fuhren zwar bei klarem Himmel ab und da genoß ich das merkwürdigste Bild, vielleicht meines ganzen Lebens. Es war eine große Sternenpracht und ich versenkte mich in ihre Betrachtung. Und - höre! - anstatt daß ich den Himmel wie sonst schaute, nämlich als eine concave Halbkugel mit Lichtlöcherchen in der Decke, - sah ich auf einmal den Raum unendlich nach oben und die Planeten schwebend darin, höher und tiefer, näher und entfernter, in Gruppen, Kaskaden, von verschiedenen Lichtern, Farben und Größe. Das hat mich ganz ergriffen, und als ob der Mensch nicht dürfte einen solchen Einblick in das Mysterium thun, erhob sich plötzlich von allen Seiten eine Nebelwand und - mein Schatten fiel auf sie! Das war ein Erlebnis.
Und noch eine Reihe kleinerer Freuden war mir vergönnt... In London sah ich ein bestrickendes Bild des großen Pitt - so etwas von Klarheit und Intelligenz des Blickes ist mir noch nicht begegnet. Fast dachte ich, dass die Oekonomie der Natur es hält, wie die der Erde mit dem Reichthum. Es müssen Tausende geschmälert werden, damit der Eine so besonders ausgestattet werde. Nämlich so (falls ich es nicht klar sagte) - es ist eine gewisse Quantität Intelligenz für die Menschen bestimmt und sie ist ungleich vertheilt.
Endlich erhielt ich heute den ersten Act der Brautwahl in der Übersetzung von Anzoletti. Sie ist außergewöhnlich. Die Sprache ist großartig und das Verständnis erstaunlich. Ein heller Kopf! Mit wenigen Änderungen wird sie sich der Musik anpassen und diese wird vielleicht noch besser im Italienischen klingen... Diese Brautwahl hat scheinbar Glück. Auch Egon hat sich freiwillig erboten, den Klavierauszug zu machen, was mir sehr wichtig ist.
Schade, daß ich alle diese Dinge jetzt nicht ruhig und beharrlich zu Ende führen kann! Das allein thut mir weh.
Weißt Du, daß das Petrarca-Sonett großen Erfolg im Gewandhaus hatte? Senius sang es.
Oh, Columbus!!...


(Budapest,) 3. Dec. 1909
Auf der Nachtreise von Berlin nach Wien, vom 30. Nov. zum 1. Dec., traf ich Herrn Hertzka. Hatte schon lange den unmistakablen österreichischen Künstlermann hin und her eilen sehen, Alles in flatternder Bewegung an seinem höchst beweglichen Ich, Haar und Bart, Kravatte und Mantel. Endlich hielt er es nicht mehr aus und stellte sich vor: Hertzka, Director der Universal-Edition, A. G. Wien. - Und da spann sich das Gespräch bis in die Nacht hinein und wir trafen auf manches Gemeinsame. [Wir sprachen] von des Wohlt. Claviers zweitem Theil, von der Brautwahl und endlich auch von Schönberg. Er wollte alles machen.
Früh in Wien bekam ich Besuch von Bösendorfer. Frisch und klug, herzlich und offen war er: sein Kommen that mir sehr gut...
Abends dann, im Concert, den traurigen Eindruck vom alten und kranken Kapff, dem ich 100 Gulden schenkte. Ich konnte das Elend nicht sehen und es war mir als ob ich eine Schuld bezahlte... Der Erfolg war enorm. Ich wurde sechs mal gerufen.
Früh nächsten Tages nach Pesth. Habe hier außergewöhnlich gut gespielt...
Und jetzt - nach Lemberg und bald wieder in Berlin; es war ein bischen viel für diese zwei Tage, ich bin ordentlich geschüttelt und gerüttelt und habe auch beim Spielen (namentlich hier) viel hergegeben. Wie sich das im Leben häuft, je weiter man darin kommt!
Wie viel haben diese beiden Tage geboten! Ich habe die Empfindung von zwei Wochen. Ein großer, aber schwerer Reichthum. Die Menschen nehmen einem sehr viel, indem sie denken daß sie geben. Bald - glaube ich - werde ich zur Einsamkeit reif sein...
Ich küsse Dich in Gedanken innig, denn Du allein stehst fest, in diesem ganzen Durcheinander...


1910



Nach New York
[Chicago,] 15. Ja. 1910
Meine Fenster gehen auf den See und ich schaue über eine unendlich scheinende Eis- und Schneefläche. Eine weiße Wüste! Grenzenlos und hoffnungslos. Und ebenso schwarz ist, hinter mir, die Stadt.
Ich sitze den ganzen Tag im Hotel; meine ernsteste Beschäftigung ist: die Dampfhitze zu reguliren.
Das Resultat meiner Künste ist, daß ich zwischen Kopfschmerzen und Frieren schwanke. Der Moment, wo der Kopfschmerz aufhört und das Frieren beginnt ist ja “ganz scheen”, würde Caufall sagen.
Ich versuche auch andere Arbeit, aber nur zweiter Klasse.
Middelschulte bringt mir heute einen Aufsatz von Bernhard Ziehn über die unvollendete Fuge von Bach. Kommt à propos.
Diese beiden Leute sind bemerkenswerth und ich habe - um die Zeit auszufüllen - einen hübschen Aufsatz über sie geschrieben, für die Signale, und ihn betitelt: “die Gothiker von Chicago, Ill.”
Morgen geht es nach St. Paul...
Von Minneapolis nach New-York ist es so weit, wie Berlin-Petersburg! Geduld...


Nach New York
...St. Paul ist eine nette Stadt, schöne Winterstimmung. Hier ist es wieder schlimm. Minneapolis ist vor genau nur 50 Jahren gegründet und hat 320tausend Einwohner. Das sind die Wunder der neuen Welt...
Ich studiere wieder Kontrapunkt, wozu mich Chicago sehr angeregt hat. Es ist eine schöne Waffe, die man muß handhaben können.
Es ist aber schwer, sich zu sammeln, bei ewig-neuen Zimmern und Umgebungen...
[Minneapolis,] 20. Ja. 1910


Nach New York
...Den Plan zur Fantasia contrappuntistica (über Bachs letztes und größtes Werk) habe ich geändert. Ich werde keine Fantasie vorausschicken, sondern alles Fantasieartige in der Fuge selbst anbringen. Es wird so Etwas zwischen C. Franck und der Hammerclavier-Sonate, mit einer eigenen Nüance.
Ich vermisse Dich und weiß nicht, ob es besser ist oder nicht, daß ich Dich noch eine Woche in America weiß, ohne Dich erreichen zu können. Du bist so gut gewesen und hast mir Alles erleichtert und schöner gemacht...
Alles Gute mit Dir. Bleib’ froh - ich glaube, es wird von nun an gut gehen...
am 19. Febr. 1910. Cincinnati


Nach New York (Dampfer “George Washington”)
(Louisville,) 22. F. 1910
...Die Reise nach Kansas-City dauert nun, von heute Abends, 24 Stunden! Wenn Louisville der Anfang des Südens ist, dann verspricht es Schlechtes. Schmutz, schlechtes Hôtel, undecente Halle und Negervolk niederster Sorte.
Es ist unnötig (doch muß ich es sagen!), Dir Alles, Alles, was gut und angenehm ist, auf die Reise mitzuwünschen. Du läßt hier eine Lücke und die goldenste Erinnerung...
Sei ohne Sorge über mich, meine Arbeit hält mich aufrecht. Die Fuge wird monumental. Dann gehe ich gleich an die Oper...


(New Orleans,) den 27. Feb. 1910
Als ich das Telegramm von Hanson erhielt: “Gemahlin bei herrlichem Sonnenschein abgereist, Abschied von der prächtigen Frau schwer”, saß ich in Kansas City und hatte Herzkrampf (moralischen), und der ist geblieben alle diese Tage...
Inzwischen erhielt ich Deine beiden, sehr lieben und interessanten Briefe; die praktischen Winke habe ich mir genau gemerkt, und für Mahler schreibe ich jetzt einen kleinen Führer zur Turandot. Ich glaube, daß ich die Probe hören kann, und die Idee erfrischt mich; wenn Du das hier liest, wird es gerade vorbei sein...
Gestern Abends, nach weiteren 27 Stunden Reise, kamen wir hier an.
Der Süden!
Es ist ein immer wieder neuer, überraschender und unbeschreiblicher Zauber. Ich bin gegen den Wechsel von Scenerie schon abgestumpft, aber hier packt es mich von Neuem und bei der Vorstellung, am Golfe von Mexiko zu sein, prickelt das Blut - wie bei einem Neuling - mir im Leibe.
Sofort stellt sich eine Empfindung höchst berechtigten Nichtsthuns ein, wie in Italien. Wir spazierten bis Mitternacht, ohne Überzieher, herum; das Zubettgehen war ein harter Entschluß, und die Nacht war lebendig und protestirte gegen den Schlaf. Alles spielt sich auf der Straße ab, alles ist offen, die Negerbevölkerung ist sehr zahlreich, sonst aber hört man alle Sprachen, sieht Typen aller Länder, und das amerikanische business-man-Gesicht macht hier eine ebenso styllose Figur wie der einzige Sky-scraper, welcher mein Hotel ist...


Dein Brief vom Schiff hat mich ganz weich gemacht.
Heute ist der erste März. Ich hatte mir vorgenommen, diese Monstre-Fuge im Februar fertig zu machen und es ist gelungen, aber ich thue es nicht wieder!
Ich schreibe Dir, diese gute That zu melden...
New Orleans 1. März 1910


(Atlanta,) 3. Mz. 1910
New Orleans erfüllte nicht ganz die Erwartungen, denn 1. ist das Wasser noch 100 Kilometer entfernt, 2. ist das Klima grausam. Es ist wie eine exotischere Schwester von Triest...
Wozu plagen sich hier die Menschen! Kein Wein, kein Theater, keine Verbindung mit der Welt (selbst NewYork ist hier wie Ausland) - und doch! nicht nur das Geld hält sie fest, wie alle einstimmig behaupten: der Süden!
Das Weiche, Warme, die dampfenden Abende, der ewige Sommer, die eigenen, fast nur aus offenen Veranden bestehenden Häuschen, die zahlreiche schwarze Dienerschaft, die jeder halten kann und die noch Sklavencharakter bewahrt. - Die Frauen sind schön und, ich glaube, der Mittelpunkt der Interessen - außer den Geschäften...
Das war wieder eine der schlimmsten Städte und ich bin froh, wenn ich heraus bin...
Die Fuge ist meine wichtigste Clavier-Arbeit (außer dem Concerto) - ich habe noch 2 Tage daran rein zu schreiben. Sie besteht aus:

Erste Fuge
Zweite
Dritte ... und Durchführung der Drei
Intermezzo
Erste Variation
Zweite Variation
Dritte Variation
Cadenz
Vierte Fuge
Coda.

Du siehst die ungewöhnliche Anlage. Jede Note “sitzt”.
Deine lieben Briefe lese ich wieder, bis ich neue bekomme...
Heute siehst Du Land!
Dein Hiersein war ungewöhnlich schön; vielleicht, daß Du Dich zu Hause auch freuen kannst. -...
Gestern erhielt ich das definitive Schreiben aus Basel. Die Sache ist in Ordnung. Auch das “Concerto” wird gemacht. -
We have many a good thing to look forward...


(Dayton,) . März 1910

Das Reich der Musik
Ein Nachwort zur neuen Aesthetik

Kommt, folgt mir in das Reich der Musik. Hier ist das Gitter, das Irdisches vom Ewigen trennt.
Habt Ihr die Fesseln gelöst und abgeworfen? Nun kommt. - Es ist nicht so, als wenn wir früher in ein fremdes Land traten; bald lernten wir dort alles kennen und nichts überraschte uns mehr. Hier wird des Staunens kein Ende und wir fühlen uns doch von Anfang an heimisch.
Noch hört Ihr nichts, weil Alles tönt. Nun beginnt Ihr schon zu unterscheiden. Lauscht, jeder Stern hat seinen Rhythmus und jede Welt ihren Takt. Und auf jedem der Sterne und jeder der Welten, schlägt das Herz jedes einzelnen Lebendigen anders, und nach seinem eigenen Müssen. Und alle Schläge stimmen überein und sind ein Einziges und ein Ganzes.
Euer inneres Ohr wird schärfer. Hört Ihr die Tiefen und die Höhen? Sie sind unmeßbar wie der Raum und unendlich wie die Zahl. Wie Bänder ziehen sich ungeahnte Scalen von einer Welt zur anderen, feststehend und ewig bewegt. Jeder Laut ist ein Centrum unermeßlicher Kreise.
Und jetzt offenbart sich Euch der Klang! Ungezählt sind seine Stimmen, ihnen verglichen ist das Säuseln der Harfe ein Gepolter, das Schmettern von tausend Posaunen ein Gezirp.
Alle, alle Melodien, vorher gehörte und ungehörte, erklingen vollzählig und zugleich, tragen Euch, überhängen Euch, streifen Euch - der Liebe und der Leidenschaft, des Frühlings und des Winters, der Schwermuth und der Ausgelassenheit -, sind selbst die Gemüther von Millionen von Wesen in Millionen von Epochen. - Faßt Ihr Eine davon näher in’s Auge so merkt Ihr wie sie mit allen übrigen zusammenhängt, mit allen Rhythmen kombinirt, von allen Klangarten gefärbt ist, von allen Harmonien begleitet, bis in den Grund der Gründe und die Wölbung aller Wölbungen in den Höhen.
Nun begreift Ihr, wie Planeten und Herzen eins sind mit einander und nirgends ein Ende, nirgends ein Hemm-nis sein kann; daß das Grenzenlose in dem Geiste der Wesen vollständig und ungetheilt lebt; daß ein Jedes unendlich groß und unendlich klein ist zugleich: das Ausgedehnteste gleich einem Punkte; und daß Licht, Klang, Bewegung, Kraft identisch und jedes für sich und alle vereint das Leben sind.


Toledo, 5. März 1910
Wenn Du bedenkst, daß ich noch am 1. in New Orleans war, inzwischen in zwei anderen Städten spielte und heute wieder hier im Norden Concert habe, so kannst Du die Summe von Reisen daraus ziehen!
So was Ungerechtes, wie der Name dieser Stadt, gibt es nicht und nirgends. Toledo!! Aber der Frühling verschönert auch das Unmögliche und die Tage sind herrlich.
Noch bin ich im Nachrausche meiner vollendeten “großen Fuge” - bald werde ich wieder nüchtern - aber es kommt wieder Anderes an die Stelle.
Nun werde ich vom 9. zum 13. zwischen New-York und Boston penduliren oder - wenn Du es liest - pendulirt haben; denn man schreibt von Zukunft und liest von Vergangenheit. Was ist dann wirklich? Es dreht einem das Gehirn um. (Übrigens: ein Telegramm nach dem Westen kommt früher an, als es abgeschickt ist.) Auf diese Art konnte ich in Dayton schon Vormittags früh erfahren, daß Dein Schiff um 4 Uhr morgens in Cherbourg angekommen war, zu meiner größten Freude und Beruhigung. - Nach der Pünktlichkeit zu urtheilen, müßte die Fahrt erträglich gewesen sein.
Nun bist Du den Kanal vorbei, meinen langjährigen und langstündigenl Freund...

6. März
...Es waren 2 harte Wochen (fast drei) seit ich Dich in New-York ließ. Und der starke Klimawechsel war anstrengend...
Dieser Süden ist fein. Das ist eine Welt für sich. Von Berlin hört man z. B. Nichts; es ist nicht der geringste Zusammenhang mehr da, noch irgend eine Abhängigkeit - ohne Übertreibung verglichen, so wie wir mit Peking fühlen.
Von New-York hört man wie von etwas ganz, ganz Entferntem erzählen, einer großen, großen Stadt mit vielen Vergnügungen und tollem Leben. - Aber auch davon vollständig unabhängig bleibt der Süden.
Nach der (leichten) Besorgung des zum Leben Nötigen, - viel Sonne, ein wenig Faulheit und Liebesleben, und naive Lust zu äußerer Eleganz. Und er ist so mächtig, der Süden, daß man ihn sofort versteht und ihm Recht gibt und selbst von ihm ergriffen wird. -
Hochmann blieb kühl, er verstand das nicht und es war, als ob ein – unbewusster! - Neid in ihm wäre, daß Menschen auch ohne den Lärm und die Hetze und die 1000 Leiden eines durchschnittlichen New-York-Mannes, gut leben können. Ein Neid, daß es einem erlaubt wäre, still zu bleiben, ohne daß sofort der Nächste einem zuvorkommt; ein Neid, so viel Platz für alle zu sehen und auch für den “Zuspätkommenden” noch ein Theilchen Boden freigelassen und selbst noch Luft dazwischen!
Ich versuchte Hochmann zu erklären, wie in der alten Cultur die industriellen Erfindungen als Resultate wachsender Notwendigkeiten entstehen mußten. Während in America zuerst die Erfindung gemacht und dann die Anwendung ausgedacht wird, damit das Publikum sie als Notwendigkeit empfinde.
Wie in Europa die Eisenbahn aus dem Wunsche der Verständigung der Städte und Nationen untereinander erstand und hier zuerst die Eisenbahnen angelegt und dann die Städte gebaut werden.
Ich versuchte Hochmann zu erklären, daß die Industrie überhaupt - so sehr sie wirthschaftlich wichtig ist - doch nur ein Mittel zur Erreichung praktischer Ziele ist: daß sie hier aber der Zweck ist und die Fabrikation von Millionen automatischer Stiefelanzieher fast unnötig, dagegen die Beschäftigung von tausend Arbeitern dazu, der eigentliche Grund dieser Thätigkeit ist. -
Ich versuchte weiter den guten, aufmerksam zuhörenden, naiv-kopfschüttelnden Hochmann aufzuklären, wie der Amerikaner über Nichts selbst nachdenkt und nicht an seiner eigenen Meinung und Auffassung einer Sache arbeitet, die nicht sein Geschäft ist.
Deswegen nimmt er die Gesetze der Religion, der Kunst und der Moral einfach an, wie Traditionen oder geschickte und schlaue Menschen sie ihm präsentiren und wird bäurisch-eigensinnig und beschränkt. Politik interessirt ihn nur als treibende Macht der Börse und was ihm noch persönlich übrig bleibt (persönlich! das heißt ihm, so wie Millionen anderer, denen er sich fügt) sind die Familie, die “Ehre” und der Patriotismus. -
So ist es erklärlich, daß der Amerikaner gern mit jedem ihm Unbekannten “anknüpft”, ihn anredet; in Hotels, auf Eisenbahnen, auf der Straße; weil er sicher ist sich mit ihm zu verstehen, dasselbe Niveau, dieselben Ansichten in dem anderen anzutreffen. - Ich glaube, daß die Psychologie des Amerikaners damit ziemlich vollständig ist.
Was mir diesmal an ihm auffällt und ich früher nicht bemerkt hatte, ist das Bedürfnis nach Herzlichkeit und Wärme; und das ist ein schönes und versöhnliches Moment. -
Ich bin so müde, daß ich so schwätze, hoffentlich habe ich Dich nicht gelangweilt...


