Laureto Rodoni
BUSONI IM EXIL IN ZÜRICH [1]

[traduzione in tedesco del Prof. Oberhuber (Merano)
pubblicata sul catalogo della omonima mostra fotografica
allestita al Conservatorio di Bolzano nell'agosto del 2001]

Anfang August 1914, beim Ausbruch des ersten Weltkrieges, befand sich Busoni in Berlin, wo er sich bereits seit 1894 aufhielt. Von Angst und Unsicherheit geplagt, entschloss er sich in den darauffolgenden Monaten zu einer Tournee in die Vereinigten Staaten. Diese Tournee hatte er bereits seit geraumer Zeit ins Auge gefasst, auch um Zeit zu finden, seine delikate Lage zu überdenken als Mensch zwischen zwei Nationen, die sich nunmehr feindlich gegenüberstanden und zwar Italien, wo er geboren und erzogen wurde und Deutschland, seine Wahlheimat.
Zu Beginn des neuen Jahres bestieg er das Schiff, das ihn nach Amerika brachte. Der leidvolle Aufenthalt in den Vereinigen Staaten und, paradoxerweise der Krieg, ließen ihn bewusst werden, wie innig seine Bindung zu Europa war und welch großes kulturelles Erbe er diesem Land verdankte. In Europa erkannte er nur eine Nation an, «von der ich», wie er an Mario Corti schrieb, «das Wenige, was ich weiß, geschöpft habe und für die ich die ganze Zuneigung empfinde, deren ich fähig bin.» [2]
Im Sommer entschloss er sich daher in den alten Kontinent zurückzukehren, aber in jenem tragischen Augenblick, in dem er sich für die eine oder andere Seite entscheiden sollte, wusste er nicht, wollte oder konnte er nicht wählen, wohin, auch deshalb nicht weil er als persona non grata galt, sowohl in Deutschland als auch in Italien. Daher entschied er sich traurigen Herzens, die Schweiz um politisches Asyl anzusuchen.
Anfang Oktober traf er in Zürich ein, wo er eine Wohnung in der Scheuchzerstrasse 36 [im ersten Stock] bezog. «J’ai choisi Zurich pour mon séjour»

schrieb er an Isidor Philipp «la ville étant au présent la plus international de la Suisse, et parce qu’elle m’offrait plusieurs occasions artistiques» [3]. In der Tat «war Zürich aus seiner Stille getreten und über Nacht die wichtigste Stadt Europas geworden, ein Treffpunkt aller geistigen Bewegungen". [4]
Aber auch die Anwesenheit
Volkmar Andreaes [5], eines hervorragenden Musikers und dynamischen Kulturschaffenden, den der große Pianist nur oberflächlich kannte und mit dem er seit 1907 aus Arbeitsgründen in Kontakt stand, war von nicht geringem Einfluss auf seine Entscheidung gewesen.

Gebildet und weitblickend wurde Andreae sofort, ab Oktober 1915, in der Stadt seiner Zuflucht, [6] ein unverzichtbarer Beziehungspunkt in künstlerischer, beruflicher und menschlicher Hinsicht. Er verstand, welch wichtige kulturelle Aufgabe Busoni in Zürich wahrnehmen konnte und ohne viel Zeit zu verlieren, setzte er sich dafür ein, dass der Exilant in das musikalische Leben der Stadt integriert würde und dass er beste Bedingungen erhielt, um die vielfältigen kulturellen und künstlerischen Aufgaben bewältigen zu können:

Wenn ich an Ferruccio Busoni zurückdenke, erinnere ich mich vor allem [...] an den Besuch Busonis im Jahre 1915, wo er erklärte, dass er sich entschlossen habe in die Schweiz überzusiedeln, und uns Schweizer bat, ihm Obdach zu gewähren. Vorher hatte ich Busoni nur als Künstler und geistvollen Menschen gekannt. Hier kam er als Mensch, der, von den Kriegswirren gehetzt, tränenden Auges um Hilfe bat. Noch selten hat mich ein Ereignis so ergriffen und zugleich erfreut: ergriffen durch die Unbeholfenheit dieses grossen Mannes, erfreut, Busoni nunmehr den Unsrigen nennen zu können. [7]

