Ringrazio di cuore il Prof. Dr. Albrecht Riethmüller e la casa editrice Schott di Mainz per avermi gentilmente concesso di pubblicare un brano del volume FERRUCCIO BUSONIS POETIK legato ai miei studi sui rapporti tra Busoni, Boccioni e il futurismo.


SCHOTT MUSIKWISSENSCHAFT MAINZ

FERRUCCIO BUSONIS POETIK

Neue Studien zur Musikwissenschaft

Herausgegeben von der Kommission für
Musikwissenschaft der Akademie der
Wissenschaften und der Literatur, Mainz.

Schott Musik International, Mainz.

Band IV.
1988. 212 Seiten. DM 74,80
ISBN 3-7957-1723-X.


Ferruccio Busoni (1866 - 1924) war eine ebenso universelle wle schillernde Künstlerpersönlichkeit: Pianist und Klavierpädagoge, Herausgeber und Bearbeiter von Musik, Komponist, Asthetiker und Schriftsteller, einerseits fest verwurzelt in der Tradition nicht zuletzt der deutschen Romantik, andererseits dem Experiment zugeneigt und auf die Zukunft hin gerichtet. In seiner spannungsvollen Doppelgesichtigkeit ist er eine repräsentative Erscheinung der musikalisch-künstlerlschen Umbruchszeit zu Beginn des 20.Jahrhunderts, obwohl er als Komponist, als der er eigentlich gelten wollte, ein Aussenseiter blieb.

Das vorliegende Buch will die Denkstruktur Busonis - die seinen künstlerischen Betätigungen zugrundeliegende Poetik - erfassen. Dazu werden Busonis kompositorisches Vorgehen und seine ästhetischen Reflexionen zusammengeführt.

Metodisch geschieht dies dadurch, dass die Interpretation sich auf ein einziges Werk konzentriert: auf Busonis 1898 komponierte Zweite Violinsonate op. 36a und ihre Umarbeitung zu der «Improvisation über das Bachsche Chorallied 'Wie wohl ist mir, O Freund der Seele für zwei Klaviere» von 1916. Dabei kommt eine Auffassung des künstlerischen Schaffens (Poiesis) zum Vorschein, in der - geleitet vom Gedanken der Verwandlung - Schaffen und Nachschaffen, Komposition und Bearbeitung letztlich zusammenfallen.