Boston 12. März 1910
Noch immer konnte ich nichts von Dir hören und ob ich auch weiß, daß es nicht anders sein kann es spannt mich fast über das, was meine gepeitschten Nerven noch ertragen können.
“Dear old Boston” steht auf demselben Fleck wie von jeher und auch meine Stimmung ähnelt sehr jener von 1892/93. Meine zwei blühenden Jahre!!
“Weg, Weg,” bellt der Hund in Andersen’s “Schneemann”.
Die Christian Science hat hier eine große prunkhafte Kirche mitten im feinsten Viertel! 1 _ Million!...
Die Kirche ist übrigens wieder einmal von Italien gestohlen, wenn auch nicht gerade mit gutem Geschmack.
Der Berliner Dom würde hier, als Architektur, einen hohen Rang einnehmen.
Man muß sich an so Etwas erinnern, und den Maaßstab zurückzufinden...
Und die nüchternen Straßen; entweder ganz leer oder mit einer Plebs gefüllt, gegen die der Berliner Arbeiter ein Aristokrat ist!
Hier ist die Welt wirklich freudelos und [es ist], wie es scheint, hoffnungslos, daß es jemals anders wird.
Nicht das Land der “unbegrenzten Möglichkeiten”, sondern der “unmöglichen Begrenztheit”.
Schade, schade, daß Du nicht die Turandot unter Mahler hörtest. Schließlich blieb ich doch Abends da; es schien mir gegen Mahler unrecht, ihm den Rücken zu kehren. Mit welcher Liebe und mit welchem treffenden Instinkt dieser Mann einstudirt hat! Künstlerisch und menschlich gleich erfreulich und wärmend.
Die Aufführung war vollendet, besser als alle vorher, der Erfolg groß.
Zwar wollen die Zeitungen das nicht ganz ernst nehmen, aber es gibt so viele Täuschungen und Mißverständnisse! Die meiste Musik zur Zauberflöte ist ebenfalls nur so eine leicht-colorirte Illustration. Man wird doch nicht Arien wie:
“Der Vogelfänger bin ich ja”
viel höher schätzen können.
Auch die Monumentalstellung, die man dem Brahms’schen Violin-Concert in diesem Programm einräumt, ist übertrieben. Erstens ist das Stück so von Beethoven gestohlen (was ich gestohlen nenne) und zweitens ist es, trotz des Gebahrens, in kleinen Zügen weitergeflickt.
Zwei Vergleiche fielen mir bei Brahms ein. Erstens jener von diesen kleinen Gebirgseen, bei welchen auf einer Seite ein Fluß hineinfließt und auf der entgegengesetzten Seite wieder heraus, ohne daß der See sich in seiner Stille stören läßt.
Der andere Vergleich kam mir durch die Erinnerung an die ähnliche Stellung, die seiner Zeit Ludwig Spohr in der Musikwelt einnahm und an die ähnliche Begabung der beiden Componisten. -…


(New York,) 14.Mz. 1910
Endlich die beiden Schiffsbriefe! Und so lieb und gut und von der schönen Fahrt berichtend...
Morgen gehe ich nach Boston zum Recital. Die Daten nachher sind noch schwankend!...


15. [März]
...In dem Symphony-Programm von dort steht meine ganze “locale” Biographie, ausführlich. Diese Programmbücher sind sehr gut gemacht. - Die Turandot war ein großer Erfolg. - Frau Mahler holte mich selbst von der Loge, wo ich halb versteckt saß: “Gehn’s, thun’s dem Gusterl die Freud’!” Und ich ging auf das Podium) so schüchtern und “ungewohnt”, als ob ich nie vor einem Publikum gestanden hätte...


[New York, 17. März 1910]
War gestern ein kleiner Abschluß, so ein “Punkt und Beistrich” in der Tournee, mit dem Boston-Recital...
Alles war in Boston wie früher, dieselben Leute mit denselben Worten - sogar im Schlafwagen der alte dicke Neger, der jetzt Brillen trägt...
Ich spielte so gut wie ich überhaupt kann, der Erfolg war groß. -
Ich habe eigentlich ein Gefühl von “Ganzschluß” heute, es wäre richtig, wenn es diesmal endete. Die Daten sind, wie ich sagte, ganz unsicher, aber Hanson läßt von seinem 28. April, Brooklyn-Recital, nicht ab. Bis dahin sind ganze 6 Wochen, was eigentlich schon die Zeit einer großen Tour wäre. -...
Und für heute schließe ich wieder, denn ich bin überüber müde und ganz ausgesaugt...
Ich habe das geschlossene Couvert wieder geöffnet, weil ich eben Deinen ersten, außergewöhnlich lieben und mit gleicher Liebe empfangenen Brief aus Berlin bekam... Deine lieben Worte und Gefühle geben mir weiter Kraft, die zu erlahmen drohte...


(Columbus, Ohio,) 21. Mz. 10
Columbus - dieser Name - ist eine der wenigen Sachen, die hier an das große Mißverständnis des muthigen Italieners erinnert.
Ich habe ein Zimmer mit sieben Fenstern, die Luft ist “doppelt”, wie in Montreux...
Die Frist wird täglich kürzer.
Das hat man in America voraus, das schnelle Handeln. “Ich möchte das gedruckt haben; ich möchte das in der Zeitung haben” und schon ist es geschehen...
Ich bin froh, daß es in Berlin schön ist; nirgends so schön wie zu Hause. -
Wenn ich nach 2 Jahren wiederkomme und in jeder Stadt Bekannte habe, von New York bis “Frisco”, dann wird es leichter im Gefühl...


[Columbus, 22. März 1910]

Über Indianer

Ich sprach mit einer Indianerin, - sie erzählte, daß ihr Bruder (sehr begabt für Violin--Spiel) nach New York kam, um seinen Weg zu finden. “But he could not associate his ideas with the question of daily bread.” - Wie gut so ein Wort thut, in den Vereinigten Staaten!
Dann erzählte sie, daß ihr Stamm ein Instrument hätte, dieser Art: es wird ein Loch in die Erde gegraben und an seine Ränder Saiten gespannt. Ich sagte (im Geiste der Indianer): dieses Instrument sollte man nennen “die Stimme der Erde”, was sie ganz begeisterte. -
Fräulein Curtis ist meine frühere Schülerin in Harmonielehre gewesen. Kannst Du Dich ihrer aus New York erinnern?
Sie hat diese ganzen Jahre dem Studium indianischer Gesänge gewidmet und ein schönes Buch herausgebracht.
Sie gab’s mir “zur Erinnerung an die erste Turandot- Aufführung in New York.”
Sie ist ein feines, cultivirtes, reiches Mädchen...
Die Indianer sind das einzige Cultur-Volk, das kein Geld kennt und die alltäglichsten Dinge in schöne Worte kleidet.
Wie anders ist dagegen ein business-man aus Chicago! Bei dem heißt Roosevelt “Teddy”, bei den Indianern: “Our great white father”.


[New York, 24. März 1910]
Deine Briefe sind mir nicht “eine kleine Zerstreuung” sondern, wie Du genau weißt, eine sehr starke Notwendigkeit. Jeder neue bringt Erleichterung, jede Pause Spannung.
Ich schrieb Dir ziemlich viel - aber es geht nicht immer; bei einem Calendarium wie dem folgendem ist man fertig, und gestern konnte ich absolut Nichts thun.

20. März, 6 Uhr Abfahrt von New York.
21. März, 9 Uhr Ankunft Columbus.
21. März, 8 Uhr Abends Concert.
22. März, 12 Uhr Mittags Abfahrt von Columbus.
22. März, 7 Uhr Abends Ankunft Pittsburg.
22. März, 8 _ Uhr Abends Concert.
22. März, 11 Uhr Abends Abreise nach New York.
23. März, 9 _ Uhr morgens Ankunft New York.

Bitte den 22. März näher zu betrachten. Ob sich das lohnt?! Man geht durch Amerika mit einem vollen Sack, der zerrissen ist; man streut unterwegs die Hälfte des Inhaltes aus.
Wäre Pittsburgh nicht so unvergleichlich rauchig, es wäre eine bemerkenswerthe Stadt. Von dem unteren Zentrum führt zu den oberen Aristokraten-Vierteln ein breiter Serpentinenweg, vier Meilen lang, die steilen Hügel hinauf; an der linken Seite offen, so daß man die Stadt immer tiefer und immer zunehmend sieht. Wir legten den Weg in einem vorzüglichen Automobil zurück, in der Dämmerung, ganz fantastisch. - Es ist die Stadt Carnegie’s, der ihr den Concert-Saal (den schönsten in Amerika) für 2 Millionen gebaut hat. Alles athmet großen Reichthum. Die 10 oder 12 Riesen-Säulen, die die Decke des Vorsaales tragen, jede aus einem einzigen Stück schwarzen Marmors und 4-5000 Dollars werth!
Der Saal war ganz voll...
Nun muß ich Dir über Herrn C. F.s “System” erzählen. Es ist das Schlaueste, was ich gehört habe, Patent der Patente: die “Maschine” von Onkel Benjamin ist dagegen primitiv.
Also F. hält eine Schule zur Ausbildung von Clavier-lehrern. (Denke Dir dieses unendliche Rad, das sich eigentlich fortwährend dreht, ohne was zu treiben!)
F. selbst unterrichtet unentgeltlich die 12 fähigsten Hauptschüler: dafür müssen diese 12 unentgeltlich die übrigen 3-400 unterrichten. Das Geld von den 3-400 bezieht aber der F.
Wundervoll! Bewunderungswürdig! Ein Unicum.-...


[New York,] 25. März [1910]
Ein heißer Sonnentag, mit warmem Staub-Wind und Sommergeruchen. - Alle Orchester haben ihr letztes Concert gegeben! - und ich muß noch mehr als einen Monat aushalten, dazu noch üben, damit die Leute überzeugt werden, daß ich Clavierspielen kann! Heute bin ich wüthend und scheine mir ein Ausgespuckter. -
Die Hamburger haben Eile [1] und schreiben 5 Briefe in einer Woche, nachdem sie drei Monate still waren.
Aber Eile ist nichts für meine Arbeit... Entweder ganz gut oder nicht! So will ich versuchen, es zu machen. Alle Menschen arbeiten auf den nächsten Augenblick und leben, als ob’s auf die Ewigkeit ginge. Umgekehrt schiene es mir richtiger. -
Verzeihe, liebe gute Gerda, diese Explosion, ich schreibe lieber morgen weiter, wenn ich ruhiger bin. Lieber sage ich gleich, daß ich nichts Böses meine. -
Wappen: [Zeichnung eines lorbeerbekränzten Eselkopfes].

[1] Mit der Aufführung der “Brautwahl”.


26. März
Fortsetzung des Briefes und nicht der schlechten Laune. Obwohl ich heute Nachmittag nach Chicago und dann ungefähr noch 40 Stunden weiter nach Colorado-Springs kutschire. Schade, sehr sehr schade, - ich kann all’diese Zeit keine Briefe bekommen, und jetzt bin ich schon mehrere Tage ohne. Morgen ist Ostersonntag und nach Colorado-Springs wird - wegen der Entfernung - nichts nachgeschickt. Ich hoffe auf die gerühmte Schönheit der gefärbten Quellen (beinahe schon Fontaine lumineuse - ob sie an den Victoria Luise-Platz [1] erinnern?)... Am 1. April bin ich dort, wohl der fantastischste Platz für meinen Geburtstag - bis jetzt.
Nochmals schade, gewiß wird sich jemand des Tages erinnern und ich werde Nichts erfahren.
Ich darf nicht weiter über dieses Subject Kontrapunkte spinnen, es würde sonst daraus eine Elegie, wirkliche berceuse élégiaque.
Sagen wir lieber: ein neues Jahr, ein neues Ziel.
Und Du hilf mir weiter, wie Du bisher so schön geholfen hast...

[1] Busonis Wohnung in Berlin.


(Des Moines,) 28. Mz. 1910
Gestern war ein schwerer Tag, oder eigentlich die beiden letzten Nächte und Tage waren recht anstrengend.
Die Hitze in Chicago war ganz hoch, so daß das Spielen erschwert wurde und Concertgeben und -besuchen zu der Jahreszeit (und dem Tage!!) gar nicht paßte. - Es war der Oster-Sonntag. - Ich war am Morgen traurig und stellte mir andere Oster-Sonntage vor. War hundeallein, von 19 Stunden Fahren nervös, und zuerst klappte überhaupt Nichts. - Aber, als ich hörte daß im Concert viele Musiker sein würden, daß das Ehepaar Rothwell (Dirigent in St. Paul) eigens geblieben war, mich zu hören, da nahm ich mich zusammen - und aus war’s mit dem “nimm es leicht.”
Das Programm gestaltete sich so:

Waldstein-Sonate
Brahms-Paganini
(bis: Liszt-Paganini Variationen)
Chopin Sonate H moll
(bis: “Butterfly”-Etude
2. bis: Terzen-Etude)
Erlkönig
Au bord d’une source
6. Rhapsodie
(bis: Campanella).

Das Publikum blieb und klatschte bis das Klavier zugemacht und die Lichter ausgelöscht waren.
Du siehst, es war eine ordentliche Arbeit und zeigte ausgenommen das Fugenspiel - ungefähr Alles was man auf dem Clavier machen kann.
Der Erlkönig und die sechste Rhapsodie sind “neu renovirt” und ich werde sie jetzt wieder spielen. Besonders aus der 6. habe ich, glaub’ ich, was gemacht.
Dann habe ich mich auf das Essen gefreut und hatte dabei die Gesellschaft von Middelschulte, Stock, den beiden Rothwell’s, die alle angenehm und intelligent sind.
Middelschulte war entzückt über die fertige Fuge und ihren Plan. Er sagte, die Idee der Variationen dazwischen wäre ganz neu und die Anlage außergewöhnlich.
Abends, halb elf, fuhr man weiter nach diesem Des Moines, welches eine scheußliche Stadt in einem paradiesischen Lande ist. Der Frühling ist in vollem Blühen. Morgen geht es nach Colorado-Springs, das schön sein soll und wo ich den 1. April verlebe.
Eigentlich sollte die Geschichte da ein Ende haben. Denver liegt elf Meilen von Col. Springs, ich muß aber ganz zurück fahren (bis Boston) und dann wieder nach Denver, was ungefähr 5000 Kilometer extra macht! -
Ich kann leider wenig arbeiten, fast Nichts: die Reisen fressen zu viel auf.
Ich denke an Dich und Euch noch mehr als sonst...


(Des Moines,) 29. Mz. 1910
Vom Standpunkt des gewissen Wander-Concertisten aus, war das gestrige Concert ein sehr erfreuliches. Volles Haus, hohe Stimmung, begeisterte Berichte. - Die Hitze hatte ihren höchsten Punkt in diesem Jahre erreicht. Ich war todmüde. Aber ein schönes Clavier, eine gute Akustik und die große Erwartung hypnotisirten mich für die 2 Stunden auf dem Podium.
Vom Standpunkt eines nicht mehr jungen, denkenden Künstlers aus war es eine unverzeihliche, nie wieder gutzumachende, Verschwendung von Kraft, Zeit und Gedanken für die unwichtige Wirkung eines kleinen Augenblicks auf ein unbedeutendes Häufchen Leute. -
Alles in allem schien mir Chicago wieder die beste Stadt - Boston hat entschieden etwas von Leipzig, und New York zerflattert gänzlich im Übergenuß. Ein Ereignis ist dort wie das Spiel der Kinder mit jenen trockenen Blumen, auf die sie blasen. “Eine schöne Blume”, sagen die Kinder, - uuff! - und es bleibt ihnen der Stengel in der Hand, den sie weg-werfen.
Vergänglichkeit! Aber ohne sie wäre das neue Blühen nicht denkbar.
Nur keine eilige Vergänglichkeit, die uns beschämt.
Wie z. B. l’après-midi d’un faune von Debussy - wie ich ihn neulich von Mahler hörte.
Ich sagte zu Jemand: “ein schöner Sonnenuntergang ist das Bild dieser Musik, er verblaßt während man ihn betrachtet.” -
Ich habe hier den 6-Uhr Zug nach Colorado Springs abzuwarten und werde versuchen, meine Zeit auszufüllen.
Aber, sei es der Frühling, die Müdigkeit, oder die westliche Atmosphäre - seit ein paar Wochen richte ich Nichts aus!
Es ist ja erklärbar, aber nicht weniger bedauernswerth... Ich habe noch 9 Concerte und genau einen Monat zu “absolviren.”
Ich brauche aber Nichts mehr zu üben, mir das Spiel so in Gang zu halten. Dasselbe hat sich ein wenig zurückverändert. Die amerikanischen Anforderungen an blitzende Technik bringen einen unwillkührlich dahin.
Nun, bei mir kann das nicht ernstlich schaden.
Auch habe ich endlich gelernt, den 1. Satz der Waldstein-Sonate anzupacken, der nie so recht blühen wollte. Und ich spiele ihn seit fast dreißig Jahren!! -
Diese beiden letzten Sätze sollte man an Conservatorien annageln. -...


(Colorado Springs,) 31. Mz. 1910
Mit Stunden Verspätung kamen wir gestern Abend - anstatt Mittags - hier an. Ich hatte mir was versprochen von diesem Ort, aber es ist nichts als ein Badeort, so viel ich bis jetzt sehe.
Ein großes theueres Hotel, künstliche Garten-Anlagen, hübsche Scenerie im Hintergrunde - das bietet man; und die Leute sollen sehen wie sie mit der langen Zeit fertig werden. - Heiße Tage und schauer-kühle Abende mit dieser traurigen Nüance der - durch die hohen Berge - abgeschnittenen Sonnenuntergänge.
Anstatt Edelweiß, Gemsbärten und Hirschgeweihen als Medaillons, Briefbeschwerer und Uhrenpantoffeln verkauft man hier indianische Handarbeiten (vielleicht aus einer deutschen Fabrik). - Es ist wie in Baden-Baden, oder sonstwo - nur fragt man sich: warum ganze zwei Sonnenstunden westlich, um diese Errungenschaft! Denn so weit sind wir hier gelangt, näher zum stillen Ocean als zum Atlantischen, bei mehr als 8 Stunden Zeit-Unterschied von Berlin. So entfernt war ich noch nie von Dir, und noch dazu vor dem 1. April! - Aber die Reise!! Die Reise hat mir die Augen geöffnet und ein außerordentliches Licht in meine immer noch unklaren Begriffe über America gebracht, mir den Schlüssel zu mancher verschlossenen Frage gegeben. Nun weiß ich viel mehr, sehe ganz was Anderes.
Zwölf Stunden lang fuhren wir gestern durch eine Hochebene, wie durch ein Meer; der Blick nach allen Seiten unbegrenzt, unendlich weit und - für ganze 12 Stunden - weder Haus, weder Baum, noch Wasser!!!
Jetzt merkte ich den großen, tiefen Grund: Amerika ist noch nicht bebaut, fast alles ist noch anzufangen; die paar prunkvollen Kulissen längs der Küsten sind nur eine Schale, welcher der Kern fehlt. Chicago ist der innere Rand dieser Schale und dann kommt: Leere. - Bereits auf dem Wege von Memphis nach New--Orleans war mir so eine Idee aufgedämmert, aber ich setzte den Zustand des Landes dort auf Rechnung des Klimas. - Da muß ich wohl zugeben, daß Amerika jung ist, es ist noch nicht geboren. Aber es war eine Offenbarung. Nun bin ich über Amerika beruhigt, es hat noch Arbeit auf Jahrhunderte. -...
Soll ich wirklich von New York wieder nach Denver zum 19. fahren?
Ich bin so traurig, ohne Briefe, und so müde -!!
Hast Du die Briefe, die ich fast täglich absandte?
Ich habe Sehnsucht nach Dir, nach dem Hause, nach Ruhe, nach meiner Arbeit - bin aber zu geschwächt, um mich darauf zu freuen.
Es wird sich alles ändern, und mein nächster Brief ganz froh klingen, liebe Gerda...