Volkmar Andreae war einer von jenen Leuten, die zäh, aber diskret und beharrlich die Tätigkeiten Busonis in Zürich unterstützten. Er dirigierte regelmäßig und mit Überzeugung die wichtigsten sinfonischen Werke des im Exil lebenden Komponisten. Darunter befinden sich auch einige Uraufführungen. Weiters vermittele er oft zwischen der Tonhalle und Busoni, wenn Probleme bezüglich des Konzertplanes oder des Honorars auftraten. Aus den häufigen Begegnungen in der Scheuchzerstraße 36, in Andreaes Villa, sowie in anderen öffentlichen Lokalen der Stadt, aus der lealen künstlerischen Zusammenarbeit und gegenseitigen Wertschätzung wuchs eine tiefe Freundschaft, die auch verschiedene Auffassungen in musikalischen Fragen nicht zu trüben vermochten. Busoni erwies ihm seine Dankbarkeit im Augenblick der Abreise von Zürich in einem offenen Brief, der in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlicht wurde:

Es ist vorerst Ihrer künstlerischen Einsicht zu verdanken, dass es mir überhaupt möglich wurde, in Zürich eine Aktivität zu entfalten, die Sie gütigerweise als eine anregende und wohltätige bezeichnet haben: sind Sie doch bei jeder meiner nach außen gerichteten musikalischen Handlungen der planende und bewegende Geist gewesen. Ich werde Ihr Verhalten zu mir und zu meiner Kunstübung von nun an in meinem Herzen bewahren. [8]

Die ersten Monate im Exil waren für Busoni eine arge psychische Belastung. Mit Entschiedenheit kämpfte er gegen Einsamkeit und Isolation, die seine neue Situation herbeigeführt hatte. Busoni plante mit unerschütterlicher Entschlossenheit seine Konzerttätigkeit für das nächste Frühjahr, nahm die philologischen und kompositorischen Arbeiten wieder auf, stellte Nachforschungen über den Faust-Mythos an, revidierte seine musikalische Ästhetik, betrieb sein Studium am Klavier und wirkte auch als Klavierlehrer.
Den Blick in die Zukunft gerichtet und offen für die ihn umgebende Welt, flocht er ein neues Netz von Beziehungen, indem er einerseits jene Personen besser kennen lernen wollte, die vor dem Krieg nicht zu seinem Freundeskreis gehörten; - dazu zählen außer Andreae, der Baseler Komponist Hans Huber, der portugiesische Pianist Josè Vianna Da Motta, der futuristische Maler Umberto Boccioni – und auch neue Freundschaften knüpfte, so etwa mit dem Marchese Silvio della Valle di Casanova [9], dem Bankier Albert Biolley oder dem Komponisten Philipp Jarnach...
Die Begegnung Busonis mit Jarnach wurde entscheidend für das weitere Leben beider, und dies in menschlicher und künstlerischer Hinsicht. Trotz seines jugendlichen Alters [1915 war er 23 Jahre alt] wurde der frankospanische Musiker nicht nur ein wertvoller Assistent, sondern auch eine Art alter ego des Maestro. In dieser Aufgabe ersetzte er den Pianisten Egon Petri, der sich damals nach Zakopane in Polen zurückgezogen hatte. Busoni war sofort angetan von der Intelligenz des jungen Assistenten und von der Leichtigkeit, mit der er sich in den Windungen seiner Kompositionen zurecht fand.
Busoni war in der Folge fest entschlossen, seinen künstlerischen Weg mit Ausdauer weiterzugehen, den er mit der stilistischen Wende des Jahres 1907 eingeschlagen hatte [10]. Nach der Fertigstellung einer kurzen aber dichten sinfonischen Arbeit, auf der Grundlage eines indianischen Themas aus Amerika: dem «Gesang vom Reigen der Geister», nahm er die Komposition des szenischen Capriccios Arlecchino in Angriff. In der Folge schrieb er in nur drei Monaten den Text und die Musik für Turandot und zwar auf der Grundlage der gleichnamigen Orchestersuite.
Seine Kräfte konzentrierte der Komponist jedoch vor allem auf Doktor Faust. Obwohl das Libretto bereits Ende 1914 fertig vorlag, setzte er seine Nachforschungen über den Mythos fort und zwar im literarischen und musikalischen Bereich. Im Juni 1916 hatte Busoni einen ersten musikalischen Plan der Oper angefertigt. Drei Monate später komponierte er die ersten Skizzen, erschüttert vom Tod seines Freundes, des Malers Umberto Boccioni. [11]
Von anderen beachtenswerten Kompositionen der Exilszeit seien erwähnt: die «Sonatina in diem nativitatis Christi» 1917 für Klavier, das «Divertimento für Flöte und Orchester» und das «Concertino für Klarinette und kleines Orchester». Vor allem die letzten zwei sind, zusammen mit «Arlecchino», die Frucht seiner tiefschürfenden Gedanken zur Theorie, die ihren Höhepunkt in einem offenen Brief an Paul Bekker über die Junge Klassizität erreichen. [12] Es ist dies ein wichtiger Baustein in der Geschichte des musikalischen Denkens im 20. Jahrhundert.
In der Schweiz hätte er seine Konzerttätigkeit reduzieren können (bereits seit vielen Jahren hatte ihn die lange und intensive Arbeit am Klavier geistig nicht mehr bereichert), aber die prekäre wirtschaftliche Situation, besonders vom Sommer 1916 an, erlaubte es nicht. Die Leidenschaft für seltene und ausgefallene Bücher, von denen er hunderte in Zürich erwarb, der Wunsch, eine Aufführung des «Doktor Faust» zu finanzieren, der Erwerb von Bildern (die Boccioni, die Oppenheimer) und einer Glasharmonika, der hohe Lebensstandard, das chronische Unvermögen mit Geld (das er verachtete) sinnvoll umzugehen, einige verfehlte Geldgeschäfte seines Berliner Wirtschaftsmanagers, die ihm angeborene Großzügigkeit sind nur einige der Gründe für seine wirtschaftlichen Probleme, die nicht selten gelöst wurden durch die Weitherzigkeit und Bereitschaft des Bankiers Albert Biolley.