ZU DEN UMSTÄNDEN DER ENTSTEHUNG

pp. 94-102


Es gibt in Busonis Leben, soweit gesehen werden kann, nur eine tiefgreifende und nachhaltige Erschütterung, die den Fünfzigjährigen traf: der Weltkrieg. Das freiwillige, aber “verhasste Exil” begann er mit einer Amerikareise, und es führte ihn dann nach Zürich [1], wo er, wie berichtet wird [2], im Oktober 1915 verstört anlangte und mit Hilfe des Dirigenten und Komponisten Volkmar Andreae um Asyl nachsuchte, ohne nach Berlin weiterzureisen, wohin er erst im September 1920 zurückkehrte. “Ich bin nicht alt genug um zu verzichten, nicht mehr so jung um zu versäumen. - Ich werde diese verbrecherische Amputation an meinem Leben nie verwinden”, schreibt er im Juni 1915 aus New York an Edith Andreae, die Schwester des 1922 von Rechtsradikalen ermordeten deutschen Aussenministers Walter Rathenau [3]. (Maler wie Otto Dix haben anschliessend die Kriegs-Amputierten unter eben dieser Bedeutung der Lebens-Verkrüppelung in scharfen Anklagen ins Bild erhoben.) Zwar vermochte es der Krieg nicht, Busonis prospektive Haltung zur Kapitulation zu zwingen; aber er überstand den Krieg - auch in seinem Äusseren - nicht ohne die Blessuren eines frühen Alterns, dem dann bald neben einer verschlechterten finanziellen Situation das Kränkeln folgte. [4] Befördert wohl auch durch die trotz Fortschreiten des Alters mangelnde Anerkennung als Komponist, als der Busoni sich jetzt hauptsächlich verstand, distanzierte er sich unter dem Druck einer nachrückenden Komponistengeneration zunehmend von der “Jugend”, der bis dahin seine Zuversicht und sein Glaube in besonderer Weise gegolten hatten.
Die Weigerung, in einem der kriegsführenden Länder zu verbleiben, erachtete Busoni als eine exemplarische Tat: “lch litt für die ganze Welt und wurde - heimatlos” [5]. Aber es ist keineswegs nur der düstere politische Horizont, der hier wirkt. Busoni empfand den Krieg nicht nur an sich als das Unrecht, in dessen Verlauf dann ausgerechnet sein Heimatland Italien und seine Wahlheimat Deutschland sinnloses Blut gegeneinander vergossen. Sondern er, der den Aufenthalt in den Metropolen am meisten schätzte, empfand auch Zürich als wenig tröstende Kleinstadt und die Schweiz überhaupt als beengend, wiewohl er die Anerkennung, die ihm das Zürcher Exil [6] einschliesslich der Ehrenpromotion der Zürcher Universität 1919 bescherte, dankbar akzeptierte und die “für mich friedlichen Kriegsjahre” [7] durchaus zu schätzen und für seine kompositorische Arbeit extensiv zu nutzen wusste. Busoni erblickte in dem Krieg zudem einen persönlichen Affront, eine verbrecherische Amputation an seinem Leben also eine Verstümmelung, die hauptsächlich darin bestand, dass ihm Freiheiten geraubt wurden, dass die ihm notwendige Bewegungsfreiheit, die er als Grundrecht zumal des Künstlers ansah, eingeschränkt wurde. [8]