(Colorado Springs,) am ersten April 1910
Den Anfang des [Lebens-]Jahres habe ich gut gemacht, indem ich um 7 Uhr aufstand. Um diese Zeit war die Landschaft vollkommen “Segantinisch” anzusehen. -
Meine Absicht, hier 3-4 Tage auszuruhen, muß ich aufgeben; die 6000 Fuß Höhe lassen sich ohne Übergang nicht so leicht ertragen. Es nimmt den Athem (buchstäblich) und die Nächte sind grausam.
Es ist gegen 8 Uhr hier, also nicht ganz 4 Uhr nach-mittags in Berlin. Vielleicht sitzen ein paar Intime beim Thee und Ihr sprecht von mir. Ich habe das Bild ganz nahe vor mir...
Jetzt ist’s vorbei und ich sehe klar wieder die ausgeschnittenen weißen und braunen Berge vor dem grau- blauen Himmel Segantini’s und werde mir bewußt, wo ich bin - aber beim längeren Starren vergesse ich’s wie-der und fühle mich leibhaftig im Engadin und denke: hinter den Bergen, da ist Italien.
Und ich klopfe an die Berge wie an eine Wand und von der anderen Seite (wie hinter einer Thüre) höre ich die Stimme Anzoletti’s: Che c’è!? Oh, Ferruccio!...
Ich bin hier vollkommen allein und das ist besser, als mit halben Freunden und halb--Fremden.
8 Stunden Unterschied, das ist genau ein Drittel der Erde, das ich - Stadt für Stadt - durchschritten habe!
Kein Jahr meines Lebens war so ausgefüllt wie dieses eben geschwundene; an Arbeit, Erlebnissen und Errungenschaften das reichste! - Und ich fühle daß ich noch steige. - Das Gute, meine Gerda, ist mit uns.
Ich kann auswendig nicht genau aufzählen, was ich in diesem Jahre gethan habe. An eigenen Arbeiten:

Die Stücke an die Jugend
Berceuse
Bach-Fantasie
Berceuse élégiaque für Orchester
Die große Fuge
Neue Notenschrift
1. Band Liszt-Ausgabe
180 Seiten Brautwahl-Partitur
Frau Potiphar
Mehrere Aufsätze für Zeitungen
Ungezählte Briefe
Preisausschreiben der “Signale”

An Concerten:

Tournee in England
in der Schweiz
in Österreich
in America (35 mal [gespielt])

Dann: war Aufführung des Concerto in New Castle, der Turandot in New York, des Quartettes durch Petri, und Kleineres.
An Erlebnissen genug...
Dazu bitte die Tausende von Kilometern Reisen zu rechnen.
(Heute arbeitete ich gut an der Oper.)
Die Hoffnung auf Post ist vorbeigegangen. Nun schickt man Nichts mehr nach aus New York.
Ich fahre morgen möglichst ununterbrochen zurück, 3 Tage und 2 Nächte. Da find’ ich die Briefe.
(Dieser Tag scheint nicht weiter zu gehen.)
Alles Schöne, Gute, Liebe; ich weiß, daß Du jetzt an mich denkst...


[New York, 6. April 1910]
Endlich gestern - den 5. - nach 10 Tagen Pause!, konnte ich wieder von Deinen Briefen erreicht und bereichert werden... Das Erwarten von Post ist mein einziger Gedanke gewesen, in dieser Woche vollständiger Erschlaffung; - nichts blieb im Gehirn übrig und ich rechne mit Ergebung diese wenigen nächsten Wochen ab...
Deine lieben - zum 1. April gedachten - Worte, haben mir außerordentlich wohl gethan. Diese Rückkehr nach New York und das Lesen Deiner Empfindung waren fast ein halbes “Zuhausesein”...
Als ich im Westen einen Farmer hinter einem Pfluge sah, da dachte ich: Da! die primitivste Form des Wohlhabens; dazu Schlaf, Appetit, Liebe - und etwas Schönheit! - das bleibt unveränderlich und alles Mechanische fügt nicht eine Unze hinzu. - Warum ein “Skyscraper” falsch aussieht? Weil er nicht im Verhältnis zu der Größe des Menschen steht; und weil die Größe des Gedankens zum Verhältnis der Höhe fehlt...
Das Buch von H. H. Ewers ist natürlich dasselbe, das ich einmal auf dem Anhalter Bahnhof kaufte... Die deutsche Kritik fällt glänzend herein und hat sofort E. A. Poe im Maul; diesen Märtyrer des Misverständnisses. “Ein neuer Poe” schreit sie, was es eben nicht giebt. Entweder was Anderes, oder was Schlechteres. Eine andere Alternative existirt nicht in der Kunstgeschichte. Wie viele “neue Chopins” hat es schon gegeben!...
Sehr willkommen waren die Bände Strindberg. Er ist ein Dichter, hat Gedanken und Entwickelung und Persönlichkeit. - Aber mir scheint, daß überall ein Etwas (Wichtiges) fehlt, nur finde ich noch nicht das Was und das Wo. Tausend Dank für die Bücher...
Die neue Notenschrift hat bereits einen Gegner gefunden, dem ich antworten mußte. Ich bin stolz, daß ich so gut englisch schreibe: ich habe diesen Brief ganz allein verfaßt (nämlich den beiliegenden gedruckten).
Es folgen noch Ausschnitte über Boston und Pittsburgh, die “Töchter” Busonis und die wundervolle Maske Schaljapin’s als Don Quijote in Massenets Oper. (Das ist der letzte Mann für dieses Sujet.)
Und für heute nehm’ ich innigen Abschied...


(Washington,) 8. Apr. 1910
Eine schöne Stadt, ein frischer “mussirender” Frühlingsmorgen... Wenn nur kein Recital wäre! Die klimatische Tortur von Colorado-Springs hat mich ziemlich “untergekriegt” - die dreitägige Reise von dort hat mich nicht gerade kurirt - und auch ohne diese beiden Überflüssigkeiten hätte ich an Allem nun genug. -...
Daß Klimt eine Ähnlichkeit mit einem Bas-Relief Donatello’s zeigt wundert mich nicht. Die Kunst ist wie ein Schachspiel, dieselben Züge mit denselben Figuren und das gegebene Feld des Brettes, - und doch keine Partie der anderen gleich. Die Ähnlichkeit “Klimt-Donatello” hat ihre Quelle wahrscheinlich im “Byzantinischen”, überhaupt im Orient, wie Alles, was Kunst ist; - die Musik ausgenommen, weil sie nicht Formen nachbildet, sondern Ausdruck der Stimmung ist.
Verocchio hat - wie ich schon mehrmals merkte alle späteren Style (bis zum Rokoko) schon in sich gehabt. Und Rodin hat ihn sich gewiß angeguckt. - Wie schön, daß Dich das Museum in seiner Einrichtung so befriedigte! Das “Handwerk” ist wie die Pflege der Erde für die Ernte der Kunst.
Ich bin sehr stolz und sehr gekräftigt durch meine neuen Kontrapunkt-Studien (auch in Harmonie habe ich mich “umgethan”) - und das macht einen geschickt. -...
In der Musik kann man nicht Composition lehren, aber man kann sie üben! “Übung macht den Meister” - an Sprichwörtern ist immer etwas Wahres. Zum Künstler wird man geboren, zum Meister muß man sich erziehen. Das ist auch schon oft gesagt worden; aber wenn man auf diesem Ohre nicht hört, dann Glückauf zur Fahrt in die brillante Mittelmäßigkeit! -...


Manchmal verzage ich zu schreiben, die Gedanken des Augenblicks kommen verspätet, wo sie nicht mehr hingehören, oder gar nicht...
Eben komme ich von einer Automobilfahrt aus Cambridge zurück, wo ich und Mr. Byrn den Dolmetsch besuchten. Er sieht aus wie ein kleiner Faun, mit einem hübschen Kopf und lebt in der Vergangenheit; und in der Vergangenheit nur im Instrumentenbau. Er baut Claviere, Clavecins und Clavichorde. Das Clavecin (das eng-lische “Harpsychord”) ist prachtvoll. Ich habe gleich Capital daraus geschlagen und erstens: das Instrument in die Brautwahl gebracht (wo Albertine sich begleitet) und zweitens: ein Exemplar davon nach Berlin erbeten. Sie sind schön, auch äußerlich...
Heute schrieb ich eine Art Brief über America an Hanson, für die Öffentlichkeit. - Gestern war Recital und sehr gut... Dann hatte ich Gäste zum Lunch, dann Dolmetsch. Die Zeit wird ausgenützt...
[Boston,] 14. Apr. 1910


(Terre Haute,) 14. Apr. 1910
...Dein Brief tröstete mich sehr, denn dieses Terre Haute sollte Terre basse heißen, so tief sieht es hier aus, mit allem. -
Kaum ist man auf dem Wege der Versöhnung, kriegt man wieder einen Streich, der einen in das Gebiet der Opposition wirft. - ...
Ich habe auch das Heft mit der preisgekrönten Signale-Stücken gesehen; es ist - zusammen besehen - was ich einen Haufen Elend nenne. Nie kommt was Gutes aus solchen Geschichten. Da sind vier oder fünf Fugen drinnen (vier sicher), was hat das für einen Sinn, so ein halblahmes Thema 12 mal herumzuwenden? Und gar preiszukrönen?
In meiner Fuge dürfte das Thema zwischen 50-100 mal erscheinen, aber das ist anders - und ist nicht preisgekrönt...
Washington ist eine wirklich schöne Stadt, mit einem künstlerischen Plan, vor 100 Jahren von einem Franzosen angelegt...
Das Land glänzt in Frühlingsschönheit. Jetzt kenne ich bald Alles. Nur nicht die paar Städte an der “stillen” Küste.
Heute antwortet Hanson, daß mein kleiner Brief über America “magnificent” ist... Gott, etwas nahe geht mir das Land doch. Habe ich drei Jahre meines Lebens ihm hingegeben und werde ebensoviele hingeben müssen, und Benni ist hier geboren, und schließlich hat man mich sehr herzlich empfangen und wenn alles nach Plan geht, so werde ich ihm meinen kleinen Wohlstand verdanken! Ich kann es nicht mehr “übersehen”! -
Und mit diesem Dur-Accord schließe ich diesen Brief, damit er Dich mehr erfreue, als alle die letzten recht heruntergestimmten...

Liter. Postscriptum.
Dieser Strindberg ist ein fürchterlicher Mann! Ich habe die Kammerspiele gelesen (die er selbst “Dramen des Sechzigjährigen, um 1910” nennt), und ich muß sagen, daß sie mir den Athem hielten. Aber wenn Alters-Weisheit einen bitterböse macht und in jedem Tropfen Wasser nur Bakterien sehen läßt, so daß jede Freude an dem fließenden Quell des Lebens zerstört wird! - dann laß uns albern bleiben oder jung sterben.
Strindberg sieht schrecklich wahr, aber seine Wahrheiten haben kleine Wege, die ihn dazu führten. Das bleibt immer die Spaltung dieses großen Talentes. Sein Musikdilettantismus ist lächerlich. Die technische Sicherheit ist imposant. Sein Geschmack spielt dumme Streiche. - Er ist sehr böse und ohne Humor, die Bosheit genießen zu lassen.
Ob man das aufführen könnte?... Gegen diese Dramen ist das “Familienfest” [“Vor Sonnenaufgang”] von Hauptmann, ganz gemüthlich.


(St. Louis,) den 16. Ap. 1910
Noch einmal 26 Stunden nach Westen und dann - östlich, und allmählig nach Hause!
Der “Musical Courier” betont, daß ich einen neuen Ton in das Concertleben gebracht habe. Nach der zweiten Tour glaube ich Autorität genug zu besitzen, auch hier zu experimentiren.
Ein Satz, der mir gestern im Gespräch mit Hochmann einfiel:
Es muß möglich sein, die kühnste Fantasie des Menschen zu realisiren (sieht auch die Verwirklichung unwahrscheinlich aus): denn die Einbildungskraft setzt sich zusammen aus Sachen die existiren und der Einfall selbst beweist, daß irgend ein Grund dazu schon vorhanden ist.
Das kam dadurch, daß ich Hochmann sagte, es würde einmal Jemand einen Apparat erfinden, nach welchem sich ein Clavier von selbst sich wieder richtig stimmt. “Das ist unmöglich”, sagte H. schnell. Ich sagte: “Nichts ist unmöglich, bevor das Gegentheil bewiesen wird und die Verwirklichung meiner Idee muß möglich sein, weil sie mir in den Kopf kommt. Denn sie ist combinirt aus Sachen, die ich schon gesehen und von denen ich gehört habe. Nun kann man ein Instrument bauen, welches das Nachlassen der Saiten genau, automatisch aufzeichnet. Das ist der erste Schritt.” -
Es ist unmöglich, mit Hochmann in Symbolen zu sprechen, er nimmt Alles buchstäblich. “Thun Sie das für mich (sage ich), Sie verlieren ja heute Nichts”. (Es ist ein freier Tag). Sofort sucht Hochmann in den Taschen, ob er was verliert.
Oder ich sage: “Sie kennen nicht den Reiz des Wein-Landes. Wein, das macht den Armen reich”. Sagt Hochmann: “Die Wein-Industrie?”
“Aufbauen” bedeutet ihm: Häuser errichten; “sich reich fühlen” - Geld besitzen; “einsam stehen” - keine Tischgesellschaft haben, oder keine Finanzleute; “ein guter Concertabend” - ein volles Haus und viele Zugaben.
Es ist erstaunlich: die Amerikaner und die Indianer können nichts voneinander lernen. -
Übrigens noch: eine Erfindung zerstört die frühere. Auffallend ist hier die Verkümmerung der Treppe durch die “Elevators”. Oder: das Verschwinden von Plätzen und Garten-Anlagen der Städte, durch das Wohnen in Vororten. Oder: das Aufhören des Applausbedürfnisses, nach Anhören des Grammophons. Oder: die verschwindende Kunst des Festungsbaues, durch die modernen Kanonen. Und hier besonders: das Versagen der Literatur, durch Zeitungen und Monatschriften. Und so weiter, man könnte ein Lexicon machen.
Und so schwatzt man wenn man müde ist. -


(Denver,) 18. Apr. 1910
Denver ist ja ganz nett und ein kleines Centrum, aber man fährt hierher durch Steppen, an Zelten vorüber und an jungen reitenden Männern, die ganz neu beginnen. Mit Pferden, Pistolen und Zelten und ein paar Landwirthschaftsmaschinen bahnen sie sich den neuen Weg durch schwieriges, schwer urbar zu machendes Land, schlecht genährt; und nur die niedersten Freuden des Lebens erheitern diese muthigen, primitiven, noch nicht erwachten Instrumente der Civilisation. Es hat was Großes! Es macht Eindruck! Prächtige Kerle, trotz der Unbildung, die auf ihrem Gesicht steht. Hoch, stark und beweglich und nicht schlecht und nicht unehrlich...
Gestern im Zuge hatte ich einen schönen Einfall: die große Fuge für Orchester zu machen, das Choralvorspiel (Meine Seele bangt und hofft zu Dir -), als Introduction, ebenfalls für Orchester umzuarbeiten, und dasselbe, vor der Stretta in der Fuge, wieder in Erinnerung zu bringen. Ein großes Werk! Wer gibt mir noch ein Leben?...
Die Oper bedarf sorgfältigster Ausarbeitung, Hand in Hand mit gelegentlichen Verbesserungen, Vervollkommnungen, Bereicherungen. Ich will sie nicht überstürzen...
Hier sind wir wieder 5000 Fuß hoch; die Nacht war schlecht, die Luft nimmt mir den Athem. Langsam geht’s von hier nach Hause; habe in der letzten Woche noch 100 Sachen abzuwickeln. Man kommt meinen Wünschen in jeder Hinsicht entgegen. Ich brauche nur den Wunsch zu zeigen. Das Land hat doch viel Gutes. Es ist klein und das erleichtert Vieles. Mit mir und Wüllner ist hier die ganze Concert-Saison gespeist worden. Wie wäre das denkbar in Europa (als Ganzes genommen)?...
Ob Du Dich für mexikanische Spitzen interessirst? Ich verstehe nichts davon. Ich weiß wahrhaftig nicht, was man von hier mitnehmen kann, Wolkenkratzer und Hängebrücken kann man nicht in den Koffer stecken.
Ich bin sicher, daß es ein sehr, sehr schönes Wiedersehen wird...
Wie ist es aber mit der Sommerruhe? England! Schweiz! Hm...


(Denver,) 18. Apr. 1910
Wenn Chicago das Herz von America ist, so ist Denver der Blinddarm. Eine solche Sackgasse! Was weiß man von Geographie, wenn man nicht reist!...
In einer indischen Geschichte lese ich folgende Sprache, die ich zu übersetzen versuche, weil sie so weit, weit von jener dieses Landes klingt:
„....Und ich könnte Dir Geschichten berichten -
und Dich zu einem Lande führen, von welchem Du nicht einmal träumen kannst. Wo die Bäume immer Blüthen tragen und laut sind durch das Summen berauschter Bienen. Wo die Sonnen am Tage nicht sengen und die Mondsteine zur Nacht feucht sind vom Nektar in den Strahlen des kampfergesättigten Mondes. Wo blaue Seen bevölkert sind mit Reihen silberner Schwäne und auf Stufen von Lapislazuli die Pfauen erregt tanzen beim Gemurmel des Donners über den Hügeln. Wo Blitze gefahrlos leuchten, den Weg den Frauen zu weisen, die sich in Dunkelheit zu liebenden Begegnungen stehlen, und der Regenbogen über dem dunkelblauen Wolkenvorhang, einem Opal gleich, ewig hängt. Wo, auf mondbeschienenen Dächern krystallener Paläste, die Liebespaare einander zulachen bei dem Anblick ihrer liebeskranken Gesichter, die sich in den Schalen voll rothen Weines wiederspiegeln und athmen, während sie trinken, die Luft, schwanger vom Dufte des Sandels, hergeweht von den Brisen nächtlicher Gebirge; spielen und schmücken einander mit Smaragden und Rubinen, die geboren sind am Schaume des Oceans von der Tiefe des Meeres; wo fließende Gewässer, deren Sand golden blitzt, langsam vorbeiziehen an endlosen Alleen schweigsamer Gru’s, die nach silbernen Fischen jagen; wo Männer wahr sind, Mädchen ewig lieben und die Lotosblume nie verwelkt.” -
Was sagst Du dazu? Mir stehen Thränen in den Augen.
“Aber das gibt es doch nicht”, würde Hochmann sagen.
O Nüchternheit! O Poesie! Das sind andere Gegensätze, als arm und reich. - - -
Da jagt ein Cowboy wieder auf einem Pferde an meinem Fenster vorbei. Ich liebe die Schreibtische am Fenster, man ist allein und mit der Welt draußen verbunden. Leider kommt eben auch “the dear yellow car” vorbei, der überall in Amerika einen aus den Träumen weckt.
Hier ist der Frühling spät, die Bäume haben noch nicht ausgeschlagen. Aber von St. Louis aus begleitete uns der Mississippi ein paar Stunden des Weges; welcher Anblick! Groß und schön zugleich. Unvergeßlich das Bild, die Jahreszeit, die Stunde gegen Sonnenuntergang, die Jungfräulichkeit dieser Riesen-Schönheit! Man zittert, daß die Menschen daran rühren. -...


