Sonnabend 26 Juli [1924] Seit vorgestern scheint eine weitere Verschlechterung des Zustandes eingetreten zu sein. FB erkennt Umgebung nur mühsam. Sprechen fällt immer schwerer.


Sonntag 27 Juli Eine leichte Halsentzündung hiess mich vorsichtig sein, so war ich vorgestern nicht bei FB gewesen. Gestern aber trieb mich die Unruhe hin. Zeitungen stiessen schon Unkenrufe aus 'die auf das Schlimmste vorbereiten' sollten. Es war wieder eine Verschlechterung eingetreten, wie mir Lello [der Sohn Raffaello] und die Krankenschwester gleich bei der Tür sagten. Es war diese unsympathische Stunde (von 3-4), wo bei FB immer Kaffeehaus und Tratschbetrieb war. Lello und seine Japanerin, die neue Krankenschwester (mir sehr zuwider), Benno [der Sohn Benvenuto], [Michael von] Zadora ... Dieser sprühte Entrüstung über FBs ungerechte, heftige Ausfälle gegen Flaubert. So zählte er auf in seiner zappelig zerahrenen Art, wie FB auf jedes Werk Flauberts geschimpft, wie er behauptet, 'es gäbe niemand, der irgend ein Werk Fl[aubert]'s zuende gelesen hätte. So langweilig wäre das alles...' und so... Ich fand diese Art 'table talk', Wand an Wand mit einem in der Agonie liegenden Meister, 'dem' Meister - recht geschmacklos und warf (also vielleicht etwas barsch) ein: Das alles 'sei ja ganz anders.' Worauf Zadora frech wurde. Worauf ich mich entschuldigte, am Leben zu sein, schwieg - und bald darauf verschwand.
Frau Gerda bekam ich gar nicht zu Gesicht.
Zadora ist au fond ein lieber und herzensguter Kerl. Aber erstens ist er, wie alle Schüler einer gewissen Qualität, voll Ressentiment gegen den Meister, von dem sie nie loskommen und dann ist er masslos 'nervös'. Seine Bildung ist die übliche, und die Urteile sind etwas... jugendlich. Er ist zwar über vierzig, aber doch noch ein Junge in vielen Sachen. Gestern gieng es mir - was selten vorkommt - doch 'über die Hutschnur', neben dem Sterbezimmer solchen Quatsch mitanzuhören zu müsen. Ich verwünschte mich, dass ich mich an diesen verfluchten Kaffeehaustisch gesetzt hatte.
FB hat während seiner 2jährigen Krankheit diese Phasen der Auflehnung und der bitteren Revision mit Schmähung und Ungerechtigkeit gegen 'abgestempelte Gipfel' gehabt. So war die Schmähsucht gegen Beethoven, gegen Wagner, gegen Flaubert, Balzac etc., etc. zu verstehen: Ein Scheidender, der hemmungslos Götzen zerschlägt, vor denen er (mit den anderen) früher faul gebetet. All das war vorübergehend, und schon war er wieder im Begriff, zur endlichen Mitte der auseitigen gerechten Würdigung zurückzukehren... aber da geht er von uns. Ausserdem: es waren nur Momente, wo er so sprach. Momente irgend eines Druckes. Somit aber hess er schon - mit Auswahl gelten, was Geltung hat. Ich erinnere mich aus der letzten Zeit seiner richtigstellenden Bewunderung: Beethoven = Missa sol[emnis], Letzte Quartette, op. 106.
Balzac: kleine Erzählungen, z.B.: 'Sarrasine'
Flaubert: 3 Contes, St. Antoine.
Nur mit Wagner - da war er ganz und gar unversöhnlich und zu gar keinem Einlenken bereit.
All das war aber auch die bittere Oppositionslust eines Verbitterten. Er glaubte, ungerecht und böse gezüchtigt zu sein. Schuldlos fühlte er sich und bitter (ungerecht wurde er).
Und das alles hätte ich vorbringen können - zu erklären dass es 'anders' sei, als Zadora es darstellte. Aber nitschewo...

Der Himmel verhüte, dass ich in die bevorstehenden, fürchterlichen und abscheulichen Keilereien und blutigen Keifereien hineingezogen werde, die jetzt im Hause des Dahingegangenen losbrechen werden!!

[Schwarz umrandet:]


Heute Sonntag 27 Juli zwischen 4-5 Uhr morgens ist FB entschlafen.
Ich kam von Unruhe getrieben um 11 Uhr vormittag hin. Benno empfieng mich verlegen lächelnd. Auf meine Frage nach der Nacht und ihren Verlauf antwortet er nicht. Lächelt verlegen. Wir treten ins Musikzimmer. Zadora am Sofa. Ich frage wieder. Endlich sehe ich und höre. Nebenan liegt der Tote. Ich wende mich ab...
Frau Gerda nicht zu sehen. Lello nicht da. Ich trete ins Sterbezimmer. Frau Gerdas Bett: die Matratzen bar, kreuz und quer und nebenan ein weisses Laken, versteckt eine ganz geringe schmächtize Masse.
Ich hebe das Tuch. Gelb, gross, friedlich der glatte Kopf Bart rasiert. (?) Ist eine schmale Binde um die Stirne?? Ich eile hinweg.
Jetzt ist unser Führer, unser Gewissen, von uns genommen. Rabiate Schwärze [?Unleserlich], die Züge können aufatmen.
Wer aber wird sein Werk und Wirken weiterführen?? - -