a) AUF SAN REMIGIO BEI PALLANZA

Busonis Weigerung, sich in einem am Kriege beteiligten Land aufzuhalten, scheint zunächst jedenfalls nicht so ausschliesslich gewesen zu sein. In Italien, seit dem 23. Mai 1915 mit Österreich-Ungarn und seit dem 20. August 1915 mit der Türkei im Kriegszustand, konzertierte er nach den Angaben der Biographen von Zürich aus im Frühjahr 1916 in Rom. [9] Noch bevor Italien am 26. August 1916 Deutschland den Krieg erklärte, verbrachte Busoni im Juni - und dies ist nun durch ihn selbst gesichert [10] - einige Wochen auf San Remigio bei Pallanza am Lago Maggiore als Gast des Marchese Silvio della Valle di Casanova, des Widmungsträgers der Improvisation, den Dent als einen Mann von bemerkenswerter Kultur schildert, voller Ergebung für die deutsche Literatur (“which induced him to write poetry in German”) [11]. Busonis Interesse dürfte jedoch neben der Kultur und der Bildung des Marchese dessen Besitz gegolten haben, zu dem offenbar unveröffentlichte Liszt-Handschriften gehörten [12], die Busoni, wo immer sich Gelegenheit dazu bot, zu kollationieren wünschte und, wo in seltenen Fällen möglich, sammelte. Schon 1900 hatte er im Vorbericht der damals im Planungsstadium befindlichen Gesamtausgabe der Lisztschen Klavierwerke die im Falle Liszts naheliegende [13], aber seinerzeit selbst von der Musikwissenschaft, sofern sie Werke edierte, weder in der theoretischen noch in der praktischen Bedeutung wirklich gesehene Forderung aufgestellt: “Die Gesamtausgabe soll nicht nur alle Werke, sondern von allen, jede Fassung bringen” [14]. Es scheint so, als sei Busoni derjenige gewesen, der das Problem der Fassungen (als Formen der Bearbeitung) in seiner grundsätzlichen Bedeutung und seinen folgenschweren, relativierenden Konsequenzen sowohl für den Werk- als auch für den Kompositionsbegriff als erster vollständig erfasst und als Herausgeber praktisch zu bewältigen versucht hat.
Zur selben Zeit und ebenfalls als Gast des Marchese hielt sich der Maler des futurismo Umberto Boccioni am Lago Maggiore auf [15]. Er porträtierte bei dieser Gelegenheit nicht nur, wie in Busoni-Biographien oft erwähnt wird, Busoni selbst, sondern auch zweimal dessen Frau Gerda [16]. Busoni hatte Bilder Boccionis im März 1912 in der Londoner Sackville Gallery kennengelernt, wohin die erste international gezeigte Futuristen-Ausstellung gegangen war, nachdem sie im Februar 1912 in der Pariser Galerie Bernheim-Jeune erstmals vorgestellt worden war. Beim Kennenlernen der futuristischen Bilder in London schien ihm Boccioni “der Stärkste” und dessen Bild “Die wachsende Stadt” (La Città che sale) “wirklich gross” [17]. «La città che sale», ein Hauptwerk Boccionis von 1910, fesselte Busonis Aufmerksamkeit so sehr, dass er sie erwarb, obwohl das beträchtliche Format des zwei auf nahezu drei Meter grossen leuchtenden Bildes selbst in der komfortablen Bürgerwohnung, die Busoni in Berlin angemietet hatte, aufdringlich hat wirken müssen [18]; jedenfalls meldet er seiner Frau Gerda am 20. Juli 1912 von Berlin aus in die Schweiz: “Die wachsende Stadt” steht in Deinem Zimmer” [19].
Der gemeinsame Aufenthalt Boccionis und Busonis am Lago Maggiore im Juni 1916 war ihr letztes Treffen, und Porträts von Busoni und seiner Frau waren die letzten Arbeiten des achtunddreissigjährigen Boccioni. Denn einen Monat später wurde Boccioni, der sich wie viele führende Futuristen bei Kriegsbeginn freiwillig meldete und neun Monate gedient hatte, zum italienischen Militär eingezogen, um am 17. August in einer Kavallerieübung bei Verona vom Pferd zu stürzen, woran er tags darauf starb. Die italienische Presse stilisierte diesen Unglücksfall zum Heldentod hoch und verstieg sich dabei dazu, den “Helden” Boccioni neben den Künstler Boccioni zu stellen. Daraufhin liess Busoni noch im August eine Stellungnahme in die Neue Zürcher Zeitung einrücken [20], in der er die “patriotische Ekstase” der Zeitungsberichte, mit der “das Himmelsschreiende des Vorkommisses” übertönt werden solle, entschieden zurückweist und von “absichtlicher Entstellung” spricht, da Boccioni nicht, wie es die Presse wollte, “Briefe voller Glück” aus Verona geschrieben hatte [21], sondern an ihn, Busoni, noch am 12. August brieflich vom “Unerträglichen” und von der “heftigen Entmutigung” des “fürchterlichen” militärischen Lebens berichtet hatte. [22]