(Chicago,) 25. Apr. 1910
Ich habe einige Stunden vielen Vergnügens mit Stock hier gehabt... Er ist ein sehr aufgeweckter Musiker und kann viel; hat auch einen gewissen ernsten Idealismus und starke Gewissenhaftigkeit. Dabei ein lieber und offenbar ehrlicher Kerl.
Dieses Prägen von Celebrität hier, großer Gott! das Herz sinkt einem unter die Ferse und man tritt darauf! Kann so eine kleine, gewöhnliche Person wie die F. wirklich eine große Künstlerin sein? Selbst vom “Opern-Sänger Standpunkt” gemessen? Ich kann es nicht denen, habe auch nie von außerordentlichen Wirkungen einer ihrer Rollen gehört. Aber sie hat einen Namen, daß jeder Neger sie kennt.
Und Debussy mit seinen drei sordinirten Violinen, einem halben gestopften Horn und einer Melodie von zwei ganzen Tönen - man ist hingerissen!
Gewiß gab es zu allen Zeiten solche Täuschungen und populär sein bedeutet: “être a la portée de tous.”
Mascagni - Grieg haben wir erlebt und - überlebt...
Vorgestern hörte ich hier im letzten Symphonie-Concert folgendes Programm:

Ouverture Fliegender Holländer
Symphonie (III), Brahms
Till Eulenspiegel, Strauß
Aufforderung zum Tanz, Weber-Weingartner
Ouverture 1812, Tschaikowsky.

Am stärksten hält sich das Jugendwerk Wagners und er ist auch von allen diesen der Stärkste. Die Symphonie von Brahms machte auf mich einen unglücklichen Eindruck; ein Gespenst der Leipziger Schule. (Und es ist nicht lange her, daß ich die allererste Aufführung dieser Symphonie in Wien hörte. Da standen die Leute wie vor der Sphinx.)
Strauß’ Eulenspiegel klang wie ein modernerer Papa Haydn der in seiner naivsten Laune ist und die alten Wiener Aristokraten, die selbst mitspielen, zum Lachen bringt.
Weingartner und Tschaikowsky ließ ich sein und ging im Schneesturm spazieren, wo ich Muße hatte nachzudenken.
Wenn Du diesen Brief liest, bin ich, glaub’ ich, auf dem Dampfer und Du weißt auch - durch das Telegramm das ich schicken werde und das Du bereits erhalten hast (das macht mich immer confus!) - daß ich schon am 3. fahre, - gefahren sein werde - enfin. Kant hat Recht, daß die Zeit nur Begriff ist.
Ich habe noch sehr viel zu thun bis dahin und meinem armen Kopf scheint es noch mehr, als es ist.
Das Leben hat wieder eine Wendung genommen, diesmal eine äußerliche, und ich bin mir über deren Bedeutung noch nicht klar - wie sie zur inneren Wendung passen soll. Ich hatte so ein Gefühl, mit glänzenden Äußerlichkeiten abgeschlossen zu haben und in meinem Hause zu suchen, was draußen nicht zu finden war und nun scheint es von vorne anfangen zu wollen.
Jedenfalls kann man nicht über Langeweile klagen...


(New York,) 29. Apr. 1910
Nun ist es vorüber, gestern Abend war Abschieds-Concert in Brooklyn, ein guter Schluß, der Saal ausverkauft, die Stimmung festlich. Aber es gab meinen Nerven den Rest - siehe das Programm! [1] Und siehe, bitte, einen Augenblick diese Zeittafel und versuche, in Gedanken mitzugehen:

25. April 10 Uhr Abends ab von Chicago
26. April 9 Uhr morgens an Cleveland
4-6 nach Oberlin
7-9 Concert dort 9 _-11 _ von Oberlin zurück
2 Uhr Nachts ab von Cleveland
27. April 6 Uhr Nachmittag in New York...

Nach dem gestrigen Concert konnte ich erst um 3 einschlafen und um 8 mußte ich heute wieder aus dem Bett - aus Unruhe. - Und nun kommt die sogenannte Erholung! Gott helfe mir.
Nachdem ich so lange thatsächlich ein “Prediger in der Wüste” gewesen, im “wüsten Westen”, war das Culturpublikum von Brooklyn eine Erholung in seiner Art...
Nun ist America zum dritten Male (und wieder von einem Italiener!) entdeckt. Fehlt nur das Stückchen zu erforschen an der “stillen” Küste. - Dieser Tage habe ich enorm zu thun, und das Schiff geht 2 Tage früher als ich rechnete...
Auf ein frohes, glückliches Wiedersehen, geliebte Frau, und alles Gute und Liebe für Dich bis dahin und immer!...

[1] Es enthielt Beethovens Waldstein-Sonate; Brahms’ Paganini-Variationen; das b-moll-Scherzo, 2 Nocturnes in F-dur und e-moll und die As-dur-Polonaise von Chopin; die Abegg-Variationen von Schumann; von Liszt: den Erlkönig, die Campanella und die 6. Ungarische Rhapsodie.


(Montreal,) 13. Febr. 1911
Gestern verließen wir New York im Frühling und heute finden wir eine unbarmherzige Kälte, Schneemassen, unübersehbar...
Vorgestern Abends saß ich im italienischen Restaurant neben dem Fürsten Troubetzkoj, einem Mann von großer Persönlichkeit; ein Kardinalgesicht!
Der Boston Herold reproducirte am gestrigen Sonntag eine Nummer von 1863. Unter den Musiknachrichten war zu lesen: “Adeline Patti is still singing” (!) - Ferner eine Notiz, daß die Herren Steinway ein Grundstück in der 14! Straße gekauft hätten, um ein eigenes Haus zu bauen. - Von Boston Symphony noch kein Laut. Teresa Carreño plays “the mocking bird” at the “white House” (als Kind). - Die Schüler und Freunde von Mercadante veranstalten ihm eine Feier in Neapel. Da war vor 48 Jahren. Adelina Patti is still singing, Carreño still playing, Steinways haben ihren Höhepunkt gehabt, wo ist aber Mercadante? -
Ich sage: Nicht zurückschauen!...


(Northampton,) 15. F. 1911
...In Montreal war es ganz schön, Winterwetter wie Du es gern hast (aber zu streng), sehr guter Concert-Abend, und die Leute die Du kennst - und die Dich herzlichst grüßen.
Heute sind wir unmistakably in New-England: im Hotel serviren ältere Mädchen mit Brillen - man glaubt sich in einem Hospital. Gott strafe die Mucker, sie sind seine bösesten Diener!
Ich bin ziemlich am Ende meiner Geduld, aber nehme ich mich zusammen um nicht wieder kindisch zu werden.
Ich vermisse Dich überall, aber freue mich für Dich, daß Du zu Hause bist und dieses Seiltänzerherumziehen nicht weiter mitzumachen brauchst...
Ich hoffe etwas Belohnung verdient zu haben und kosten zu dürfen, wenn ich Dich wiedersehe...


(Boston,) 18. Febr. 1911
Ich setzte mich gestern in’s Orchester und hörte den “Don Quixote” von Richard Strauß. Es ist ein Werk von großen Qualitäten; gewöhnlich in den lyrischen Stellen, ungemein anregend in den grotesken Partieen, bäurisch naiv und überkultivirt wiederum; die Form schlecht zusammengehalten, überlegen in dem Durcheinanderwerfen der Klänge. Im Ganzen jedoch eines der interessantesten und erfindungreichsten Sachen unserer Zeit und vielleicht das beste von diesem Componisten. Ich hörte mit größter Aufmerksamkeit und stellenweise mit stärkstem Vergnügen zu. Ich möchte es aber von Strauß selbst dirigirt hören: an Turandot konnte ich sehen, wie F. vieles verdirbt. - Keine Illustration des Don Quixote hat mich jemals ganz befriedigt, auch nicht die Strauß’sche; aber sie gehört zu den besseren und geistreicheren und weniger “buchstäblichen”.
Ich gebe gern zu, daß sich die Turandot - und verstümmelt! - neben diesem Werke weniger glänzend ausnahm und glücklicherweise bin ich selbst darüber hinausgewachsen und im Stande es zu erkennen. Ich sehe in Strauß immer eine Art “Tiepolo” und fühle deutlich die Reaction der Cornelius-Schule nahe; wenn auch ohne die Steifheit und Ungeschicklichkeit der “Nazarener”. Eher würde die Erscheinung Palestrina’s gegen die früheren Niederländer eine Parallele geben für den Wechsel, der zu erwarten steht.
Ich freue mich unendlich auf meine Thätigkeit im Sommer und Herbst. Das Gefühl der Ungeduld und des fortwährend zu überwindenden Zwanges, hier, hat meine Concentration aufgesaugt. Ich bin wie Einer, der mit einem gebrochenen Bein liegen muß; dem aber sonst nichts fehlt und der wartet, bis er wieder gehen und sich bewegen darf. Ich sage noch einmal: ich darf meine guten Jahre nicht wegwerfen.
Meine Entwicklung als Componist stünde schon ganz wo anders, wenn nicht die langen Unterbrechungen und mühevollen Wieder-Anknüpfungen wären. Ich habe nur 4 Monate des Jahres, mich in die Höhe zu bringen, und dann geht es wieder einen kleinen Schritt zurück.
Ich jammere nicht, ich will nur klar werden und bleiben. -
Heute bist Du hoffentlich in England, leichten Herzens und gesund... Februar hat für mich noch 10 Tage, die sehr busy sind und schnell vergehen, dann ist jeder Tag ein Tag weniger vom März. La peau de chagrin! oder die Eselshaut...


(New York,) 19. Febr. 1911
...Ich machte heute einen Spaziergang von 3 Stunden bis zur Brooklyn-Brücke über Bovary hinunter: ganz interessant, aber nicht aufregend und lange nicht so malerisch, wie z. B. Amsterdam.
Witek sagte über seine Eindrücke ein treffendes Wort; “ich wundere mich”, meinte er, “über so viel Altmodisches, ja Mittelalterliches hier.”
Mr. Pickett wurde in Boston etwas sentimental und seufzte: “old Boylston-Street!” in dem Tone, wie viel- leicht ein Wiener ausrufen würde: “die Schtêfanskirch’n”.
Die Amerikaner stellen sich gern an (einen warmen Ton anschlagend), etwas Altes, Liebgewonnenes in ihrem Lande zu sehen. The dear old place, you know...
Gestern lernte ich in Boston den jungen Bock kennen (von Bote & Bock), der den Wunsch ausdrückte, daß wir miteinander arbeiteten.
Ja, was soll ich ihm geben? Amerikanische Konzertprogramme! Mit Fingersatz.
S. “plaudert” in der “Sonntags Staats” über Reger humoristisch-wohlwollend. - Gegen Strauß’ Rosenkavalier aber schimpfte er fast unanständig. Bei Kritikern muß man immer fragen: “Warum?”
Die Turandot “gefiel” in Boston und wurde in den Zeitungen gelobt. - Ich wünschte sehr, daß sie auf die Bühne käme; denn nur dahin gehört sie.
Dieser Gedanke bessert schon meine Stimmung.
Ich erwarte ganz ungeduldig Deine Nachrichten, aber das dauert noch!...


(New York,) 22.Febr. 1911
...Es traf sich, daß vorgestern Abend bei Schirmer, außer dem Dr. v. Hase auch ein Sohn von Zimmermann war. Es ist komisch, denn das sind meine drei Verleger.
Dem Mahler entfuhr ein köstliches Wort bei Tisch. “Ich habe gefunden”, sagte er, “daß die Menschen im allgemeinen besser (gütiger) sind, als man annimmt” -
“Sie sind ein Optimist” fuhr hier eine dicke Amerikanerin dazwischen -
- “und dümmer” schloß Mahler rasch, zu der Dame.
Gestern Abend war die erste Aufführung der Berceuse. Toscanini war gekommen. Nach zwei Complimen-ten von Mahler, mußte ich mich (aus meiner Loge) noch zwei Mal gegen das Publikum verneigen. “lt doesn’t like the piece, but it likes me”, bemerkte ich.
Die Art der Berceuse liegt dem Mahler nicht so gut, wie die Rhythmen und Trommeln der Turandot. Aber das Stück wirkt, und fast glaube ich noch immer, daß es eine Art Popularität erreichen wird.
“Wie ein feiner, bunter, japanischer Holzschnitt” sagte Schindler.
Es gab keine Celesta, dafür eine Pianino; - klang nicht so schlecht, als ich befürchtete.
Die “Daten” füllen sich unheimlich.

Febr. 23 Boston Symphony New York
24 Brooklyn
25 New York
27 Hartford
28 Recital in Boston
März 2 Nachmittag Soirée bei Frau Untermyer (Grof Appony als Gast)
- Abends Recital in Brooklyn
5 Recital in Chicago
6 Des Moines
7 Omaha
9 Kansas City
10 Sedalia
14 Erstes Concert in Californien...

Jetzt muß ich üben, ich habe 4 verschiedene Recitals und drei verschiedene “Concertos” zu spielen.
Anderes - von nun an - zu thun, faut faire une croix là-dessus -
Denke ein bischen an meine Schinderei und habe mich lieb...


(New York,) den 24. Febr. 1911
...Im italienischen Restaurant traf ich mit Consolo dem Pianisten - zusammen: der kannte den Fürsten Trubetzkoy und so lernte auch ich ihn kennen.
In der Nähe sieht sein Gesicht “rasirt” aus; man meint (obwohl man ihn zum 1. Male sieht), man hätte ihn schon mit einem großen Bart gekannt und den hätte er plötzlich abgenommen.
Er ist einfach, interessant, originell, hat aber dieselbe naiv-philosophirende-ruhig--eigensinnige Art, wie alle denkenden (oder denken wollenden) Russen.
Ist übrigens in Italien geboren (und spricht mehr italienisch als russisch) und hat eine schwedische Frau; lebt in Italien-Paris-Stockholm und (am wenigsten) in Rußland. Liest überhaupt keine Bücher, aus irgend einem unklaren russisch-philosophischem Grund: ist für alles Natürliche und Freie (theoretisch) - raucht aber und stellt in New York aus.
Consolo ist sehr sympathisch, taktvoll, kultivirt; - es war einer der hübschesten Abende in Amerika...
Heute kann Mahler die Wiederholung des italienischen Concertes nicht selbst dirigiren. -
Wenn Du dieses liest, bin ich wahrscheinlich zwischen Omaha und Kansas-City. Man sieht die Welt!


(New York,) 25. Febr. 1911
Heute scheine ich wieder einen klaren Kopf zu haben (ich habe ihn lange vermißt und war sehr unglücklich) und so schreibe ich Dir mit neu erwachender Lebensfreude. - Wie gut, daß sich die Erde dreht. -
Gestern hatte ich Viel zu thun und doch zu wenig. Das wirst Du gleich sehen.
Um 2 Uhr wurde ich gebeten meine Berceuse selbst zu dirigiren, Mahler krank und abwesend.
Das Concert fing um _ 3 an, aber es war fast 4 Uhr, bis ich dazu kam, die 10 Minuten auf dem Podium zu stehen.
Für den heutigen Todtentanz war gestern eine Probe um _ 7 in Brooklyn festgesetzt... Die dauerte 15 Minuten.
Bis 9 _ Uhr mußte ich warten, daß ich an die Reihe komme, das Liszt-Concert (in Brooklyn) zu spielen...
Gegen 10 Uhr zurück, um _ 11 war ich im Astor.
Ich habe solcherart 8 Stunden weggeben müssen um dreiviertel Stunde thätig zu sein. Die Arbeit selbst war ziemlich zwecklos und der Art, daß sie mich in Nichts vorwärts brachte. Es ist als ob Jemand an einem Bleistift, der schon gespitzt ist, weiter spitzte.
Heute Abend werde ich wahrscheinlich mit Toscanini sein, der von der Berceuse entzückt gewesen sein soll. Das kann der Oper nützen, - wenn sie einmal fertig ist.
Und wenn sie einmal fertig ist, dann soll mein eigentliches Werk beginnen!...


[New York, 26. Februar 1911]
...Zur Kunst gehört Sammlung, zum Reisen Freiheit. Wenn man Kunst und Reisen verbindet, kommen beide zu kurz...


[New York, 28. Februar 1911]
Letzten Sonntag (den 26.) war ich bei Toscanini. Er bewohnt in einem großen Hotel ein Privat-Appartement und hält eigenen italienischen Koch. Es war der schönste Abend, seit Du fortgingst. Das Essen war vorzüglich, die Conversation animirt und interessant, bis Mitternacht. Consolo war dabei, ich spielte ihnen die Sonatina, den Mephisto-Walzer, den Franciscus. Ein Steinway, der donnerte und die Töne hielt (wie lange habe ich nicht dieses Vergnügen gehabt!) brachte mich noch mehr in Stimmung. Toscanini ist der intelligenteste Musiker, den ich bis jetzt traf (von Strauß vielleicht abgesehen). Ungeheuer lebhaft, schnell, weitblickend und künstlerisch. Er sagte ganze Seiten aus meiner Aesthetik her, ich meine: er sprach meine Gedanken aus und nicht ein Wort, das mir nicht aus dem Herzen geholt war.
Er schien besondere Sympathie zu mir zu haben, denn - wie Consolo sagte - er wäre selten sonst so mittheilsam. Er sieht aus wie kaum 30 Jahre, ist aber 44. Seine Blindheit ist eine Fabel. Er braucht nicht einmal Gläser. Sein Gedächtnis ist ein Phänomen in physiologischen Annalen; hindert aber nicht seine übrigen Facultäten, wie es sonst bei solchen Unnormalitäten der Fall ist. Er hatte eben die sehr complicirte Partitur von Dukas “Arianne et Barbebleu” studirt und sollte am nächsten Morgen die erste Probe - auswendig! - halten. Es muß aber doch an ihm fressen; er ist auch nur ein Bündel Nerven... Ich, hoffe herzlich, daß mich das Leben noch enger mit ihm zusammen bringt...


[New York,] 1. März [1911]
Auch dieser Tag ist gekommen und auch dieser Monat wird einmal zu Ende gehen! Jetzt scheint es mir aber noch unerreichbar weit...
Ich muß für Brooklyns neues Programm vorbereiten, so daß ich gar keine Pause habe. Ich friere vor Müdigkeit. Am 3. dann muß ich die große Packerei für den Westen machen, denn ich komme vor einem Monat nicht wieder nach New York. Von Denken - und ähnlichen Luxussachen - wird abgesehen. Abendspaziergang ist aufgehoben. Vielleicht in Californien. Aber auch da ist so vieles gedrängt und es handelt sich - streng genommen - wieder um ein “Debut”.
“Wie lange soll das gehen?”...