Da er in Zürich ohne Sekretärin und Konzertagent lebte, war Busoni anfangs sein eigener Impresario. Vom Herbst 1916 an übernahm Biolley diese Aufgabe unaufdringlich, aber wirksam und ohne Gegenleistung. Er organisierte die Konzerte für Busoni in den Schweizer Städten, vor allem in den französischen Kantonen.

Trotz der intensiven Tätigkeit war das existenzielle Unbehagen, verursacht durch den Aufenthalt im Exil, stets vorhanden und machte sich bemerkbar in verbitterten Ausbrüchen in Briefen und Worten seinen Freunden und Schülern gegenüber, «und viele wurden zu vielen Malen erschrockene Zeugen seines Schmerzes und seiner titanischen Auflehnung gegen ein ihm vollkommen sinnlos erscheinendes Weltgeschehen.» [13]
Die gewaltsame Entfernung von seiner heimatlichen Umgebung, von seinen Gewohnheiten, die einen Ort angenehm und unersetzlich machen, die erzwungene Unterbrechung der belebenden Beziehung zur eigenen Stadt, zu den Freunden, den Büchern einer ausgesuchten Privatbibliothek, die neben dem Klavier ein ebenso wichtiges Werkzeug seiner Arbeiten bildete, die Unmöglichkeit, die Grenzen der Schweiz zu verlassen: das alles wurde von Busoni erlebt als ein Bruch in seinem Leben, was eine schmerzliche Verwundung seines Inneren hervorrief. «Mein Leben hat einen Riss, und oft erkenne ich es kaum als das eigene» schrieb er beispielsweise an Leo Kestenberg im Oktober 1915. [14] An Hans Huber schrieb er ein Jahr später:

Zwei Jahre sah ich nicht mein Haus, meine Bücher, meine Freunde, meine Gewohnheiten. Die gerade Linie ist unterbrochen. Der gastlichen Schweiz meine volle Dankbarkeit, aber heißt das Leben? Und in den Nebel der Ungewissheit hinein weiter, mit bald 51 Jahren? [15]