An dieser Geschichte des Kriegsfalls Boccioni [23] sind einige Punkte bemerkenswert die über die persönliche Wertschätzung Boccionis durch Busoni und über die von Busoni am Schluss zitierten “los desastros de la guerra” (Goya) hinausgehen. Erstens ist es eine bekannte, Busoni aufgrund seines persönlichen Umgangs mit Boccioni und Marinetti unmöglich verborgen gebliebene Tatsache, dass die Futuristen schon vor Italiens Libyen-Feldzug von 1911 nicht nur die allgemeine Kriegseuphorie, in der sich Europa dann 1914 befand, vertraten, sondern auch in ihren (politischen) Manifesten programmatisch noch etwas ganz anderes erklärten: die Verherrlichung des Krieges auch wenn diese nicht von allen Futuristen so rigoros wie von Marinetti betrieben wurde. Ein Schimmer davon ist selbst den letzten Briefen Boccionis zu entnehmen, aus denen Busoni im Kriegsfall Boccioni zum Nachweis von Boccionis Leiden unter dem Kriegsdienst zitiert. Boccioni schreibt dort: “Nichts ist furchtbarer als die Kunst” gegen sie erscheint selbst das “fürchterliche” Militärleben als blosses “Spiel”. Die Über-Dämonisierung der Kunst geschieht durchaus vor dem Hintergrund einer Dämonisierung des Krieges. Es mag sein, dass Busoni, sozusagen politisch noch nicht wachgerüttelt, die gleichzeitig mit der freien Atonalität auf den Plan tretenden Futuristen zunächst als eine blosse Kunstrichtung wahrnahm. Aber 1916, als nicht mehr etwas exotisch anmutende Feldzüge geführt wurden, sondern die kriegerische Zerstörung der bisherigen europäischen Ordnung und Werthaltung sichtbar war, musste der Kriegsfall Boccioni auch als eine implizite Kritik bestimmter Vorstellungen der Futuristen erscheinen, vielleicht auch als eine Andeutung darauf, dass es einen Unterschied macht, ob der Krieg im Atelier verherrlicht wird oder in der Kaserne erduldet werden muss.
Zweitens war Busoni stets darauf bedacht, Einfluss zu gewinnen. Mag ihm der Weg Schönbergs um und nach 1910, den er als Expressionismus und als für sich selbst nicht gangbar erachtete, auch fremd geblieben sein, seine Auseinandersetzungen mit Schönberg um die "Konzertmässige Interpretation" von Schönbergs Klavierstück op. 11/2 zeigt deutlich, dass er Schönberg in eine Schüler-Rolle zu versetzen versuchte, durch die er selbst in der Rolle des Lehrmeisters erscheinen konnte [24]. Der Anschluss an die Strömungen der "neuen Tonkunst", zumeist von Jüngeren als von ihm betrieben, schien ihm um 1910 besonders wünschenswert. Einzuwirken versuchte er aber auch auf die Malerei und vor allem auf sein Heimatland Italien, in dem er als künstlerisch-schöpferische Instanz einen noch geringeren Einfluss besass als in Deutschland [25]. Und gerade in dieser Absicht ist auch der Kriegsfall Boccioni zu verstehen. Busoni beginnt den Artikel über Boccioni so: “Ein dreiwöchiges Zusammenwohnen mit mir [26] schien ihn sehr angeregt zu haben; derart, dass... Boccioni mit neuen Idealen erfüllt, sich vor eine entscheidende Arbeitsperiode gestellt fühlte” [27]. Die letzten auf San Remigio gemalten Bilder, vor allem das in jeder Hinsicht monumentale Porträt Busonis am Lago Maggiore (dessen intensive, auf braun, grün und blauviolett beruhende Farbkomposition in keiner der in Kunstbänden, in Ausstellungskatalogen und auf Schallplattenhüllen anzutreffenden Farbabbildungen ganz getroffen ist und den starken Eindruck ebenso einbüsst wie La citta che sale von 1910 auf den meisten Reprographien) zeigen Boccioni zwar stärker an Cezanne orientiert und um ein neues Verhältnis zur Gegenständlichkeit bemüht, aber es ist nicht