(Chicago,) 4. März 1911
Mit großer Freude las ich von den schönen Eindrücken, von den angenehmen Stunden in England, von Deinem heiter-empfänglichen Gemüthe; es ist vielleicht das erste Mal, daß Du Dich auch allein freuen kannst, und ich komme wieder darauf, daß alles Behagen nur in einem selbst liegt und nicht anders[wo]...
Um so mehr freue ich mich, daß Du Dich draußen wohl fühltest, als Du hier nichts versäumt hast: es ist nur gehetzte Wiederholung.
Nun kommt allerdings das wie eine Fata Morgana verhießene Kalifornien, das gelobte Land (sogar unmäßig “gelobt”), aber da ist weder Zeit, noch Lust, noch Freiheit es zu genießen und ich bereite mich auf eine Enttäuschung vor. Hier sind die Daten:

5. Chicago
6. Des Moines
7. Omaha
9. Kansas City
10. Sedalia
14. Los Angeles
15. Pasadena (Vorort)
17. Los Angeles
19.- 21. S. Francisco
22. Oakland (Vorort)
25. Seattle
26. Portland
31.- 1. Cincinnati.

Ich lese einen großen und diesmal ernsten Roman von Wells; wunderbar ist die Verwandlung des Mannes, der mit diesem Buche in die Reihe der Erzähler ersten Ranges tritt, und eine vertiefte Empfindung, einen Strom von Ideen mitbringt, seinen Humor (von der gewöhnlichen Komik befreit) bewahrt und fühlen läßt, daß er ein Leben verdaut hat. Welche Freude, eine solche Entwicklung zu beobachten; welches Glück, sie an sich selbst zu erleben!...
Liebe Gerda, ich schreibe täglich, aber Du mußt rechnen, daß die Briefe immer um einen Tag weiter von Dir rücken. Dann - aber! - näher wieder und näher, bis der letzte zugleich ankommt mit Deinem Dich innig liebenden, dankbaren Ferromann.


(Des Moines,) 6. März 1911
In Brooklyn, Boston, Chicago waren die Recitals ausverkauft. In den beiden letzten Städten spielte ich sehr gut. Gestern, in Chicago, besonders. Sechs Hervorrufe nach der Liszt-Sonate!
Jetzt übe ich nicht mehr, ich kann nicht mehr und es giebt auch nichts mehr Neues.
Das waren zwei sehr schwere Wochen und ich fühle mich erschöpft.
Mein Kopf ist ausgebrannt...
Jetzt geht es so weiter, Reisen und Concertiren, bis um 1. April. Hanson pocht schon auf die nächsten Tournée...


(Kansas City,) den 9. März 1911
...Ich bin heute Convalescent von einer heftigen Influenza (oder so was ähnliches); - die Leute von Hanson sind unerbittlich gewesen und ich habe mit Fieber und Schmerzen reisen und spielen müssen; und seit dem vierten März hatte ich erst diese Nacht eine ausgiebige Bettruhe.
Nun geht es etwas besser, das Wetter ist so schön, daß man bei ganz offenen Fenstern sitzt und genießt. -
Meine Ideen schlummern, ich bin moralisch stumpf, physisch matt und allgemein deprimirt und grausehend.
Fräulein Curtis erhielt noch einen halbwegs wachen Brief von mir über die Verwerthung indianischer Motive. Ich hatte den (glaube ich) richtigen Einfall, daß man damit (wie mit den Flugversuchen) erst ganz allmählig und mit kleinen Experimenten beginnen sollte.
Es ist lächerlich, eine Symphonie nach Leipziger Schema mit Indianischen Melodien zu machen (wie Dvorák) oder eine Meyerbeersche Oper (wie neuerdings Herbert). Das muß sehr studirt, in die Rolle hineingelebt werden.
Ich dachte, zuerst eine oder zwei Scenen, nach gesehe-nen Ceremonien und Handlungen (sehr einfach) in einen Act zu bringen und mit einer von den “ewigen” Geschichten zu verbinden; Mutter, Sohn, Braut, Krieg, Frieden und ohne Raffinement. Es ist schon das höchste der Raffinements, so was richtig zu belauschen und zu reproduciren.
Einen solchen kleinen “Aufsatz” war ich Miß Curtis schuldig, da sie sich viel Mühe gegeben hatte, mir Melodien aufzuschreiben und zu erklären. -
Am Ende bleibt es nicht nur ein Aufsatz - ich suche schon lange nach etwas Apartem und Kurzem für eine nächste Arbeit. -
Vorläufig hält das Buch von Wells, was es versprach.
“I feel we might do so many things and everything that calls one, calls one away from something else” - steht unter Anderem drinnen. Es hat 500 sehr dicht gedruckte Seiten und ich konnte bisher kaum 150 lesen, denn sie sind auch dicht gedacht, wie der kleine Satz schon zeigt. Bis zu dem Punkte, wo ich las, macht das Buch den Ein-druck einer Autobiographie, ebenso gut wie Rousseau’s Confessions oder Alfieri’s Vita (scritta da esso stesso) und so betrachtet, gibt es die wahrhaftigste Form von Roman. Es ist auch in erster Person geschrieben. Der Titel “the new Macchiavelli” deutet aber auf einen Staatsmann von Genie, der in der Zurückgezogenheit seine Ideen aufzeichnet...


(Sedalia,) 10. März 1911
Als ich heute hier Deinen ersten Brief vom Hause (nach einem ganzen Monat!) erhielt, habe ich geweint. Der Empfang der Kinder muß Dich doch selig gemacht haben. - Es geht mir besser, es sieht wieder heiterer aus gestern in Kansas-City hatte ich einen schönen Traum von einem Orte mit dem hohen und lichten Namen Montesole, in Toscana. Kein Traum, ein Gespräch mit meinem “Freund” Walter. Darüber berichte ich noch. Heute mußte ich schnell meine Freude über Deinen Brief in Worte setzen und mein froheres Gesicht zeigen, nach den bösen grauen Wochen. Ich küsse Euch Alle und sage auf Wiedersehen. -
Euer Ferromann und Pappaferro und Mannpappa (was wieder indianisch klingt.) -


(Los Angeles,) 13. März 1911
Wir verließen Sedalia am 10. Mitternacht und sind bis heute - den 13. - _ 3 Uhr unterwegs gewesen. Der Weg führte vom Staate Missouri über Kansas, Colorado, Neu--Mexico, Arizona nach California.
Den größten Theil des Weges (fast zwei volle Tage) fuhren wir durch Wüste - etwas belebt durch einen Hintergrund von Bergketten (mitunter von fantastischen Formen) und rothem Gestein.
Ich war passiv (und noch Convalescent) und die drei Tage vergingen - zwar bestialisch weggeworfen - aber ruhig!
Endlich, heute gegen Mittag, zeigte sich Vegetation; zuerst wilde Stumpen von Palmen und Cactusse auf Sandboden, dann plötzlich die reichste Cultur von Orangenwäldern. Die Stadt ist eine amerikanische Provinzstadt (wenigstens auf den ersten Blick) mit Skyscrapers und dem gewöhnlichen Straßenbild. Es ist ein tägliches neues Wunder, wie geschmacklos und nüchtern eine solche Stadt in einem solchen Lande aufgebaut werden kann! Daß gerade dieses unendliche Geschenk der Natur versudelt werden mußte! Die unsympathischesten Leute, Japaner oder Jesuiten, hätten etwas Schöneres zu Stande gebracht. Was ist das für ein Stolz “praktisch” zu sein?...
Ich schreibe Dir heute von meiner Ankunft und wenn Du sie liest, werde ich wieder im Osten sein; dann haben diese Klagen nur noch einen Sinn der Vergangenheit, oder einen abstrakten - mache Dir also nichts weiter mehr aus ihnen. - Aber der Augenblick ist unbehaglich und ist das später ein Trost, daß es kläglich vorbeiging?
Auch fühlst Du jetzt mit mir (wenn wir uns auch nicht direkt verständigen können); manchmal denke ich, Du hast Recht, daß der Norden heiterer ist...


[Los Angeles, 15. März 1911]

Der Melodie gehört die Zukunft

Man kann sagen - widerspreche wer will - daß erst Wagner die Melodie als oberstes Gesetz, nicht nur theo-retisch, erkannte. Im allgemeinen leidet die ältere Compositionskunst an der Vernachlässigung der Melodie. Unbewußt empfinden wir an den klassischen Werken einen anderen Maaßstab und messen mit bescheideneren Maa-ßen. Der breite Strich neuerer Symphonik geht der vorwagnerschen Musik ab. Die “Achttaktigkeit” herrscht souverän, was für unsere Atmosphäre einen kurzen Athem bedeutet, und auch die Qualität, die diese acht Takte ausfüllt, ist primitiver.
Bei Beethoven ist es am auffälligsten in seiner zweiten Periode, welche die schwächste ist und als ihre Haupterscheinungen die 5. Symphonie, die Waldsteinsonate und die Appassionata, die 3 Quartette Op. 9 aufweist. Ich möchte wiederum sagen - und man widerspreche immerhin von Neuem - daß in der ersten Periode Beethoven’s das Gefühl die Hilflosigkeit besiegt, in der dritten das Gefühl die erworbene Meisterschaft übertönt. In der zweiten tritt dagegen das Gefühl gegen symphonische Ausbreitung und symphonischen Glanz zurück.
Die zweite Periode Beethovens ist die Ausbeutung der starken Einfälle der ersten. Der heroisch-leidenschaftliche Trotz der Pathétique blieb die Basis für alle ähnlichen (und nur ausgedehnteren) Stimmungsstücke der folgenden Periode, - die fünfte Symphonie voran. Aber in der Ausdehnung hielt das melodische Element nicht gleichen Schritt und verlor sich in gewisse - wie soll ich sagen? - Hochebenen, modulatorischer und figurativer Beredsamkeit. Ich denke z. B. an die Durchführung im ersten Satze der “Appassionata”, wo das große Anlaufen und Anhalten des Temperaments den Inhalt ersetzt. Es ist mehr der packende Vortrag des Redners und seine ansteckende Ueberzeugung, als sein Thema oder der Reichthum seiner Ideen, die hier wirken. Sie wirken auch demgemäß auf größere Massen und in unmittelbarerer Wucht. Aber Temperament maskirt nicht nur den Inhalt, sondern auch die Empfindung; trotzdem es, anders scheint. Die tiefste Empfindung braucht die wenigsten Worte und Gebärden.
Es ist ein historischer Gemeinplatz, der wie die Bilder einer immerwährenden Kinematographen-Vorstellung in Abständen wiederkehrt, daß man jeder neuen compositorischen Erscheinung Mangel an Melodie vorwirft. Ich las diesen Vorwurf ausgesprochen über die erste Vorstellung von Mozarts Don Giovanni, nach der ersten Aufführung von Beethoven’s Violin-Concert und beim Erscheinen der Wagner’schen Musikdramen. Und immer setzte man die technisch zunehmende Complication, gegen die melodisch abnehmende Erfindung. Fast scheint es, daß technische Meisterschaft erst nur durch das Ungewohnte wirkt, Melodie aber nur in familiären Wendungen, durch Vertrautes, als solche empfunden wird. In der That aber war Mozart reicher als seine Vorgänger als Melodiker, Beethoven breiter, vielgestaltiger als Mozart und Wagner üppiger als Beethoven (wenn auch nicht so edel und originell). Beethoven selbst löst in seiner dritten Periode zumal in den Streichquartetten - die starren symphonischen Mechanismen in Melodie und - Psychologie auf. - Wagner wurde wieder materieller und es ist gegen diese Materialität, daß einige lebende Componisten zu reagiren unternehmen. Immaterialität ist der Musik eigentliches Wesen, ihm sind wir auf der Spur; wir wandeln durch enge, unterirdische Corridore, an deren Enden ein seltsames, fernes, phosphoriscirendes Licht uns den Ausgang in eine Wunder-Grotte ahnen läßt. Sind wir einmal in den Kuppelraum des geheimnisvollen Naturpalastes gedrungen, dann können wir unsere Seele mit Sprache beschwingen lernen; sie wird in einer immer blühenderen und erhabeneren Melodik ausklingen...
Es ist einer von diesen Tagen, wo man passiv auf den Sonnenuntergang wartet, um den Kopf herauszustecken.
Der ist schwer und faul. Die Kleider kleben, man sitzt nicht gern, man steht nicht gern, am wenigsten gern liegt man. -

Es ist ein großer Mißgriff, daß - weil ich ein guter (und auch wirksamer) Künstler bin - man annimmt, daß ich mit Publikum (im Allgemeinen) in Beziehung gebracht werden sollte oder - könnte!
Künstler haben mit Publikum so viel zu thun, wie Religion mit der Kirche. Ich meine, Religion ist etwas Inneres, Persönliches (wie Talent); Kirche ist eine “Institution”; angeblich für die Durchschnittsmassen, in Wirklichkeit für das Wohl der Priester. - Aehnliche Wahrheiten erzählt (endlich!) G. H. Wells seinen Landsleuten in seinem vorzüglichen Buche. Es ist mir die schönste Freude gewesen seit dem 27. Februar, als ich es kaufte. Höre, wie schön Wells geworden ist:
“Dieses Etwas, das größer ist in uns als wir selbst, das nicht so sehr existirt, als vielmehr nach Existenz trachtet, das zwischen Sein und Nichtsein zittert, wie wunderbar ist es! Es hat die Gestalt und die Züge tausender verschiedener Götter angenommen, hat nach einer Form für sich gesucht in Stein und in Elfenbein, in Musik und in auserlesenen Worten; hat stets mehr und stets deutlicher gesprochen vom Mysterium der Liebe, von einem Mysterium der Einheit, und sollte inzwischen - außerhalb der Impulse der Menschen sich stellend - in Blut und Grausamkeit wählen? Es ist etwas, das kommt und geht, wie ein Pharus-Licht, das scheint und erlischt, das manchmal so vollkommen erlischt, daß man zweifelt, ob es jemals gewesen ....”
Mitten im Schreiben solcher Sätze erhalte ich ein Telegramm von Hanson: “gratulire zum Erfolg in Los Angeles, bedeutet sehr viel für die Zukunft.” Mein Gott!! -...
Bin ich denn Jemand, der eine Zukunft in Californien sucht? Aber vielleicht meint er die Zukunft Californiens (der ich alles mögliche Gedeihen herzlich wünsche).
Und gerade à propos lese ich wieder im Wells:
“Die meisten tüchtigen Männer thun im Grunde nicht ihr Allerbestes; fast alle passen sie sich ein wenig an, die meisten passen sich erschreckend an und beschäftigen sich zweiter Hand”. (“Most are shockingly adapted to some second-best use”.) Man kann das nicht besser ausdrücken und gar nicht übersetzen. -
Dieser Tage hatte ich die (sehr unbestimmt-visionäre) Idee einer indianischen Rhapsodie für Clavier und Orchester. -
Monte-Sole ist ein kleines Gut in Settignano, wo meine Freunde Walter aus Kansas City wohnten, und das zu verkaufen war. Sie haben mir den Mund wäßrig gemacht, ich will die Sache untersuchen. Ich finde, der Name ist schon ein Vergnügen. Außerdem ist Settignano die beste Weingegend (hinter Fiesole, glaube ich).
Enfin. Du siehst, mein Kopf wacht wieder ein bißchen auf. Heute ist, seit drei Wochen, der erste freie Tag gewesen, ohne Eisenbahn, noch Concert. (Das Üben habe ich seit Chicago eingestellt.) ... Wäre es nur nicht so heiß! Es ist wie eine Krankheit und ich bin kaum erholt von der höllischen Woche zwischen Chicago und der Reise hierher...
Einen leeren Bogen lege ich noch als Dekoration bei. Es ist wie die Biographie des Kapellmeisters Kreisler “nebst zufälligen Makulaturblättern.” [1]
Das erinnert mich wieder an die Brautwahl!!! Uff!
Ich küsse Dich und Euch, Ihr seid mir sehr nahe...
[Los Angeles,] 15. März 1911

[1] Wegen Papiermangels hatte Busoni für seinen Brief die leergebliebenen Rückseiten der Blätter benutzt, auf welchen die Gedanken über Melodie notiert waren.


(Los Angeles,) 17. März 1911
Man athmet. Es ist kühl geworden. - Gestern erst erhielt ich die “Ratten”. Ich habe sie gelesen, bin aber dem Eindruck noch zu nahe, um ihn überschauen zu können.
Grotesk ausgedrückt: ich sah fortwährend die Zeich-nungen von Zille.
Es ist viel drinnen und etwas - etwas Wichtiges fehlt. Weiß noch nicht, was. Es ist sehr lebendig. - In dem Verzeichnis von Hauptmann’s Werken steht die “Versunkene Glocke” mit der größten Zahl Auflagen. O, o!...
Die Palmen mitten in dieser amerikanischen Stadt wirken unwahrscheinlich. Englisch-amerikanische Industrie und tropische Vegetation! Wie ein Band Byron unter Konto--Büchern...
Noch ein paar Schritte, und man ist in der Welt der Seeräuber-Geschichten und Schiffsabentheuer.
Bald kehre ich den Rücken. - Heute haben sich meine Nerven beruhigt; sie waren zum Reißen gespannt. -...


S. Francisco. 20. Mz. 1911
Das einzige Mal, als ich in Nizza war, gab es Schnee. Hier ist es kühl und bewölkt. Man hat mir keine Zeit und Gelegenheit gegeben, mich von meiner Influenza zu erholen; und so schleppe ich immer einen Rest mit mir. Ich bin zu müde, um neue Eindrücke zu suchen, oder zu genießen; aber soviel ich bisher überblicken kann, ist hier Nichts, was, in Italien nicht zu finden wäre und Vieles, was Italien hat, ist hier vergeblich zu suchen.
Ich spielte gestern, 4 Stunden nach meiner Ankunft von einer 20-stündigen Reise. Gut und mit Erfolg. Von hier bis Seattle sind es wieder 32 Stunden! Von Portland nach Cincinnati sind es drei Tage, oder noch mehr!...
Diese Chickering würden mich gewissenlos nach Honolulu schicken. Das ist keine Hyperbel, denn gestern machte der hiesige Repräsentant wirklich eine solche Andeutung!! “lt is a very interesting trip” sagte er.
Es ist traurig, daß ich keine Briefe erhalte; o, es ist drückend. - Ich hoffe jeden Tag, jeden Tag. - Das ist wirklich wie ein böser Traum. Verschickt wie eine Waare...