Die Folgen dieser Entwurzelung auf sein psychisches Gleichgewicht, seine Identität und seine Weltanschauung waren schwerwiegend: der Kosmopolit Busoni erkannte plötzlich, dass er keine Heimat hatte, in der er sich wiedererkannte und nach der er sich in jenem tragischen Lebensabschnitt so sehr sehnte. Der Kulturmensch Busoni begann nun, die Zugehörigkeit zu zwei nunmehr antithetischen Kulturen im geschichtlichen Kontext dramatisch zu erleben.
Der große Krieg bedeutet in seinem Leben einen tiefen Einschnitt, der das Verhältnis Busonis auch zu seinem Zufluchtsort beeinträchtigte, obwohl ihm hier Ruhe, Arbeit und kultureller Ansporn zu Teil wurde.
Zürich war ihm zu klein, zu provinziell, überschaubar, «von Langeweile umflort» [16] und die ganze Schweiz empfand er als «eine Art Sanatorium» [17]. Bereits 1917 vertraute er Da Motta an, dass Zürich ihm nichts mehr zu bieten habe. [18] Im Licht einer entstellenden Bitterkeit und ohnmächtigen Wut wurde die Stadt immer mehr zu einer Art Sündenbock für sein Unbehagen und für seine seelischen Leiden. Nur sporadisch taucht in seinen Briefen Anerkennung für die Stadt auf und zwar ob der Anwesenheit großer Persönlichkeiten.
Ein Mittel, dessen sich Busoni bediente um die Auswirkungen des Exils (Ausgrenzung, Absonderung, Vereinsamung) etwas zu mildern, bestand darin, dass er um sich einen engen Freundeskreis scharte, der aus Schweizern und Ausländern im Exil bestand. Seine Wohnung in der Scheuchzerstrasse 36 wurde von den ersten Monaten an ein Sammelpunkt für hervorragende Musiker und Intellektuelle, «ein Sammel- und Brennpunkt regen und beschwingten geistigen Lebens, künstlerisch-menschlichen Erlebens» wo sich nicht selten «geistige und künstlerische Größen aus aller Herren Länder» [19] trafen; unter ihnen die Schriftsteller Stefan Zweig, Rainer Maria Rilke, Jakob Wassermann, Franz Werfel, Ludwig Rubiner, René Schickele, die Komponisten Ermanno Wolf Ferrari, Othmar Schoeck, Marcel Sulzberger, die Maler Hans Richter, Max Oppenheimer, Ettore Cosomati, die Dirigenten Otto Klemperer und Oskar Fried, der Verleger Paul Cassirer und der Philosoph Ernst Bloch. Die Bedeutung, die Busoni seinem Freundeskreis zumaß, ist aus vielen Briefen ersichtlich. 1918 beispielsweise schrieb er dem jungen Schweizer Pianisten Ernst Lochbrunner: «Du milderst mir diese Passions-Jahre durch Freundschaft.» [20] Solche Zeichen der Dankbarkeit gelten ebenso für all jene, die ihm nahe standen und die Unannehmlichkeiten der Verbannung erleichterten.
Was die menschlichen Beziehungen anlangt, ist die Zeit der Züricher Jahre für Busoni demzufolge sehr bereichernd. Sie beeinflussten in positiver Weise nicht nur seine psychische Stabilität, die oft von Depressionen bedroht war, sondern auch seine geistige und künstlerische Tätigkeit.
Wichtig war auch der Kontakt mit Freunden, die beschlossen hatten in ihrer Heimat zu bleiben und mit denen er ständig in Briefverkehr stand. [21] Die Korrespondenz war das zweite Mittel, dessen er sich bediente, seine Einsamkeit zu überwinden und um sich anderen mitzuteilen, oder um aus dem Gefängnis des Exils auszubrechen und wenigstens metaphorisch die engen Grenzen zu überschreiten, die ihm der Krieg gezogen hatte.
Seinem persönlichen Zeugnis zufolge schrieb er in Zürich über 5000 Briefe, etwa drei am Tag [22]. «Que j’ai écrit de lettres! Vraiment, ma correspondence fait une partie considérable de mes oeuvres et, souvent, elle les a – forcement! – substitué.» [23]