bekannt, zu welchen neuen Kunstufern der Futurist hat aufbrechen wollen - die Werke fehlen -, und es ist unverkennbar, dass Busoni als spiritus rector einer neuen Wendung, die Boccioni nehmen wollte, auftritt. Und so dürfte Busoni nicht nur die freundschaftliche Dankbarkeit und Anhänglichkeit des zwölf Jahre jüngeren Boccioni unter Beweis stellen, sondern auch seinen eigenen Anteil an dieser Wendung hervorgehoben wissen wollen, wenn er den letzten Brief Boccionis (vom 12. August 1916) so zitiert: “Diese ganze Periode meines Lebens steht unter Ihrem Einfluss, und nur Ihnen verdanke ich die Fassung, um dieses fürchterliche Leben zu ertragen” [28].
Drittens dürfte heute, nicht nur aufgrund der engen Beziehung von Marinetti und Mussolini, unbezweifelt sein, dass der futurismo und der fascismo derart miteinander zu tun haben, dass der erstere im Horizont des letzteren steht [29]. Vertrackt wird dieser Sachverhalt jedoch dadurch, dass der neoclassicismo, das scheinbare Gegenbild zum futurismo, ebenfalls mit dem fascismo verschwistert war [30], so dass alle drei ein merkwürdig aufeinander bezogenes Dreieck bilden. Was die Epochen selbst im aktuellen Tagesstreit als getrennt und als grundverschieden erachten mögen, rückt im historischen Rückblick oft eng zusammen. Busoni, der schon aufgrund seiner supranationalen Haltung aller Neigung zum fascismo unverdächtig ist und bleibt, war ja nicht nur (im Entwurf 1907 bzw. 1916) der Streiter für neue Ideen und Ansichten im Felde der Musik, die Hans Pfitzner in seiner Polemik unter dem Titel Futuristengefahr - nach Busoni ein “Hintertreppentitel” [31] - glaubte brandmarken zu müssen, sondern auch einer der hauptsächlichen, wenn nicht neben Strawinsky der wichtigste Wegbereiter des musikalischen Neoklassizismus. Busoni, aufgeschlossen für das Neue, das sich künstlerisch tat, war zwar an den futuristischen Versuchen interessiert, ohne deren Parteigänger zu sein. Ganz im Gegenteil, er verfolgte die Bestrebungen zwar mit Sympathie aber er fürchtete jede Rubrizierung, wie er auch keine “Schule” gründete. Für die bruitistischen Exklamationen, zu denen sich die Futuristen auf musikalischem Gebiet bekannten, hatte er offensichtlich wenig Verständnis. In einer Glosse Futurismus der Tonkunst vom September 1912 [32] reagiert Busoni auf eine der sich auf die Musik beziehenden, hier noch anonymen futuristischen Absichtserklärungen in der für ihn typischen Weise: Einerseits begrüsst er die "musikalischen Nihilisten", andererseits verweist er darauf, dass er selbst schon Jahre zuvor das Hauptanliegen, nämlich eine Teilung der Oktave in mehr als zwölf Halbtöne, wenigstens als "Theoretiker" verfolgt habe. [33] Am Schluss aber stellt er Fragen, die sowohl die Übermacht seines Glaubens an die Tradition unter Beweis stellen als auch indirekt Kritik an den - für Busoni ohne sichtbare musikalische Taten zeitigenden - Erklärungen enthalten: “Nur zwei Fragen bleiben übrig, erstens: Können wir alles Alte und ebensogut wie die Alten, bevor wir Neues beginnen? Zweitens: Haben wir auch Talent?" [34] Die beiden Fragen - eigentlich sind es sogar drei - zeigen trotz und gerade wegen der schillernden Formulierung "wir" auch die Skepsis, die Busoni gegenüber den futuristischen Programmen einer Traditions-Entwurzelung hatte, und zwar nicht so sehr allgemein, sondern speziell im Blick auf die Musik, in der die futuristischen Versuche, ob sie nun in Manifesten oder kompositorisch von Russolo oder Pratella herstammen, tatsächlich musikgeschichtliche Randerscheinungen geblieben sind.