S. Francisco, den 21. März 1911
Es ist ja - es wäre! - rührend diese Stadt zu sehen, die - halb Ruine und halb neu und unfertig - den Elementen trotzt; wenn der Begriff “rührend” sich überhaupt durch amerikanische Unternehmungen inspiriren ließe... Nicht das Erdbeben, sondern der Brand - der damals auf 50 Stellen zugleich ausbrach - war das Disaströse. Um den Brand zu isoliren, haben sie die dazwischen liegenden Häuser mit Dynamit gesprengt. Er dauerte 5 Tage...
Es ist das ganze Jahr Frühling und mediocre Leute ohne tiefere Interessen oder Ehrgeiz haben hier Nichts zu wünschen übrig. Zum “Wünschen” gehört nämlich Fantasie! - Wenn ich reich wäre, sagte der Strolch, dann würde ich den ganzen Tag zum Fenster hinausschauen und spucken...
Es giebt eine Gruppe ansässiger Musiker (deutscher und italienischer) hier... Die deutschen fielen über mich her. Sie halten die “Traditionen” hoch am pacifischen Ocean, die Gewissenhaften! Was so ein Rattenloch wie Leipzig für Unheil ausbrüten kann. - Die Italiener dagegen kehrten das Patriotische ihres Rockfutters heraus und machten viel nationalen Lärm...


S. Francisco 22. März 1911
Gestern kam noch der dicke Brief von Dir... Weniges konnte mir eine gleiche Freude machen!
Gestern endete die Schlacht von S. Francisco. “Busoni won battle” sagt eine Zeitung... Und heute sagt einer, daß ich - “wenn ich etwas älter sein werde” - wahrscheinlich noch einen ernsten Künstler abgeben kann...
Jetzt, wo es besser geht, kann ich Dir sagen, daß ich vorgestern und gestern ganz miserabel war. - Nun noch ein paar ordentliche Reisen, dann - Gloria in excelsis Deo. Und Friede auf Erden, Deinem gewiß gut-gewillten Dich liebenden Ferro-Mann.


(Seattle,) 25. März 1911
Wir sind wieder ganz hübsch nördlich gerathen. Gestern fuhren wir durch eine “richtige” Tyroler- oder Steier-Landschaft, mit nassen Tannenwäldern und Regenbogen, gegen aufgethürmte Wolken.
Auch heute ist der Himmel wie in den österreichischen Gebirgsländern, gewitterhaft mit durchbrechender Sonne...
Eben kommt Dein Brief vom 8...
An diesem Tage war ich in Kansas-City mit einer fulminanten Influenza im Bett... In Los Angelos war ich von der Hitze geschlagen. Von dort bis hierher sind es volle 2 Tage und 2 Nächte Reise.
Von Kalifornien an sind die Neger fast verschwunden, dafür treten die Chinesen massen-weise an die Stelle. Auch in den Hotels bedienen sie, manchmal auch Japaner.
Die kleine Fahrt von S. Francisco nach Oakland über die Bay war ganz schön, aber für mich nicht aufregend, denn ich war nicht mehr eindrucksfähig. Im ganzen habe ich, deswegen, von Californien fast gar keinen Eindruck!...
Ich kann sagen, daß ich diesmal viel gelitten habe, und es wird mir immer schwerer. Meine Jahre kräftigen Geistes so einzusperren und lahm zu legen ist eine Tortur; überdies sehe ich gar nichts vom Leben, habe keine Freuden. (Ein anständiges Hôtel ist schon ein Geschenk des Schicksals --)...
Mein Wappen mit dem bekränzten Eselskopf werde ich bald in Stücke hauen. -
Seit Chicago (5. März) habe ich mir Wort gehalten und nicht mehr geübt.
Mit Miß Curtis habe ich über indianisch-melodische Möglichkeiten correspondirt und ich habe auf den Grundfehler aller bisherigen Versuche gewiesen. Heute schreibt sie mir: “Your letter is like your book - a few words disclosing a view from the mountain-top.”
Leider kann man nicht alles selbst machen, und ich habe immer Wells’ Worte in Erinnerung, von den Tüchtigsten, die sich nur im “Zweitbesten” bethätigen...


(Chicago,) 30. März 1911
...Heute Nacht geht es nach Cincinnati (um meinen Geburtstag zu feiern). Wie ich dort das Es--dur Concert von Beethoven ohne Finger, ohne Kopf und ohne Probe spielen soll - God knows. Es ging so Vieles, es wird auch dieses gehen.
Seit dem 21. Februar hat Mahler nicht mehr dirigiert. Am 24. sprang Spiering für ihn ein und - - blieb und wird bis Ende der Saison bleiben und geblieben sein. Es war anzuerkennen, daß ein durchschnittlich guter Geiger so viel présence d’esprit zeigte und im Stande war, die Programme anständig durchzuführen. Aber - -! Es gehört und wird-gehören zu meinen schmerzlichsten Erfahrungen, wie die New Yorker (Publikum und Kritik) sich dabei benahmen.
Die Sensation, daß ein Concertmeister unvorbereitet dirigiren konnte, hat auf sie größeren Eindruck gemacht, als die ganze Persönlichkeit Mahlers jemals vermochte! Man hat Spiering zum großen Dirigenten erhoben und im Ernst von seiner dauernden Anstellung gesprochen. Nicht ein Wort des Bedauerns über Mahlers Abwesenheit ist gefallen!!
Man liest ja von solchen Beispielen in der Geschichte, aber wenn man sie erlebt, greift man sich an den Kopf...
Im Waggon hatte ich viel Zeit zu denken und habe auch Manches gedacht.
Ich glaube, ich bin ein wenig weiter gekommen.
Besonders habe ich die Idee der Allgegenwart der Zeit fast erklärt - aber ich habe nicht gefunden, warum wir Menschen die Zeit als einen Strich von rückwärts nach vorwärts begreifen, während sie nach allen Richtungen sein muß, wie Alles im Weltsystem...
Ich habe noch mehr gedacht.
Und immer komme ich näher der Wahrheit, daß unsere Musik nur ein Gezirp ist; - das ist nicht mehr Idealismus, es ist logisch zu beweisen. Nein, ich schreibe nicht principiell Magazine-articles, aber die Fragen drängen sich immer mehr und die Zeit wird kürzer - - -
Ich darf nicht ganze Monate so in den Wind werfen, wie diesesmal -...
Es ist mit einer ernsten Freude, daß ich an die Heimfahrt denke. Ich habe die Empfindung, daß meine wichtigste Zeit anbeginnt und daß sie die - (sagen wir) definitive ist. Die Freude ist nicht geringer, weil sie ernst ist, im Gegentheil, sie ist tiefer. Sie ist tief und schön, aber sie hat die ganze Jugendlichkeit verloren, wie die späteren Selbstbilder Rembrandts. Möglich, daß ich zu Hause wieder anders werde und dem Früheren ähnlicher. Aber wie es auch werde, ich freue mich innigst auf Euch und mich selbst. Inniger noch als sonst...


Cincinnati 31. März - 1. April 1911
(Nachts.)
...Es ist halb eins morgens, in Berlin halb acht, es rührt sich vielleicht schon im Hause, und es ist der erste April. Ich hatte eben einen ganz netten Abend mit Miß Burston, der erste menschliche Abend seit Ewigkeiten...
Petri gab ein enormes Busoni-Recital in Manchester; ich bekam nur das Programm. -...

1. April, Vormittag
...Jetzt habe ich einen kleinen Lunch mit den Italienern hier... Ich schreibe Nachmittag weiter - ich denke so an zu Hause. Es ist dort 7 Uhr Abends.

Nachmittag
Ich hatte die Schlauheit, im anderen Hôtel nach Post zu fragen, und glücklich lag das ein Bündel! Die Brautwahl hat mir große Freude gemacht, am meisten von Allem. Von allen Briefen war der von Lori der gefühlvollste und einfachste, daher in Empfindung der tiefste...
Es ist noch immer der erste April - bald wird er vorüber sein und - weg, weg, sagte der Hofhund.
Viele haben mir Liebes geschrieben, und auch hier waren die Leute herzlich...


[New York,] 7. April [1911]
…Morgen soll ich also das Schiff besteigen - da werde ich Verschiedenes ausdenken in der Ungestörtheit. -...
Ich möchte so gern Ruhe haben; aber -. I give it up...


Nach Göhren auf Rügen
...Heute war der Vormittag schön und ergiebig: ich habe den schlimmsten Theil der Partitur immer zurückgeschoben; nun muß ich’s aber tragen, und - zu Ende...
Es ist so still hier oben, und dazu die Sonne, als wär’s noch weiter Sonntag. Manchmal scheint auch das Leben so schön als hätt’ es nur Feiertage.
Gestern nachts 11 Uhr stand ich im vollen Mondschein und in der ganz einsamen Straße vor der mystischen Thüre des Landgerichtbaues. Es war so eine Zauberflöten-Stimmung...
[Berlin,] den 10. Juli 1911


Nach Göhren
Nun ist heute einer der schwierigsten Abschnitte fertig geworden und es sind 70 Seiten MS. für den Stich bereit...
Gestern Morgen besuchte mich der alte Geheimrath Hase. Wir kamen vortrefflich mit einander aus: das Leben hat auch ihn weicher gemacht. Nun fangen die Söhne an, ihn zu kritisiren; und er flehte mich an, die Liszt-Ausgabe zu fördern, damit sie wieder nicht denken, er hätte Unmögliches unternommen. - Die Ungarn sind unter einander uneinig geworden. Jetzt ist der Bartok an der Liszt-Ausgabe ...
[Berlin,] am 15. Juli 1911


Nach Göhren
Ich las die Briefe Balzac’s und die Hoffnung auf Buddhismus.
Ich selbst bin nun dazu gelangt, Lehren, Philosophieen und Religionen als Kunstwerke anzusehen und ich stelle mich auf die Seite des gewandteren Predigers. Ich glaube kaum, daß das Individuum im Volke davon glücklicher oder weiser wird. Ich fand, daß der Schuster der Bibel, der 1001 Nacht, oder des Alten Roms immer derselbe Schuster ist. So sind dieselben die Künstler, die Priester, die Soldaten, die Courtisanen. Wenn ein Landsknecht, die Bibel in der linken Hand, wüthend dreinschlägt; oder ein Sarazene, mit Mohammed im Maul, Köpfe abschneidet, ist [es] genau dasselbe.
Nun hast Du wieder einen Brief mit Magazine-Articles; aber es gibt nichts Neues; von mir selbst reden brauche ich Dir gegenüber nicht; und Dich meiner Liebe versichern wäre überflüssig, weil Du weißt, daß ich immer bin und bleibe Dein... Ferromann
[Berlin,] am 17. Juli 1911


Nach Göhren
Bitte nimm den folgenden kleinen Aufsatz geduldig auf:
Ich habe im ganzen von unserer Zeit viel Gutes gehalten und sie auch für künstlerisch interessant geschätzt. (Aber die Eindrücke fallen so mit der eigenen Stimmung auf den Boden der Seele, daß man erst später sie wieder auseinander scheidet, wenn die Stimmung verblaßt ist.)
Jetzt sehe ich aber an dieser Zeit eine wirkliche Übermacht ihrer “drei Gewaltigen”, nämlich
des Geldes,
der Industrie,
des Sports.
Daneben droht die jüdische Geschäftigkeit: aus den Massen Individuen zupfen zu wollen und die Individuen in die Massen zu stampfen.
Geld und Sozialismus werden versuchen einander aufzufressen wie “Siegfried und Fafner, Fafner und Sieg-fried” - die Industrie mit ihren edlen Zielen von Billigkeit, Schnelligkeit und Massenhaftigkeit ist eine Don Quixotiade...
Ich hatte Bedürfnis Dir diese kleinen Reflexionen mit-zutheilen, wie ich Dir Alles mittheile. Halte es also nicht für Trockenheit...
[Berlin,] 18. Juli 1911


Nach Göhren
...Mein Denken ist nur auf die Partitur gerichtet.
Bei diesem Theil habe ich geschwitzt, er war 5 Jahre alt und verbaut. Nun ist er ganz sauber. Nach diesem kommt der allerletzte Theil, der aber sehr wichtig und complicirter ist; aber besser componirt. - Und dann ein langer, großer, tiefer Seufzer (der Erleichterung)...
[Berlin,] am 20. Juli 1911


Varese, 4 Settembre 1911
Ich habe nun beschlossen in Varese zu bleiben, bis ich den Rückzug antrete...
Die Landschaft hier ist von höchster Schönheit, die Luft sehr frisch. Alles hübsch und angenehm...
Danke für die Zeitungen. In der Allgem. M. Z. hat ein Dr. Friedhof meine Fantasie zu begraben versucht. (Einen solchen Witz nennt Kleist “von Shakespearescher Eigenschaft.”) Er bemerkte, daß ein moderner und nicht-Bach’scher Zug in dem Werk wäre. “Sie sind aber intelligent” sagt Mark Twain in einem ähnlichen Falle. Oder nach Brahms: “Das merkt jeder Ochse.”...


Es ist schon die vierte Nacht, daß ich schlecht schlafe - es bringt mich herunter...
Die Bücher regen mich nicht an; das Journal der Gon-court thut es zwar, aber es macht mich immer melancholisch.
Der Aufenthalt hier im Hôtel ist eigentlich schön und das Wetter glänzt immer weiter - es ist ein denkwürdiger Sommer...
Das Clavier fehlt mir doch, auch wenn ich es nicht spiele...
Hier ist ein neues Vergnügungsetablissement mit dem schönen italienischen “Kursaal”. (Das charakterisirt das jetzige Italien.) Unter den Attractionen waren - - Rollschuhläufer (auf italienisch: Skating Ring). Sie irritirten mich mit ihren dumm-eitlen Gesichtern und der leblosen Körperhaltung in einem Grade, daß ich mit der ganzen Seele wünschte, es möchte einer hinpurzeln und sich was anthun. Nach 5 Minuten stürzte der “Meister” und riß sich die linke Hose am Knie vollständig entzwei. Ob ich daran Schuld war? - Ti faranno le corna, sagte Anzoletti. (Das ist wenn man den Zeigefinger und den 5. ausstreckt, gegen das “böse Auge.”) -

Nachmittag
...Es ist die alte Geschichte, daß ich nach guter Arbeit schlafe; nach keiner Arbeit nervös werde. Die Abende hier sind nicht “erholend”; es ist langsamer Mord.
Nur die Landschaft (mit diesen Mondnächten!) ist zaubrisch...
Aber psychologisch interessant ist es doch, warum mir in der größten Ruhe am wenigsten einfällt und ich selber unruhiger werde. - Fragezeichen. -
Von allen Sommer-Orten und ähnlichen Verlegenheits- und Spekulations-Anstalten finde ich es hier doch am schönsten. Ich finde auch wieder bestätigt, daß in Italien das Land - und nicht die Stadt - das Lebendige ist...
[Varese, 5. September 1911]


Nach Stockholm
Ich bin zu Anzoletti gezogen - hielt es im Hotel nicht aus, nachdem ich die sechste Nacht ohne Schlaf und mit Angst verbracht. - Heute Nacht habe ich wieder gut gelegen und geruht. Ratschi-Potschi!
Dieses Varese gefällt mir immer besser - es ist sehr vielseitig, die Landschaft setzt mich stets wieder in Erstaunen; die Menschen sind freundlich, die Frauen sehr hübsch...
Habe meine Arbeit wieder aufgenommen. -...
[Varese, 9. September 1911]


Nach Stockholm
[Basel,] 13. Sept. 1911
Ich bin wohl aber unruhig. So Vieles steht mit zu thun bevor und die Oper (ich wußte es!) ist stecken geblieben. Espère enfant demain...

1912



(London,) 15. März 1912
Es ging gestern sehr gut, dauerte 2 _ Stunden! Adagio und Fuge aus 106 und Liszt’s Sonate gelangen besonders. Allerdings konnte ich am Tag vorher zum 1. Male ungestört üben, 5 Stunden lang. Die Paganini-Variationen [von Brahms] sind “fanées”, altjüngferlich geworden, trotzdem sie in ihrer Jugend ganz reizvoll waren. Zu wenig als Bravour-Stück, zu wenig als ernste Musik. Chopin’s Balladen halten sich frischer, aber die 2. und 3. sind merkwürdig schlecht komponiert...
Ich habe mir eine kleine Belohnung gegönnt, die erste Ausgabe von Gulliver, die ich endlich fand: sie kostet 70 Mk., behält aber den Werth und auch darüber.
Ich finde diesmal nicht, daß London so schön ist, wenn gleich die Straßenbilder Einiges bieten, das man in Berlin nicht sieht. Da die Leute hier immer leise sprechen, so wirkt das auf die Gehör-Atmosphäre anders als Paris und Italien. Dafür lieben sie hier Konzerte und Gottesdienste auf den Plätzen abzuhalten; es klingt allerdings nicht wie italienische Serenaden. Die Dreh-Klaviere sind auch charakteristisch. Ebenso die Pfeifen zum Rufen der Droschken. Aber niemals hört man eine Menschenstimme sich erheben. Ist Dir das jemals aufgefallen?...


Nun ist der Sonntag gekommen, Spiegel der englischen Nation, Amputation am Leben. -
Alles wiederholt sich, London und Sonntag, Erschöpfung und Bücher. Wie vor 10 Jahren...
[London,] 17. Mz. 1912


(London,) 18. März 1912
Ich war bei den “Futuristen” und habe von einigen Sachen einen packenden Eindruck gehabt. Allerdings, nicht ganz wohl und etwas nervös, war ich sehr empfänglich. Dieser Boccioni scheint mir der Stärkste; er hat ein Bild: die wachsende Stadt, das wirklich groß ist. - Ausgezeichnet ist ferner “das Verlassen des Theaters” von Carrà. Und endlich der Tanz bei Monico von Severini, der selber sehr ungleich scheint...
Ich mußte Dir einiges darüber sagen, solange der Eindruck noch lebendig war. (Leider sehe ich auch diese Leute schon “altmodisch” werden.)
Jedenfalls hat es mich erfrischt und erfreut...


(Hamburg,) den 25. Mz. 1912
Nach den ersten unvollständigen Eindrücken, habe ich gute Hoffnungen [1]. Ich hörte die Hälfte des II. Aktes im Orchester und schaute einige Dekorationen.
Die Instrumentation klingt, wenn auch das Orchester noch unsicher und fehlerhaft war. Die Bilder sind sehr hübsch.
Frl. “Albertine” möchte sich selbst am Clavier beglei-ten, doch hoffe ich das noch abzuwenden! Jetzt, um _ 6, haben wir Ensembleprobe am Clavier...

[1] Betrifft die Proben zur ersten Aufführung der “Brautwahl”, die am 12. April 1912 stattfand.


(Hamburg,) 26. Mz. 1912
Die Probe am Klavier war - gestern - sehr erfreulich.
Thusman und Manasse sind ausgezeichnet. Das Finale mit dem Rettich-Spiel haben sie besonders wirksam gesungen. Es ist, glaube ich, von großem Effekt. Auch die Szene am Froschteich hörte ich mit Vergnügen. Bei der Mise-en-scène merkt man, daß Reinhardt einen verwöhnt. Immerhin wird sie ganz gut aussehen. Ich möchte den Mond haben am Schluß des Froschteiches, das scheint Schwierigkeiten zu machen.
“Wir haben doch den schönen neuen Mond gekauft!” schreit der Regisseur zum Maschinisten.
Sehr gut ist die Aufgabe mit dem Funkenspiel gelöst; die Kirchen-Erscheinung wird auch mit Eindruck gemacht werden. Die Fuchsschnauze funktioniert noch nicht und auf das Auf-und-Ab-Schweben wird man leider verzichten müssen.
Bis so etwas alles beisammen ist!!
Für den ersten Tag hatte ich jedenfalls eine schöne Ernte an Impressionen. -
Ich gehe jetzt wieder zum Theater. Auf Wiedersehen, liebe Gerda, ich glaube es wird gut!