Aber weder der Freundeskreis noch die Briefe konnten jene Einsamkeit aufheben, die schwer auf ihm lastete, wie aus dem Bekenntnis an die Baronesse Oppenheimer hervorgeht: «Ich fühle mich allmählich einsamer, ohne dass ich mich von den Menschen entferne.» [24] Zur Einsamkeit, die ihre Ursache in den Umständen hatte, gesellte sich die menschliche und künstlerische Einsamkeit, die in seinem Naturell schon von Kindheit an ihre Wurzeln hat.
Die strengen Urteile über die Musik und den deutschen Geschmack, über Wagner, den Wagnerianismus und über den Expressionismus, ganz besonders die vernichtende Kritik der italienischen Musik und Musiker, die er mit «Vasallen» der Ausländer und deren Musik abtut, hatten seine Ausgrenzung und Isolierung, Indifferenz und Verachtung zur Folge. Dies alles brachte ihm schmerzlich und endgültig zum Bewusstsein, dass er im Grunde ein Verbannter war nicht nur als Mensch, sondern auch als Intellektueller und Künstler und dies vor, während und nach dem Aufenthalt auf Schweizer Boden. Verbannt also auch in den zwei Ländern, die ihm Heimat sein sollten und zwar die institutionelle und die Wahlheimat. [25] Bildlich gesprochen war er ein Verbannter auch was die Sprache anlangt. Es sei daran erinnert, dass er die deutsche Sprache, wenn auch vielleicht schweren Herzens als seine bevorzugte bezeichnete. [26] Busoni war in der Tat in seiner Zeit ein einsamer Musiker, als Komponist wie als Pianist und letztlich auch als Theoretiker. In all seinen Aktivitäten setzte er sich durch seinen Antikonformismus, seine Originalität, die entschiedene aber noble Art seine Ideen zu verteidigen, heftigsten Kritiken seiner Gegner aus.
Seiner Lage als dauernd Verbannter wurde sich Busoni auch nach Ende des Krieges bewusst, wenn er 1920 an Edith Andreae schreibt: «Ich litt für die ganze Welt und wurde – heimatlos.» [27] Zürich, wo er am eigenen Leib die Verbannung erlebte, wurde so auch zum Symbol seiner Geistesverfassung: eine Metapher seiner ganzen Existenz. Die Worte, die Rilke dem Künstler im «Florentinischen Tagebuch» widmete, scheinen wie wenige andere auf Busoni zugeschnitten: «Dass die Kunst in ihren Höhen nicht national sein kann, macht: jeder Künstler wird eigentlich in der Fremde geboren, er hat nirgends eine Heimat ausser bei sich. Und seine Werke, welche die Sprache dieses Landes verkünden, sind seine eigentlichsten.» [28]
Busoni verließ seine Wohnung in der Scheuchzerstraße 36 am 9. September 1920 mit der Auszeichnung eines Ehrendoktors der philosophischen Fakultät, die ihm die Universität Zürich im August 1919 verlieh. «Wir wissen wohl», schrieb ihm Volkmar Andreae in einem bewegten Glückwunschschreiben, «dass Sie neben Liszt und Rubinstein der größte Pianist aller Zeiten sind. Für uns aber noch wertvoller war ihre ganze Persönlichkeit, Ihr künstlerisches Schaffen, Ihr hoher einzigartiger Geist.» [29]
Vor seiner Abreise schrieb er an Biolley: «On ne se sépare pas facilement du lieu, de la personne ou même de la chose auxquels on etait lié pendant un lustre! Mais c’est irrévocable. Et il faut bien se résigner. La résignation est l’effort plus heroïque et douloureux, dont l’âme humaine soit capable.» [30]
Wenige Tage nach seiner Ankunft in Berlin vertraute er sich seinem Freund, dem Bankier an:

Tous les changements, même les plus souhaités ont leur mélancolie, car ce que nous quittons, c’est une partie de nous-même; il faut mourir à une vie pour entrer dans une autre. [31]

In Berlin erfasste ihn eine schwere Depression, die seine Gattin Gerda zwang, die Abreise von Zürich vorzuverlegen. Vielfach sind die Gründe dafür: die gänzlich veränderte Stadt, die Trennung von den Freunden... Aber auch, dass er Giotto, seinen Bernhardiner, in Zürich zurücklassen musste, mit dem er fast die ganze Zeit der Verbannung geteilt hatte und an dem er sehr hing, verdunkelten sein Gemüt.

Wer etwa die Autobiographie Elias Canettis gelesen hat, wird sich vielleicht an die unterhaltsamen Zeilen erinnern, wo er auf die Jahre seiner Jugend, die er mit der Familie in Zürich verbrachte, zu reden kommt. Es war während des ersten Weltkrieges. Hier spricht er von den häufigen, ja beinahe täglichen Begegnungen mit einem Herrn von bizarrem Äußeren, immer begleitet von einem enormen Bernhardiner, der sich den Befehlen seines Herrn gegenüber meistens taub verhielt:

Ein Herr mit einem sehr schönen weißen Kopf ging da spazieren, aufrecht und abwesend, er ging ein kurzes Stück, blieb stehen, suchte nach etwas und wechselte die Richtung. Er hatte einen Bernhardiner, dem er öfters zurief: 'Dschoddo komm zum Pàpa!' Manchmal kam der Bernhardiner, manchmal lief er weiter weg, er war es, den der Pàpa dann suchte. Aber kaum fand er ihn, vergaß er ihn wieder und war so abwesend wie zuvor. [...] Sein häufig wiederholter Ruf brachte Kinder zum Lachen, aber nicht in seiner Gegenwart lachten sie, denn er hatte etwas Ehrfurchtgebietendes, wie er hoch und stolz vor sich hinsah und niemanden bemerkte [...]. Es war Busoni [...] und sein Hund, wie ich erst viel später erfuhr, hieß Giotto. Alle Kinder in der Gegend sprachen von ihm, aber nicht als Busoni, denn sie wußten von ihm nichts, sondern als 'Dschoddo-komm-zum-Pàpa!' Der Bernhardiner hatte es ihnen angetan, noch mehr aber, daß der schöne alte Herr sich als seinen Pàpa bezeichnete.

Als die Mutter Canettis vom Übernamen erfuhr, den die Kinder dem großen Musiker zulegten, war sie leicht erbost darüber:

Ein Konzert von Busoni versäumte sie nie, und es verwirrte sie ein wenig, daß er nah bei uns wohnte [in Scheuchzerstrasse 36]. Sie glaubte mir nicht gleich, als ich von meinen Begegnungen mit ihm erzählte, und erst als sie von anderen erfuhr, daß er es wirklich war, nahm sie es hin und verwies es mir, daß ich ihn wie die Kinder der Gegend 'Dschoddo-komm-zum-Pàpa' statt Busoni nannte. Sie versprach mir, mich einmal in eines seiner Konzerte mitzunehmen, aber nur unter der Bedingung, daß ich ihn nie wieder bei diesem falschen Namen nenne. Er sei der größte Meister des Klaviers, den sie je gehört habe, und es sei ein Unfug, daß die anderen alle ebenso wie er 'Pianisten' hießen. [32]

Giotto und Busoni waren unzertrennbar. In den vier Jahren ihrer Gemeinsamkeit wurden sie ein Paar, in Zürich all bekannt und respektiert. Sie ergötzten sich am gut aussehenden Hund, den sein Herr kaum einmal zu zähmen vermochte. Man konnte ihnen begegnen in der Bahnhofstraße, in den Gassen, die in die Rämistraße münden, in der Nähe des Brunnens vor dem Hauptbahnhof, wo der Musiker häufig angeregt mit den Dadaisten diskutierte, mit Hans Richter und dem expressionistischen Schriftsteller Ludwig Rubiner. Unterdessen tauchte Giotto in den Brunnen, wodurch er den Ärger und Unmut der Züricher Polizisten heraufbeschwor. Der große Hund folgte seinem Herren meist auf den Fuß, wenn dieser sich in öffentliche Lokale der Stadt begab, (etwa zum Odeon, auf die Terrasse, zur Kronenhalle oder zum Bahnhofbuffet), um ein Glas Roten zu trinken, wobei er vom guten Chianti seiner Heimat Toscana nur wehmütig träumen konnte.
Man erzählt sich, dass Giotto eines Tages gerade am Buffet des Bahnhofes den Säbel eines Heere-Offiziers, den dieser an die Wand gelehnt hatte, umwarf. Busoni kam aus dem Lokal sah den Vorfall und flüsterte ihm ironisch ins Ohr: «Ich bitte sie dies zu entschuldigen. Der Hund ist nämlich Antimilitarist genau so wie sein Herr.» [33]
Als er sich am Ende des Krieges wieder außerhalb der Grenzen auf Tournee durch Europa begeben konnte, schrieb er oft an seine Frau, sie möge ihm Fotos von seinem Hund schicken.
Giotto trug also nicht wenig zur Aufheiterung Busonis im Exil bei. Deshalb wollte er den Hund auf zahlreichen, gelungenen Fotographien, die Michael Schwarzkopf von ihm gemacht hatte, verewigen.


MICHAEL SCHWARZKOPF

Dieser heute leider fast gänzlich vergessene hervorragende Fotograph wurde 1884 in Russland geboren. Er übersiedelte in noch jugendlichem Alter nach München, wo er Bildhauerei studierte. Ein Künstlerpreis erlaubte ihm ein Weiterstudium in Paris. Nach Ausbruch des ersten Weltkrieges ließ er sich in Zürich nieder, wo er eine Landsmännin heiratete. Auf Grund der schwierigen Verhältnisse entschied er sich, Portraitfotograph zu werden. Schon bald wurde er einer der begehrtesten Photographen von Künstlern und Intellektuellen innerhalb und außerhalb der Schweiz.