Einerseits verhandelte Busoni im Juni 1913 in Paris mit Gabriele d'Annunzio wegen eines Librettos für eine Lionardo-Oper als einer italienischen "Nationaloper", die somit dem Hauptwerk-Plan Doktor Faust als "italienischer Faust" vorangegangen wäre, hätten die Verhandlungen zum Werk geführt; diese müssen eine recht kuriose Nuance dadurch erhalten haben, dass eben ein mysteriöser Raub der Gioconda aus dem Louvre stattgefunden hatte und d'Annunzio auf der Behauptung beharrte, er selbst sei im Besitz des Bildes [35]. Andererseits besuchte Busoni dort eine "Konferenz" Marinettis, zu der auch Boccioni "futuristische Skulptur" ausgestellt hatte; über diese Skulpturen und die Konferenz im allgemeinen schreibt Busoni am 23. Juni aus Paris [36]: “Die Idee ist, in einer Form mehrere Bewegungen eines Körpers mit architektonischer Wirkung zu geben... Es ist viel Studium darin, aber es sieht hässlich aus, namentlich wenn der Mann, anstatt des Kopfes, ein Spielzeughäuschen trägt, aus Gründen, die der Boccioni mir mit vieler Theorie erklärte. Die Konferenz endete in Streit. — Gegen diese Kunst und die Incarnation der Monna Lisa, als Maitresse Gabriele's [d'Annunzio], ist Schönberg's Pierrot Lunaire [1912] eine laue Limonade!” Hier zeigt es sich wieder deutlich, wie sehr Busoni sich durch Schönberg herausgefordert fühlte - eine frühe Aufführung des Pierrot lunaire unter Schönberg hatte eine Woche zuvor in Busonis Wohnung stattgefunden [37] -, wie er sich sowohl offen hielt für alle neuen Strömungen - hier des Futurismus -, ohne ihnen kritiklos zu begegnen, und wie er sich selbst ins Spiel bringt, und zwar über den Plan mit d'Annunzio. Dessen fixe Idee, er besitze die lebendig gewordene Gioconda als Mann und werde dem Louvre das Bild ohne die Figur, aber mit dem in der Bildlandschaft zurückgebliebenen "Lächeln" zurückgeben, erinnert Busoni sogleich an eine "umgekehrte" Erzählung von Edgar Allan Poe, in der das Modell eines Frauenporträts in dem Moment tot umfällt, in dem der Maler das Bild vollendet hat, weil alles Leben vom Modell in das Bild übergegangen ist [38]. Das Hoffmanneske der Vorstellungen, die die Lebens-Macht der Kunst bzw. des künstlerischen Schaffens in verschiedenen Variationen unter Beweis stellen sollen, ist unverkennbar. Einer der Gründe für Busonis dann durch den Weltkrieg herbeigeführte Krise dürfte gerade darin zu sehen sein, dass er erstmals in dem unbedingten Glauben erschüttert worden ist, die Kunst sei dem Leben gegenüber die höhere, vermögendere Wirklichkeit.
Indem Busoni im Juni 1916 auf San Remigio Boccioni zu einer Neuorientierung im Schaffen hat verhelfen wollen, dürfte er zugleich auch seine eigene Position hinsichtlich der "Zukunft" der Kunst bzw. der Tonkunst für sich selber präzisiert haben: wahrscheinlich im Sinne eines deutlicheren Vorscheins seiner (neo-)klassizistischen Ambition [39]. So wenig Busoni durch die musikalischen "lnnovationen" der Futuristen (Bruitismus, Maschinen-Musik usw.) beeindruckt war und so schwer es sein mag, die futuristischen Manifeste, sofern sie sich nicht auf die Musik beziehen, mit der Musik um 1915 zusammenzuspannen - dies Problem aufzurollen gehört nicht hierher -, so dürfte doch das, was sich zwischen Busoni und Boccioni im Juni 1916 abgespielt hat, beispielhaft sein für den auf den ersten Blick vielleicht verwirrenden, aber konsequenten Übergang von der Hauptphase des Futurismus um 1910 (entsprechend der zeitgleichen freien Atonalität in der Musik) zum Programm des neoclassicismo, wobei das Stichwort "Sachlichkeit" ein festes Bindeglied bilden kann. Dieser schillernde Begriff hat sowohl romantisch als auch antiromantisch, sowohl emotional (im Sinne eines überpersönli-chen, d. h. entsubjektivierten einfachen und hohen Pathos bzw. einer Monumentalität) als auch emotionslos (unter Abhebung auf die Funktionalität von Kunst und in der Musik insbesondere als Anti-Espressivo-Bewegung) aufgefasst werden können, weshalb neusachliche (und neoklassizistische) Strömungen sowohl von Mussolini und später von Hitler haben vereinnahmt werden können als sich auch (wo sie diese Liaison nicht wollten) dennoch und zugleich von diesen politischen Strömungen zu Unrecht haben vereinnahmt sehen können, woraus eine Diffusität entstanden ist, deren rückhaltlose und restlose historische Aufhellung mitsamt allen künstlerischen, kunstpolitischen und politischen Implikationen bis heute keineswegs hinreichend erörtert ist. In anderen musikgeschichtlichen Perioden mag es weit hergeholt sein und nutzlos erscheinen, Ideologiegeschichte und Kompositionsgeschichte aufs engste miteinander in Beziehung zu setzen, die letztere als Funktion der ersteren zu betrachten; in der Periode zwischen 1914 und 1945 aber wird man ohne ideologiegeschichtliche Verankerung der komposi-tionsgeschichtlichen Phänomene die volle musikgeschichtliche Wirklichkeit verfehlen müssen, und das Dreieck futurismo - neoclassicismo - fascismo ist (zunächst in Italien) ein Paradigma für diese Zusammenhänge, auf die hier nur hingewiesen werden kann, ohne dass sie, zumal musikhistorische Vorarbeiten noch weitgehend ausstehen, näher ausgebreitet werden können. Busonis Improvisation, wahrscheinlich während des Zusammenseins mit Boccioni auf San Remigio wenn nicht ganz ausgearbeitet, so doch entworfen, steht ebenso im Horizont des Neoklassizismus wie das Zusammensein mit Boccioni selbst.