(Hamburg,) 2. IV. 12
Der gestrige Abend war ganz reichlich von Eindrücken erfüllt - wo ich fast Nichts erwartet hatte! - Denn (erstens) las ich in Villier’s Buch eine gute Strecke - sodann gerieth ich in Hamburg in den III. Akt der Walküre (ich darf ungehindert auf die Bühne gehen) und schließlich begegnete ich im Hotel noch dem William Steinway, mit dem ich Manches besprach.
Das Buch “L’Ève future” ist sehr ungewöhnlich; in seinem Gemisch von subtilstem Denken und bedenklichem Barockwesen; von verblüffender Originalität und häufigen Reminiscenzen; endlich merkwürdig für mich dadurch, daß es eine Reihe Betrachtungen enthält, die ich selbst früher angestellt habe.
Die Abstammung von Poe (Ligeia), Hoffmann (der Sandmann) und Wagner (Beschwörung der Kundry durch Klingsor) ist offenbar.
Was ich von demselben Wagner gestern hörte, klang mir abscheulich... Den versöhnend-schönen Schluß konnte ich nicht abwarten. Diese Walküren, diese ewig stampfenden Speere, die sinnlosen Bewegungen und unsinnigen Unbeweglichkeiten, dieses Orchester - das bald zuviel, bald zu wenig sagt - sie trieben mich hinaus, bevor Wotan begann sich zu verabschieden: und der Text - - -!
Ich gehe jetzt in die Probe, schreibe später weiter.
Nun ist die Probe gewesen. Am Klavier wird sie abgehalten. - Die Kirchen-Scene klingt sehr gut; darin ist all meine Jugenderinnerung von katholischer Stimmung wiederzufinden. Der Leonhard entwickelt sich. Er steht besser auf der Bühne - nämlich der Sänger.
Gestern nahm ich noch einen Brief, uneröffnet, mit. Er war von Leßmann, zum Geburtstag, an “Herrn Komponisten” adressirt...
Ich hoffe immer noch sehr Gutes. -
(Vielleicht daß ich zu Ostern nach Hause komme.)
[Beiliegend ein Briefbogen über die Vorbilder zu Villiers’ “L’Ève future”:]
Hoffmann: a) der Sandmann
b) die Spottvögel (aus Klein Zaches)
R. Wagner: Parsifal
a) als Handlung: die Beschwörung Kundry’s
b) als Idee: Kundry in 3 Gestalten und das Somnambulische
E. A. Poe: a) Morella
b) diese Groteske von dem ideal-schönen Manne, bei dem Alles künstlich ist (Titel: vergessen).
Ich bin gerade in dieser Literatur gut informiert und es interessirte mich, die Reminiscenzen in L’Ève future genau festzustellen. Ferner scheint es mir, daß ein Zug Rops’scher Diabolik (und dessen Cynismus) durch das Buch gehe, welches, trotzdem, von einziger Originalität und tiefwühlender Gedankenrichtung ist.


(Hamburg,) 6. Apr. 1912
Ich habe mich furchtbar gefreut, daß Du schon morgen kommst!...
Je mehr zusammenwirkt in der Oper, desto schwankender wird sie. Gesang allein war gut, mit Orchester - weniger, mit der Scene - noch schlimmer. Jeder fügt seine eigene kleine Ungenauigkeit dazu, und zum Schluß wird es eine Summe von Ungenauigkeiten.
Die beiden letzten Tage war ich ganz erdrückt. Die Zeit ist (wie immer!!) zu kurz...


Nach Ringgenberg bei Interlaken
Ich bin in einer angenehmen Stimmung (trotzdem das Wetter grau geworden) - denn (vor Allem): ich habe heute wieder eine kleinere gute Arbeit beendigt: der Fantasia contrappuntistica kleine Ausgabe, wozu ich ganz neu, als Einleitung, drei Variationen über denselben Choral (Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’) schrieb...
Heute empfing ich ferner Brief und Buch [1] aus München. Der Theater-Direktor wünscht verbindende Musik - vielleicht Orgel oder Quartett - zwischen den Akten. Was denken eigentlich diese Theater-Leute, Maler und Verwandte, von Musik? So Etwas, wie verdunkelte Beleuchtung und Auswattierung.
Das Stück von Wedekind, so weit ich’s gelesen, ist gar nicht orgelmäßig, sondern scheint mir eher so im sati-rischen und ziemlich kecken Lebensanschauen zu stehen. Das wäre ein Grieg’sches Mißverständnis, in aller Aufrichtigkeit eine Trauer-Musik zu schreiben, wie zum Peer Gynt. Ich schicke Dir das Buch, sobald ich es selbst gelesen und bitte Dich, Deinen Eindruck zu sagen.
Die “wachsende Stadt” steht in Deinem Zimmer. Das Bild wirkte auf mich fast noch stärker. Es ist sehr packend und von großem malerischen Können..
[Berlin,] 20. Juli 1912

[1] Wedekinds “Franziska”.


Nach Ringgenberg
[Berlin, 24. Juli 1912]
Hast so schön geschrieben, daß mir ganz angenehm und warm wurde; ich kann Dir alles Liebe mit gleicher Wärme zurückgeben...
In den letzten 3 Tagen habe ich mich mit der Faust-Parodie Wedekinds beschäftigen müssen, einen Plan überdacht, Besetzung, Dauer, Charakter und sogar die Operettenmusik skizzirt. Denn bevor ich ablehne, muß ich selbst wissen: warum. Wie denkst Du?
Dafür:
1. Wenige und ganz reizvolle Arbeit.
2. Eine große Premiere.
3. Hilft vielleicht weiter.
Dagegen:
1. Vielleicht die ganze Mühe umsonst.
2. Komme aus Mißverständnis in den Wedekind-Kreis.
3. Nehme mir eigentlich die Faustidee selber weg. Willst Du mir Deine Ansicht sagen?...
Es sind 12 kleine Nummern zu schreiben, wie ich berechnet; und für nur 20 Mann Orchester. (Letzteres zieht mich sehr an.)...


Nach Ringgenberg
[Berlin, 28. Juli 1912.]
...Gestern sagte mir der Maître-d’Hôtel vom Schauspielhaus (Nollendorfplatz) daß er eine Composition von mir gesehen hätte, die der Kaffeehaus-Kapellmeister spielen will. Welche? - Ja, es war darauf eine Frau an einer Wiege abgebildet. [1]
Liebe Gerda, wenn das in meiner Gegenwart geschieht, so trifft mich der Meyrink’sche violette Tod...
Da war dieser Tage eine Idee zu einer Sonate, folgender Art:
Chaos - Rastlose Arbeit - Heiterkeit - Ruhe und Schönheit.
Praeludium - Fuge - Scherzo - Adagio.
Die Wedekind’sche Faustina (oder ein Gespräch gegen die Liebe) sage ich, glaub’ ich, ab. Warte nur noch auf Deine Meinung...

[1] Es war die auf den Tod seiner Mutter geschriebene “Berceuse élégiaque” für Orchester.


Dein Brief hat mich in dem Beschluß bestärkt, die “Franziska” fahren zu lassen - ich wußte es ja schon! - und heute schrieb ich ab, nach München...
[Berlin,] 29. Juli 1912


Nach Ringgenberg
...Ich habe mich inzwischen mit kleineren Sachen beschäftigt. Ein größeres Werk anzufangen, hieße aber “das Geheimnis” [1] vorläufig bei Seite setzen, auf welches sich mein Gemüth und Geisteszustand eingerichtet hat...
Mein Motiv zu einer Sonate würde sich einem Streich-quartett nicht so gut anpassen lassen: Macht und Kon-trast im Klange würden dabei vermißt. Überdies habe ich ein Gefühl der Pflicht, das “Klavier” noch einmal erstehen zu lassen. Für ein Quartett müßte ich einen anderen Gedankengang einschlagen...
[Berlin,] am 3. Aug. 1912

[1] Opernplan, nach Villiers de l’Isle-Adam, dessen Text Karl Vollmoeller ausführen sollte.


Nach Ringgenberg
[Berlin,] den 5. August 1912
Daß selbst eine Kaiserliche Post Kapricen hat! Langten eben 2 Briefe und eine Postkarte von Dir (zu meiner großen Freude) zugleich an. Wegen des Sonntages!... Wo steht der Sonntag im Naturkalender? - Trotzdem, d.h. obwohl diese menschliche Einrichtung zum neue religiöser Begründung ist, ist die “Gläubigkeit” nicht immer schädlich... (Das Schlimme ist: das versteckte Wesen und die Intoleranz gegen Andere.)
Denn was schadet es zu “glauben” und was nützt es, nicht zu glauben? Als ich - mit vielen Kämpfen - die materialistische Lehre in mich kriegte, glaubte ich Wunder was errungen zu haben und war nicht glücklicher, eher weniger! Und wie ging es mit der Schopenhauer’schen Philosophie? - noch böser. Religion ist - so scheint mir - wie die Kleidung; Jeder muß sie nach dem eigenen Körper zuschneiden und sie tragen ohne bei den Vorübergehenden zu viel Anstoß zu erregen, viel mehr so, daß sie diesen gefällig erscheint. -
Nun ist etwas Klarheit geworden. Gestern machte ich die Brautwahl-Suite zu Ende (ein gutes Stück!!), die Umarbeitung der Oper wird nicht mehr als 2 Wochen [in Anspruch] nehmen. Im September bin ich frei, um mich für die Saison vorzubereiten. Langweilig und wurmhaft ist nur die (geschäftliche) Korrespondenz...


(Paris, le) 11 Août 1912
Die Vormittage in Paris beleben den Puls und stimulieren die Gedanken und das “Déjeuner” rundet sie reizvoll ab. - Aber wo sind, Abends, die Berliner Lichter und Blumen und Berlins jugendlicher Übermuth? Die “kleine” Pariserin kleidet sich auch im Sommer schwarz, und sie verschwindet vom Straßenbild nach Geschäftsschluß. - Dann ersetzt sie die ewige Cocotte, die im Grunde ebenso nüchtern-wirthschaftlich und positiv ist, wie diese sämmtlichen Mademoiselles M . . . . aus denen das weibliche Frankreich besteht. Gegen einen Sommerabend Berlins, wirkt die Pariser Nacht fast düster. Der “Durchschnitt” der Männer hat eigentlich einen dümmeren Ausdruck als anderswo; die Frau ist im allgemeinen stärker, energischer und schlauer; nur sieht sie ihr Ziel auf ganz kurze Schritte und steht fortwährend auf dem “qui vive”. -
Gleich am ersten Tage (Freitag) meiner Ankunft frühstückte ich bei Foyot, weil mich die Atmosphäre jenseits der Seine ganz anders anspricht. “Ici on lit des livres, de l’autre côté on lit les journaux”, sagte mir Widor, den ich beim Frühstück traf. Als ich ihm erzählte, was mich hergebracht, machte er eine Bemerkung, die das magistrative Frankreich (la France fonctionnaire) sehr kennzeichnet. “Quand vous serez propriétaire (!) on vous comptera parmi les nôtres”.
“Propriétaire”, das ist so was Solides, Respektheischendes und Unveränderliches...
Ich beschloß, gestern (Sonntag) Vormittag, nach dem Gare de l’Est zu fahren, als aber der Chauffeur auf dieses Kommando erwiderte “pas plus loin que ça?, je préférerais aller à la campagne” - da fiel mir ein, daß ich den Ausflug im Automobil machen könnte, was ich auch sofort vereinbarte. Es ging durch die Rue du faubourg St. Antoine und über den Parc de Vincennes hinaus. Der Weg führte durch drei oder vier Dörfer, und durch eine blühende, gepflegte, nicht auffällig malerische Landschaft...
Das Haus, das mich bis von Berlin zog, ist hübsch und billig, aber es fordert noch einmal die Summe des Preises, um es bewohnen zu können...
Ich kam gegen Abend zurück, dinierte gut (die frische Luft hatte den Magen angeregt, aber den Kopf angegriffen) und verlebte noch einen ganz anregenden, einsamen Abend, bis Mitternacht, auf dem Montmartre. -
Anders verlief der Abend vorher und das werde ich der Reihe nach erzählen. Procediamo con ordine. Noch einen früheren Abend (nämlich Freitag) hatte ich Vollmoeller auf dem Boulevard getroffen. Er sprach mich italienisch an und meinte, wie er in Paris immer wieder an die Superiorität der Italiener über die Franzosen erinnert werde... Er hatte an dem Tage eine lange Konversation mit d’Annunzio gehabt. Wir verabredeten für den folgenden Tag 1) gemeinsames Frühstück 2) ausführliche Besprechung des Textbuches [1] 3) Zusammenkunft mit d’Annunzio.
Das Frühstück fand durch ein Mißverständnis nicht statt. Die Besprechung ging beim Thee vor sich und ergab die besten Erwartungen für mein kommendes Werk. (Mit so etwas in der Tasche bin ich wieder ein neuer Mensch. Die unendlich vielen Details, die zu erwägen; das fortwährende Formen und Umformen: geradezu verjüngend!)
Spät Abends gingen wir zum Hôtel Meurice, rue de Rivoli, einem somptuosen Gasthof.
D’Annunzio empfing uns herzlich - weltmännisch, in Frack und Tanzschuhen und in Gesellschaft zweier Da-men und zweier Herren de la haute société. Eine sehr schöne Italienerin von angeborener Liebenswürdigkeit war dabei, an deren Namen sich Gabriele fast sinnlich berauschte. Sie heißt Donna Beatrice di Toledo, Marchesa di Casafuerte, und das klingt allerdings wie ein ganzes Theaterstück von Calderon. Die vier zogen sich gleich zurück, nach dem üblichen: “Je vous ai applaudi” und “quand vous reviendrez ä Paris......“ und wir blie-ben zu Drei mit dem Olympischen zurück. D’Annunzio ist sympathisch, rasch und lebhaft denkend, bestrickender Erzähler - ein wenig “parfürmirt”, geziert, und dabei zuweilen schüchtern und verschämt. Er berichtete über sein neuestes Stück, welches M.lle Rubinstein “auf den Leib” (wörtlich) geschrieben und infolge des vielen Mimischen und häufigen Tanzhaften, fast so viel Musik erfordert, als eine Pantomine. Dabei entwickelte er eine so reiche Bilder- und Farbenpracht, daß einer ganz gebannt wurde, obwohl man sich am Ende gestehen mußte, daß er nur eine Reihe von Gemälden und Costümen und Ceremonien zusammentragen.
Er deutete an, daß er die Musik gerne von mir hätte... Aber Vollmoeller sagte mir hinterher, daß es eine erfolglose Mühe würde. Er glaubt nicht an den Dramatiker d’Annunzio. (Er [d’Annunzio] ist sehr abhängig vom Begriffe des Erfolges, darum sein unermeßlicher Respekt vor Wagner und - - - selbst vor Puccini!)
Ich und d’Annunzio schieden sehr herzlich und mit manchem keimenden Plane und ich habe mich dieser Begegnung sehr gefreut.
So habe ich meine kleinen Missionen erfüllt und wende mich ohne Hast heimwärts.
Ich freue mich ja selbst so Euch Alle beisammen zu finden!...

[1] Zum “Geheimnis”.


(Paris, le) 12 Août 1912
...Ich kaufte gestern etwas sehr Seltenes, fast Unbekanntes und ausgezeichnet Schönes für 25 francs nämlich 12 Compositionen von Doré zur Legende des ewigen Juden, in Original-Ausgabe. Sie sind sehr stark und auch ungewöhnlich als Holzschnitte (zuerst hielt ich sie für Litographieen). Erschienen 1862, also genau vor 50 Jahren, zugleich mit dem 1. Druck der “Misérables”. Auch diese “styllose” Zeit ist nun zur “historischen” geworden und wir sehen an ihr ein ausgeprägtes Gesicht. Jedenfalls in Frankreich war sie bedeutsam (ich glaube auch in Oesterreich). - Heute früh, noch im Bett, fiel mir dieser Aphorismus ein:
“Weil sie ihnen vorausliefen, sahen die Zurückbleibenden nur ihre Rückseite und da behaupteten diese, sie hätten kein Gesicht.”
Gestern Abend mit Vollmoeller ein langes und ernstes Gespräch, zunächst über Literatur: er hält Stefan George für den Großen unserer Zeit “der das sprachliche Gewissen der Literaten bewacht”. Von Goethe hält er nicht so viel wie ich. Ich sagte: wie muß - nach Klopstock und Gellert - ein Vers, wie: “Stürzen wir uns in das Brausen der Zeit”, zuerst geklungen haben! Den Begriff der Zeit mit dem des Geräusches zu verbinden und zugleich der Bewegung und Sinnlichkeit, das war bis dahin unerhört. - Er gab es zu. Endet immer mit dem Refrain: “Sie sind ein viel besserer Literat, als ich.” So, daß d’Annunzio mich empfing mit dem Wort: Sò, che siete un filologo. -...
Heute und morgen will ich noch ohne Ziel ein wenig schlendern... Seid innigst willkommen geheißen zu Hause, bald sitzen wir zu vier am runden Tisch (der zu klein ist)...


(Paris, le) 14 Août 1912
Ich bin gestern eine halbe Stunde um das Opernhaus herumgegangen und habe den Plan studiert. So viel als ich über Baukunst sagen darf: ich finde die Form genial und die Ausführung meisterhaft. Vor Allem der Grundriß ist herrlich und es war ein prächtiger Einfall, daß man, unter der Büste Garniers, anstatt einer Inschrift, diesen Grundriß setzte. Aber auch die Mauern zeigen nicht eine Linie, die nicht mit größter Sicherheit und Klarheit hingestellt wäre.
Die Dekoration ist allerdings schwer und konventionell; vielleicht war Garnier weniger Künstler als vielmehr reiner Baumeister und vieles fällt auf Rechnung seiner Zeit; wer weiß jedoch, ob man ihm später nicht in Allem recht geben wird. Sicher war ihm darum zu thun den repräsentativen französischen Styl zu wahren, die nationale Angelegenheit zu betonen und dazu mußte er die Staatsuniform anlegen. Ich sah nie das Innere des Hauses, es scheint aber daß die große Treppe ein Unicum der Konstruktion sei. (Vollendet ist der Bogengang der Front; er setzt sich - innerlich! - auf beiden Seiten fort.) -
“Was ein Kunstwerk lange erhält, ist die Form” sagte mir Vollmoeller. -
Morgen, denke ich: heimwärts...