Wahrscheinlich im Herbst 1916, anlässlich eines Konzertes in der Tonhalle, näherte sich Schwarzkopf Busoni und fragte ihn, ob er sich von ihm photographieren lassen wolle. Zunächst lehnte der Musiker höflich ab. Als ihm aber Schwarzkopf die Bilder seiner künftigen Gattin zeigte, war er derart begeistert, dass er das Angebot annahm. Es ist schwierig, die Bilder, die in diesem Katalog veröffentlicht sind, genau zu datieren. Sicher entstanden sie zwischen Herbst 1916 und dem Beginn des Jahres 1919.
Am 2. Mai 1918, als Busoni verspätet erfuhr, dass Schwarzkopf sich genau an diesem Tag verheiratete, schrieb er ihm folgenden Brief, [34] der die Freundschaft der beiden dokumentiert:

Lieber und geehrter Herr Schwarzkopf!
Die Nachricht Ihrer Trauung trifft mich völlig unvorbereitet, da ich erst gestern Abend zum ersten Male davon erfuhr.
Dass ich den Wunsch habe, Fräulein Reingold und Sie glücklich zu sehen, ergibt sich natürlich aus dem gegenseitigen Freundschafts- und Achtungsverhältnis, das uns in Zürich verband.
Dass die Veranlassung zu einem Glückwunsch aber so unmittelbar nahe stand, war mir erst seit 24 Stunden bewusst geworden.
Darum komme ich mit vollem Herzen zu Ihnen, um mich mit Ihnen zu freuen und Sie als Vermählte zu begrüßen; leider heute nicht gerüstet genug, um diese Feier durch ein Merkmal meiner Teilnahme zu veranschaulichen. Bis dieses sich erfüllen wird, nehmen Sie noch einmal alles Schöne und Hoffnungsreiche entgegen von Ihrem Ihnen herzlich ergebenen Ferruccio Busoni.
Zürich, am 2. Mai 1918