ANMERKUNGEN


[1] 7 Vgl. Dent 1933, S. 221 ff. Busoni kam am 20.1.1915 mit seiner schwedischen Frau Gerda und den beiden Söhnen Benvenuro (Benni, geboren 1891 in Boston) und Raffaello (Lello, geboren 1900 in Berlin) in New York an, absolvierte im März/April eine Tournee durch die Vereinigten Sraaten und zögerte danach - Italien erklärte Österreich-Ungarn am 23.5. den Krieg -, von dieser seiner letzten Amerikareise nach Europa zurückzukehren. Allerdings verliessen die Busonis die Vereinigten Staaten im September 1915, und zwar ohne Benvenuto, der Anspruch auf amerikanische Staatsbürgerschaft machen konnte. Die Lage scheint auch insofern verfah-ren gewesen zu sein, als Busoni zu jener Zeit nominell Direktor des Liceo Musicale in Bologna war, - eine Stelle, die er, ohne seinen Wohnsitz in Berlin aufzugeben, am 1.10.1913 angetreten hatte. Busoni fand offenbar kein rechtes Verhältnis zu dieser ihn wieder enger mit Italien verbindenden Tätigkeit. Schon nach einem Jahr liess er sich (für die Amerikatournee) beurlauben, und sein Direktorenposten war bei der Rückkehr im September 1915 durch einseitige Verfügung anderweitig besetzt; jedenfalls landeten die Busonis in Genua, ohne nach Bologna zu fahren. Zu vermuten ist hier ein trübes Gemisch aus besonderen politischen Umständen und üblichen Stellen-Querelen, das biographisch bis jetzt nicht sachlich und neutral aufgearheitet worden ist (wozu noch die besondere Schwierigkeit tritt, dass die italienische Busoni-Literatur nicht selten dazu tendiert, Busoni als italienischen Komponisten in Anspruch zu nehmen, -ein zwar ebenso verständliches wie berechtigtes Anliegen, aber mitunter auch übereifrig betriebenes Unterfangen).