Auch ohne Clavierspiel wär’s eine häßliche Reise gewesen. Ich kam in Stücken an...
Ysaye spielt nächsten Sonntag in Albert Hall (mit Backhaus und Melba) das - - Ave Maria von Gounod.
Die Zeitungen brachten folgende Nachrichten über mich: 1) ich hätte eine neue Oper fertig, 2) die Berceuse für Cello arangiert, 3) ich sei todkrank.
Gottlob, ich bin heute, trotz 2 schlechten Nächten, ganz wohl.
Heute ist mein “halber” Geburtstag, der 1. October.
Das Spiel geht wieder gut. Fast glaube ich, daß es mich wieder interessieren, infolgedessen sich auch noch steigern, oder ändern könnte. -
[1. Oktober] 1912. - London


Petersburg den 6. Nov. 1912
Ich blieb sehr unheiter zurück [1] - ich ging zu Fuß von der Station zum Hotel, es nahm eine Stunde, später spazierte ich noch 2 Stunden im sonntäglichen und fremdsprachlichen Moskau, zwischen einer Menge, die aus Studenten, Vorstadtbürgern und billigen Kokotten bestand. Ich dachte über das Aussehen der Stadt nach, verglich sie in gewissem Sinne mit Edinburgh oder Venedig. Melancholisch, wie ich war, fiel das Häßliche mir störender auf, und ich schloß daraus, daß Städte - wie Kunstwerke, wie Alles überhaupt - unvollkommen, lückenhaft, aus der Rolle fallend und immer unfertig sind. Der optimistische Wunsch im Menschen zu bewundern, läßt ihn tausend Scheußlichkeiten übersehen zu Gunsten einer Idee, welche durch ein paar charakteristische Erscheinungen in ihm geweckt und von ihm geformt wurde. Wenn man oppositionell wird, kann man in Moskau und in Venedig das Meiste als häßlich sehen. Schließlich liegt der Eindruck in einem selbst, einige Anregungen vorausgesetzt. -
Der Concert-Abend verlief denkwürdig und vielleicht noch festlicher als in Moskau. Auch hier regnete es Blumen, gab es Kränze, und man rief “Campanella”. Ich spielte so gut ich kann... Der 78-jährige Cui (den ich todt glaubte) war im Concert. Die Frau des Kritikers Ivanoff, welche eine Schwester der Frau Sgambati ist, begrüßte mich. Der Saal war ganz voll.
Es wäre unmenschlich, wenn ich nicht einen guten Grad von Emotion empfunden hätte, auch gab ich mich im Spiel ganz hin; so daß ich heute wieder nicht sehr zu brauchen bin...
Zum ersten Riga-Concert fahre ich heute Abend. Es gewährt mir eine kleine Befreiung, daß man dort deutsch spricht...
Die Schirmer längst versprochene Ausgabe der Chopin’schen Preludes geht mir wieder stark im Kopf herum; ich möchte darin Manches von meinen Erfahrungen niederlegen...

[1] Nach Gerda Busonis Abreise.


Riga, 1912 7. Novbr.
Das war wunderbar herrlich schon heute Vormittag (am 7.) Deinen Brief (und andere Briefe) zu erhalten... Robert Freund schreibt sehr schön, unter anderem:
“Die Sonatine hat mich sofort gefangen genommen. Die so ungewöhnliche Harmonik paßt eben zu dem fantastisch-mystischen Charakter des Stückes und macht den Eindruck des Natürlichen, Spontan-Intuitiven. Ich frage mich weshalb ich zu Schönberg kein Verhältnis finden kann, während mir bei Ihnen auch das Kühnste als natürlich erscheint. Ist es bei ihm das Formal-Unvollendete und die Kurz-Athmigkeit und Interesselosigkeit der Motive? Sie sind der wahre Futurist, in dem Sinne, daß Sie in die Zukunft hinein wirken - usw.”


(Riga, den) 8. Nvbr. 1912
Es ist hier ganz behaglich und still... Einiges Empire giebt’s auch hier; es ist merkwürdig, wie dieser Styl zu allen Klima’s und Nationen paßt - wohl durch sein Unpersönliches.
Im Allgemeinen ist so eine Stadt ansprechender, wie irgend eine russische, wo sich Nichts verbindet; wo die Staatspracht auf dem Sockel steht, mitten im Elend. Eine vorzügliche Buchhandlung, eine ebenso vorzügliche Weinstube, das sind schon blühende Oasen. Am meisten erinnert Riga an Königsberg; - die große Flußseite ist sehr belebt und pittoresque. Marktbuden, Dampfer, Segler, niederes Volk - eine weite Perspektive.
Die “Letten” sollen sich nach der Revolution stark vorwärts drängen...
In Petersburg hat man mich heute telegraphisch zu einem III. Abend aufgefordert. Nimm’s nicht übel, daß ich ablehnte. Ich hätte müssen gleich nach dem 3. Moskauer Abend auf die Bahn und von Petersburg eiligst nach Warschau.
Dieser ist mein 3. Brief seit Du fort bist.
Eigentlich, genau besehen, bin ich ein kleiner Märtyrer. Nicht nur, daß ich immer thun muß, was mir entgegen steht; sondern noch mit Anspannung aller Concentration und Kraft...


(Riga, den) 9. Novbr. 1912
Wenn ich so - am Morgen nach dem Concert - zu meinem Fenster hinausschaue (es schneit, und alles Horizontale ist weiß), so ist der Eindruck, den ich empfange, wie eine unkorrekte, aber ähnliche Kopie meiner Helsingforser Zeit. Es erinnert mich daran, wie ich von “Wrede’s Hus” [1] auf die kleine Anlage vor dein Theater blickte. Und - für einen Augenblick - sind diese 23 Jahre, die dazwischen liegen, wie nicht gewesen. -
Das Gedächtnis ist mir eines der größten Mysterien; hier concentriert es sich auf einen kleinen fernen Punkt und überspringt tausende von Eindrücken. Das Vergessen und klare Wieder-Erinnern in manchen Fällen, die Unabhängigkeit vom Willen, selbst wo es von höchster Wichtigkeit wäre sich zu erinnern, und das plötzliche Wiederkommen der Erinnerung, oft durch einen scheinbar unzusammenhängenden geringen Anlaß - das ist alles zu wenig studiert und fast nicht erklärt worden.
Wir sprachen mit Wetzler über Toscanini. Dieser behauptet selbst, sein Gedächtnis wäre visual, d.h. er merkt sich das Bild der Partitur, wie sie gedruckt ist und es macht sich bei ihm fast automatisch. Also eine Fotografie im Gehirn.
Ich weiß aus meiner Kindheit, daß ich die Stellen des Umblätterns beim auswendig spielen sah und daß mir ein ganz bekanntes Stück in einer neuen Ausgabe fremd schien. Dann gab es eine Art “Finger-Gedächtnis”, die Finger liefen hiebei wie ein Hund den gewohnten Weg, und ich konnte irre werden, sobald ich bewußt dachte. Ich glaube, daß das Gedächtnis fast die einzige Ursache des Aufgeregtseins vor dem öffentlichen Auftreten ist. Wenn man aufgeregt ist, so fürchtet man vor allem zu “vergessen”.
Es scheint hier so still und ruhig von Außen und doch fressen sich die Leute fast auf gegenseitig. Diese fortwährenden kleinen Kämpfe und Aergernisse müssen einen noch mehr verzehren, als die großen Bewegtheiten in der weiteren Welt. (Man kann Strindberg wohl begreifen lernen.)
Und hier kommt die Sehnsucht dazu! Die Menschen brennen vor Lebenslust; die Männer vor unbefriedigtem Ehrgeiz, die Frauen - - - ich merkte es wieder an den Beiden gestern Abends! Liebe Gerda, wir haben es so schön, wie Wenige. Seien wir dankbar und froh...

[1] Busonis erste Wohnung in Helsingfors (1889).


[St. Petersburg,] 10. Novbr. 1912
Es ist Nichts dagegen zu machen, ich bin fast gezwungen worden, den dritten Abend in Petersburg zu geben. Lies diesen Brief, der eigentlich sehr schmeichelhaft ist.

St. Petersburg 26. Oktober [= 8. Nov.] 1912
Sehr geehrter Herr Busoni,
...Entschuldigen Sie, wenn wir trotz Ihres Bescheids nochmals an Sie herantreten. Wie glauben annehmen zu dürfen, daß der Grund Ihrer Absage darin zu suchen ist, daß Sie sich nicht übermüden wollen. Wir möchten Ihnen daher vorschlagen das Spiel im Konservatorium für die Schüler fallen zu lassen und anstatt dessen auf jeden Fall hier einen dritten Klavierabend zu geben...
Wir halten ein drittes Konzert in Ihrem eigensten Interesse für ganz unerläßlich und waren wirklich sehr froh, als uns ein Zufall die Möglichkeit bot, den Saal für den 6. November zu bekommen...
Tatsache ist, daß in den letzten 10 Jahren kein derartiger Erfolg von irgend einem Künstler hier erzielt worden ist und wäre es daher wirklich unverzeihlich, diesen Erfolg nicht seiner ganzen Tragweite nach auszunutzen und von der sich eröffnenden Möglichkeit eines dritten Konzerts zurückzutreten.
Wenn Sie nur ein Zehntel von der Ueberzeugung hätten, die wir von der Notwendigkeit eines dritten Konzerts haben, würden Sie gewiß nicht zögern, dies dritte Konzert hier zu geben und würden wir es unsäglich bedauern, wenn diese unsere Ausführungen den erstrebten Zweck verfehlen und Sie nicht zu unserer Ansicht bekehren könnten...
In Anbetracht des soeben gesagten erlauben wir uns, Sie nochmals zu bitten, uns Ihre diesbezügliche Entschließung sofort zu telegraphieren.
In der angenehmen Hoffnung, daß dieselbe zu Gunsten unseres Vorschlages ausfallen wird, begrüßen wir Sie mit den besten Wünschen hochachtungsvoll
gez. Andreas Diederichs F. Koehler


(St. Petersburg,) 10. Novbr. 1912
Sonntags Im Ganzen besehen, war Riga ein angenehmes Intermezzo; manchmal liebe ich solche kleinen Städte mit stillen Kirchenplätzen, krummen Gassen, alten Baustücken - doch komme ich auf eine eigenartige Beobachtung: es gefällt mir Alles besser in der Erinnerung. Die Erinnerung ist eine Kunstmeisterin in der Vernachlässigung des kleinlichen Details. Sie ist das künstlerische Bild des Erlebten. Nach ihr soll man komponieren lernen. Sie ist die geniale Skizze. Ich denke noch der Verblüffung Benni’s als ich - am ersten Tage in Basel - sagte: das wird eine schöne Erinnerung. Heute ist mir klar, was ich damals unbewußt traf.
Deshalb ist man meistens enttäuscht, wenn einen die schöne Erinnerung zum 2. Male an denselben Ort führt.
Selten prägt sie sich treu und vollständig ein. Das war, scheint mir, der Fall mit Boston.
Hier und auch in Riga fährt man schon Schlitten! Die Fahrt zum Bahnhof in Riga, Winternacht und die Stadt wie von Wilhelm Schulz gezeichnet, menschenleer, mit Ecklaternen (Rathausszene in der Brautwahl), - bildet eine solche pittoreske Erinnerung...


(Moskau,) 13. Novbr. 1912
Seit 6 Tagen hatte ich keinen Brief und heute fand ich ihn hier!... Du findest den Chor der Gefangenen im Fidelio schön? Du “Leckermaul!“ Es giebt wenig Schöneres. Wo Beethoven mit den Menschen fühlt, löst er sich auf und braucht fast gar keine “Mittel”. Die Empfindung reicht vollständig aus. -
Ich freue mich, daß Du auf meine Idee von Theater kommst, auch für das Äußere des Zuschauerraumes. Er muß das Publikum auf Pomp und Unwahrheit vorbereiten. Das Theater ist richtig, wenn es einen Gegensatz zum Leben bietet: Das giebt, was das Leben nicht hat. Es wird auch immer wieder dahin kommen. -
Das Concert von Delius dachte ich selber zu spielen.
Nach dem II. Abend in Petersburg sollen die Leute (über 100) bereits um _ 5 Uhr morgens Queue gestanden haben, um die billigen Plätze für den III. Abend zu kaufen... Das hat mich doch gerührt. - Ich versuche Lodz abzusagen ... und würde einen Tag früher zu Hause sein können. Ich hätte es nöthig für vieles...


Moskau, 15. Nvbr. 1912
Heute früh schrieb ich Dir; nun - da ich mit meinem Orchester-Stück ein wenig Klarheit erreicht - schreibe ich Dir wieder, freier und leichter.
Die Petersburger Zeitung bringt heute eine Recension über Hofmann, voll von Seiten-Hieben auf Deinen Mann.
Hier tritt die ungewöhnliche Erscheinung [ein], daß er (der Jüngere) als der “Abgeklärte”, ich, der Ältere als der Revolutionär gelten. (Diese ganze Rivalitätsfabrik ist mir recht unappetitlich!)
Das erinnert an Thalberg und Liszt in Paris...
Wäre ich nicht froh über meine kleine Arbeit, ich versänke wieder in den Schleim der Melancholie.
Nein, nein, nur nicht zurückschauen! Überlassen wir [das] den Kunsthistorikern. Frohe Grüße!


(St. Petersburg,) 19. Nbr. 1912
Nun nahm ich gestern Abends Abschied von Moskau (das Liszt-Programm ist viel anstrengender, als auf dem Papier aussieht); vom Concert ging es direkt auf die Bahn; Frau Kussewitzky hatte für “Freßkiste” gesorgt - sie ist eine vortreffliche Frau. Herr und Frau Diederichs waren mit. Ich werde hier wie Serenissimus herumgeführt, wie ein gezähmter Affe an der Leine, werde “gehütet”.
Es gab noch vorher einen steifen Abend bei Kussewitzky, Nikisch und der Bloch waren dabei...
Beklemischeffs sind meine intimen Freunde geworden, ich liebe sie beide.
Ich sah mir den Kreml genau an, und es fiel mir auf, wie Du ganz richtig bemerktest, daß die Mauern und äußeren Thürme den alten oberitalienischen Styl haben. Sie sind in der That von Italienern gebaut, wie auch alle die größeren und besseren Empire-Kästen!!
Ich kam zu dem Schluß, daß es einen russischen Bauern-Styl giebt, aber keinen Kunst-Styl. So ist z.B. das venezianische Lied (das in “Venezia e Napoli” verwendet ist) ein russisches Volkslied geworden; die italienischen Bau-Arbeiter haben es eingeführt. Das war mir alles sehr interessant zu erfahren.
Eine berühmte, älteste Kirche im Kreml (deren Namen ich leider nicht behielt), ist innerlich ganz nach Plan und Charakter der Markus-Kirche aufgeführt. (Mein Vater hätte triumphiert.) Die Theater und die beiden Adels-säle in Moskau und Petersburg sind ebenfalls von italienischen Architekten. -
Folgende Geschichte, Novellenstoff: Du weißt daß der Cellist Wersbilowitsch und unser alter Freund Hildebrand (kannst Du Dich nicht an seine Nase erinnern?) sowohl als Musiker wie als Zechbrüder ein halbes Leben lang innig zusammen hielten. Hildebrand ging schließlich nach Dänemark zurück, um in seiner Heimath zu sterben. 20 Stunden vor seinem Tode schrieb er an Wersbilowitsch und beschwor den Freund das Trinken aufzugeben; indem er sich selber als warnendes Beispiel hinstellte, wie er elend an den Folgen der Unmäßigkeit nun zu Grunde ginge. - Wersbilowitsch erhielt zuerst ein Telegramm mit der Todesnachricht Hildebrands und drei Tage später den Brief, so daß er ihm den Eindruck machte, als käme er aus der anderen Welt. Das erschütterte ihn dermaßen, daß er mit einem Male das Trinken aufgab, sich den Sommer darauf nach Finnland zurückzog und, nach vielen leichtfertigen Jahren, wieder ernst arbeitete und studierte. Diese Wandlung wurde in dem Kreise seiner Freunde und Verehrer bekannt, und mit großer Freude und Spannung erwarteten diese das erste Konzert Wersbilowitsch’s in der neuen Saison. Der Abend kam und W. spielte das erste Stück derart nervös, unrein und fehlerhaft (er, der sonst Unbefangene und an sicheren Erfolgen Geübte) - daß er, verzweifelt, in der Pause, eine halbe Flasche Cognac fast in einem Zuge leerte. Von diesen Augenblick gieng es mit ihm rasch abwärts und er starb im Elend und ganz verlassen. -
Am letzten Tage in Moskau besuchten mich Josef Hofmann und Rachmaninoff, diese beiden musikalischen Lieblinge Rußlands.
Mit Hofmann kann ich gut auskommen; er ist frisch, aufgeweckt und nüchtern und hat für vieles Sinn...
Sehr nett war Skriabin, Abends im Concert. (Auch Chopin hatte heroische Aspirationen, aber im Ganzen blieb er richtig in seinem Wasser. Skriabin forciert diese zweite Natur und macht große Partituren. Ich halte sie nicht für lebendig, aber respektiere das hohe Streben Skriabins.)...


(St. Petersburg,) 20. Nvbr. 1912
Ich bin heute noch so ein Rest von alter Pracht, so müde wie selten - und muß noch in’s Konservatorium, um zu spielen - und gefeiert zu werden! Die Leute haben mich hier sehr, sehr schön behandelt; ich habe dankbar zu sein. Gestern Abends regnete es Lorbeerkränze, - vielleicht hundert kleine Lorbeerkränze von der Galerie, - es war sehr hübsch...


Warschau, den 21. Nbr. 1912
Du sollst noch einen Brief haben, umsomehr, als ich meine Abreise um einen halben Tag verzögern muß; ich darf mich nicht so sehr anstrengen und wieder vom Konzertpodium in den Schlafwagen springen, da die letzten 4 Tage mich unsinnig ermüdet haben. Noch gestern Nachmittag spielte ich im Petersburger Conservatorium und nun bin ich 18 Stunden unterwegs gewesen. - Es war schön, angesichts 1000 ganz junger und ganz begeisterter Menschen eine kleine Mission zu erfüllen. Das russische Ceremonielle fehlte trotzdem nicht, so daß es feierlich und impulsiv war zugleich.
Ich sah die Todtenmaske Rubinsteins und war ergriffen von der unleugbaren Größe der Physiognomie. Eine Fürstin von Altenburg (Tante der deutschen Kronprinzessin) präsidierte. Glasunow war lieb und einfach. Einige Dutzend Konservatoristen waren am Bahnhof und demonstrierten. Die Abfahrt wirkte recht theatralisch. -...
Ich war bewacht wie ein reisender Fürst, wurde geführt und empfand greifbar, wie “gefangen” so ein Herrscher sein muß.
Ich genoß die Einsamkeit im Zuge und kostete das Schweigen aus...
Es giebt, wie ich schon einmal dachte, fast nur beginnende oder endende Kulturen. Nur ein kleiner Raum in Europa kann allenfalls einer ganzen Kultur sich rühmen. Er ist, auf der Karte gesehen, fast nur ein Punkt. Dachte weiter und fand über Amerika Folgendes. (Wenn es Dich ermüdet, überschlage es.)
Die Kultur kam dahin von Europa mit und produzierte (an der Küste) Leute wie Franklin, Lincoln, Poe. Glücksucher drangen dann weiter nach Westen und verwilderten. Als sie reich geworden, verlangten sie vom Leben Schönheit, nach ihrer rohen Art und nach ihren Ansprüchen; - primitiv im Geiste, überreich an Mitteln und an der Freude sie anzuwenden - entstand der Amerikanismus. So daß eine Welle der Unkultur nach der Küste zurückschlug und den Osten überschwemmte. - Ich fürchte, es wird lange so bleiben. -...