Es trieb mich wieder auf die Strasse und in die Nähe des Hauses am Viktoria Luisenplatz. Rita Bötticher [eine enge Freundin Busonis und seine Sekretärin] mit Mutter - in Schwarz - [in der] Luitpold-Strasse getroffen. Gleich wollten sie Schmähkonzerte, Schimpfen und Schmähen einsetzen gegen Frau Gerda und die flegelhaften Söhne. Ich stellte das schnell ab. Rita B.[ötticher] erzählte, was sie von der Krankenschwester über die letzten Stunden FB's gehört hat. Um 12h Mitternacht ass FB noch ein Ei. Die Schwester reichte es ihm. Er fragte sie: 'Ist das der Tod?' Und später [Ende des schwarzen Randes]
[s. Anhang, Abb. 5]
als die Krankenschwester eine beruhigende Medizin reichte, seufzte er: 'Ich bin ja schon todt.'
Um 4 Uhr früh kam Dr. Meyer und bald darauf sei er in den Armen des Arztes und der Schwester gestorben. Sie wuschen und kleideten ihn, und er wurde rasiert. Der Kopf wirkt jetzt wieder gross und mächtig.

Rita B[ötticher] behauptet, über alle Pläne und Werke, Absichten und Bestimmungen FB's von ihm unterrichtet zu sein. Schon aber steht sie grollend abseits. Flegeleien der Familie vorschiebend. Leichtentritt sei gestern schweren Herzens abgereist. Er sei der 'gegebene' Nachlassordner und Verwalter? Ecke Luitpold und Münchner Str. in der Konditorei Thier sassen Petri und Frau. Ich konnte nicht hinzu. Mir graut vor Possen und Komödien und fratzenhaften Wichtigtuereien der nächsten Tage.

Sicher ist: - dem Meister der Töne und dem herrlichen Geist grosser Harmonien ward kein friedliches Sterben beschert. Immer in all diesen schweren, schweren zwei Jahren gab es hässlichen Kampf um ihn, mit ihm, er gegen alles, alles um ihn, in Streit und Keilerei. Eifersucht, Missgunst und Gereiztheit zerrissen die Luft bis zur allerletzten Stunde. Da denk' ich an Weill, wie er meint: Das war ein heidnisches Sterben. ...

Und er wird nicht aufhören, Streitobjekt zu bleiben. Denn jetzt kann Eifersucht und Machtkitzel weiterstreiten um den Nachlass der Güter und Werke und um ihre 'richtige' Verwaltung!!!

Oh, Menschen, Menschen, Menschen ...


Montag 28. Juli

Heute um 12.30 wurde (nachdem das Gesicht des Toten rasiert) von Bildhauer Kurt Kroner und Gehilfen [die] Gesichtsmaske (und Photographien) genommen. Wieder sah ich die Leiche und war entsetzt: Wie fürchterlich verändert, wie durchaus fremd und elend fern sah das aus! Besonders die untere Gesichtshälfte: das ist ein Fremder. Und so also sieht jetzt die 'Wohnung' aus ohne den Geist.

Rummel im Haus. Petri, Zadora, Kestenberg, Weill, Dr. Löwenstein, Frl. Simon, die Frauen Schwiegertöchter und Söhne. Beratungen über Beerdigung, Schwierigkeit der Verbrennung. Feier von der Akademie veranstaltet. Begräbniseinladungen an 100 Menschen...
Frau Gerda heute wieder nicht gesehen...

28/VII Montag

Nachmittag dort. Frau Gerda umarmt und getröstet. Sie weinte, schien mir aber aufrecht und mutig. Die Worte, die ich ihr sagte: wir müssen weiterleben, wir haben noch viel und wichtiges für ihn zu besorgen und zu bewirken - schien ihrer eigenen Überzeugung zu entsprechen. Die Söhne sassen mit Zadora im Speisezimmer und schimpften, spotteten, medisierten und parodierten jeden Besucher und Freund, der kam und gieng. Diesem Haus und Kreis (der zerbrochen) muss ich jetzt adieu sagen. Man soll mich rufen, wenn - man mich braucht...


30 Juli Mittwoch Heute um 12 h war in der Akademie am Pariserplatz für geladene Gäste eine Trauerfeier. Grosser Zudrang von Menschen. Familie und nähere Freunde wurden zuerst in ein gesondertes Zimmer gebeten. Dort versammelten sich Die Söhne und Schwiegertöchter

Jarnach
Weill
Zadora
Petri und ich
Gurlitt jun.[ior]
Kestenberg
Frl. Chiwick
Frl. Friedberg
Frl. Irene Sanden (Schäffsberg, Grünberg)
Frau Prof. Weigert (Behmer)411
Frl. Dr. Simon
die Frauen Zadora's Petri's, Kestenberg's, Jarnach's [rechts daneben…] Frau Gerda blieb fern. Man sagt:?? ein gegenseitiges Versprechen der ehegatten, nicht der Beerdigung beizuwohnen, sei der grund? [...]