1. Diese Zeilen sind zum Großteil meinem Artikel über das Exil Busonis in Zürich entnommen [Die gerade Linie ist unterbrochen. L’esilio di Busoni a Zurigo, 1915-1920], dessen Grundlage eine kleine Sammlung von unveröffentlichten Briefen bildet. Der Artikel erschien im «Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft» Nr. 19 [1999] bearbeitet von Josef Willimann von der Universität Basel, Peter Lang, Bern, 2000, S. 27-106. SU
2. Brief an M. Corti vom 17.4.1915, in Gustavo Marchesi, «Alcune lettere di Busoni», La Scala. Rivista dell’opera, April 1958, Nr. 101, S. 62. SU
3. Brief vom 20.11.1915, Mus. ep. F. B. 304c, Busoni-Nachlass BI, Preussischer Kulturbesitz, Musikabteilung, Staatsbibliothek zu Berlin. SU
4. Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998, S. 311. SU
5. Andreae wurde in Bern 1879 geboren. Von 1906 an dirigierte er die Konzerte der Züricher-Tonhalle-Gesellschaft und von 1914 bis 1939 war er Direktor des städtischen Konservatoriums. Als Komponist war er von Busoni geschätzt. SU
6. «Zürich! Stadt der Zuflucht» schrieb er an Jarnach von Rom aus am 21.10.1921 [Dent Collection, Rowe Music Library, King’s College, Cambridge]. SU
7. Gedenkansprache gehalten von V. Andreae am 19.6.1926, a.a.O. in Hans Jelmoli, «Ferruccio Busonis Zürcher Jahre», Zürich 1929, S. 7. SU
8. Offener Brief an V. Andreae vom 8.8.1919, in Joseph Willimann, «Der Briefwechsel zwischen Ferruccio Busoni und Volkmar Andreae», 1907-1923, Zürich 1994, S. 89, Brief Nr. 58. SU
9. Vgl. von Laureto Rodoni, «Il carteggio tra Busoni e il Marchese di Casanova», in Verbanus Nr. 21, Verbania-Intra 2000, S. 13-33 und Tra futurismo e cultura mitteleuropea: l’incontro di Boccioni e Busoni a Pallanza, Intra-Pallanza 1998, passim. SU
10. Die erste Elegie trägt den Titel «Nach der Wendung. Recueillement»: Bereits in der Überschrift ist die erklärte Ankündigung des neuen Stils klar ersichtlich. Der Untertitel Recueillement hat eine doppelte Bedeutung von «innere Sammlung des Geistes» und «Zusammenfassung der vergangenen Erfahrungen» [Sergio Sablich, «Busoni», Torino 1982, S. 163]. SU
11. Vgl. L. Rodoni, «Tra futurismo...» a.a.O., passim. SU
12. In F. Busoni, «Wesen und Einheit der Musik», Neuausgabe der Schriften und Aufzeichnungen Busonis revidiert und ergänzt von Joachim Herrmann, Berlin 1956, S. 34-38. SU
13. Jakob Wassermann, «In memoriam Ferruccio Busoni», Berlin 1925, S. 27. SU
14. Mus. Ep. F. B. 599 [12.10.1915]. SU
15. Brief vom 8.12.1916, in «Briefe Busonis an H. Huber», herausgegeben von Edgar Refardt, Zürich und Leipzig 1939, S. 23. SU
16. Brief an Petri vom 4.3.1917, in F. Busoni, Briefe an Henri, Katharina und Egon Petri, mit Anmerkungen und einem Vorwort herausgegeben von Martina Weindel, Wilhelmshaven 1999, Nr. 262, S. 270. SU
17. Brief an Max Oppenheimer vom 25.12.1915, Mus. ep. F. B. 55. Im gleichen Brief bezeichnet er die Welt als «Lazareth». SU
18. Brief vom 20.6.1917, Nr. 264, S. 364. SU
19. M. H. S. Sulzberger, «Busonis Haus», Mus NL 30: Bba 6, Sulzberger-Nachlass [Zentralbibliothek Zürich, Musikabteilung], nicht identifizierte Quelle, 1926, S. 3 und 5. SU
20. Mus. ep. F. B. 69, 1.1.1918. SU
21. Umberto Boccioni, Arrigo Serato, Emilio und Augusto Anzoletti, Hugo Leichentritt, Edith Andreae, Isidor Philipp, der Marchese di Casanova, Leo Kestenberg, Mario Corti, Gino Tagliapietra usw. SU
22. Brief an den Marchese di Casanova, in F. Busoni, «Lettere..., a.a.O.» Nr. 334, S. 441. SU
23. Brief an Philipp vom 11.5.1920, Mus. ep. F. B. 328a. Am 5.121920 schrieb er von Berlin an denselben Adressaten: «J’ai dû negliger ma correspondance, quoique j’ecrive de trois à six lettres par jour.» [Mus. ep. F. B. 338a] SU
24. Brief an Jella Oppenheimer, September 1917, Neue Zürcher Zeitung 22.6.1931: «Es ist bemerkenswert, dass sehr viele Männer, die sich hierher gerettet haben, einzeln verbleiben, nicht einander sich anschließen.» Und weiter «[...] der Kreis zieht sich immer enger zusammen, die Anregung muss immer wieder aus den Eingeweide gezogen worden; als wie einer, der um sich zu ernähren, am eigenen Arme frässe.» [Brief an Petri vom 20.11.1917, in F. Busoni, Briefe an Henri, Katharina und Egon Petri, herausgegeben von Martina Weindel, Wilhelmshafen 2000, S. 279.] SU
25. Im hier wiedergegebenen Brief an Clausetti bezeichnet er die Wahl in Berlin zu wohnen als «Exil». SU
26. «...eine Sprache, in der ich mich sicherer bewege.» [Mus. ep. F. B. 200]. SU
27. Vgl. den Brief an Edith Andreae vom 25.7.1920, in «Briefe Busonis an Edith Andreae», herausgegeben von Andres Briner, Zürich 1976, S. 33. SU
28. R. M. Rilke, «Florentinisches Tagebuch», Leipzig 1994, S. 38. SU
29. Brief Nr. 56, in Willimann, «Der Briefwechsel...», a.a.O. S.88. SU
30. Brief vom 11.8.1920 [Mus. ep. F. B. 246]. SU
31. Mus. ep. F. B. 249, 1.10.1920. SU
32. Elias Canetti, «Die gerettete Zunge», Frankfurt am Main 2000, S. 177 - 178 und 198. SU
33. Cfr. Edward Dent, «Ferruccio Busoni. A Biography», London 1933, S. 238.
34. @ Amadeus Schwarzkopf, Sohn von Michael, Zürich.