[2] Vgl. - unter Berufung auf Volkmar Andreae - Stuckenschmidt 1967, S. 41.

[3] Briefe an Andreae, S. 17; die Kondolation Busonis ebenda, S.40.

[4] Busoni selbst sah die Zusammenhänge kurz vor seinem Tode (am 1. Mai 19 an Jakob Wassermann) so: «Bis 1914 hatte ich mich nie um Politik um Krieg schlechte Kunst konnte mich aus dem Gleichgewicht bringen... Und auch wä bewahrte ich meine sonstige Haltung... Aber das Ende desselben enthüllte mir die Verwüstung und dieser neuen Situation war ich nicht mehr stark genug entgegenzutreten sie zu ertragen. Dieser Zustand offenbarte sich scheinbar ohne Ubergang bösen Strich durch mein Leben, der nicht von meiner Hand gezogen war, wie es mir üblich. Das ist zum grossen Teil die Geschichte meiner Krankheit» (auszugsweise veröff. in Theurich-Diss., S. 132 f.).

[5] Am 25.7. 1920 aus Zürich an Edith Andreae (Briefe an Andreae, S. 33). Vgl. ebenda S. 42 (ebenfalls rückblickend, aber ohne Datum): «Ich selbst hatte mir vorgenomm kein Kriegsland zu sehen, und ich hielt mir selber Wort.»

[6] Vgl. dazu Jelmoli 1929, aber auch die Briefe Busonis aus jener Zeit, insbesore an Hans Huber und Edith Andreae.

[7] Briefe an Andreae, S. 33 (von Juli 1920).

[8] Vgl. ebenda, 5.17 (vom Juni 1915), aber auch S.42 (ohne Datum), wo er durch Krieg, sondern durch Krankheit eingeschränkt, klagt: «Die Bewegungsfreiheit war mir dem ausgesprochenen Grossstadt-Strolchen, abgeschnitten».

[9] Stuckenschmidt 1967, S.42, vermutlich unter implizitem Bezug auf Dent 1933, S. 230f.; ähnlich auch Guerrini 1944, S. 135, aber alle ohne präzise Quellenangaben, ein höchst revisionsbedürftiger Zustand. Nach Sablich 1982, S.60, dirigierte und spielte Busoni im Februar in Rom und am 17. und 19. März in Mailand, nach Beaumont 1985, S. 207, dirigierte er die Uraufführung seines Rondo arlecchinesco am 5. März in Rom.


[10] Vgl. Von der Einheit, S. 241, in Verbindung mit der Orts- und Datumsangabe des Vorworts zur «Improvisation».


[11] Dent 1933, S. 231; vgl. Guerrini 1944, S. 136, und Stuckenschmidt 1967, S. 42.


[12] Darunter (laut Sablich 1982, S. 59, und Beaumont 1985, S. 59) ein Autograph von Liszts Totentanz, [Questo preziosissimo manoscritto è stato di recente (autunno 2001) venduto da un possessore privato nell'asta organizzata da Stargardt a Berlino], das Busoni für eine Neuausgabe einsah (erschienen 1919, vgl. Kindermann-Verzeichnis B 72).


[13] Kaum ein Lisztsches Klavierwerk liegt in nur einer Fassung vor, sondern von den meisten sind zwei oder mehr, und zwar nicht ein wenig retuschierte, sondern gründlich revidierte Fassungen überliefert.



[14] Von der Einheit, S. 67.

[15] In kunsthistorischen Betrachtungen, in den Lebensläufen Boccionis, in den Katalogen futuristischer Ausstellungen usw. hält sich bis heute die Legende, die «Villa am Lago Maggiore» hätte Busoni gehört bzw. sei eine «Villa di Busoni» und Boccioni dört Busonis Gast gewesen. Zwar naheliegend, aber falsch wird dabei unterstellt, der Porträtierte (als Auftraggeber) müsse auch der Besitzende und der Gastgeber sein, - ein, wie es scheint, tiefverwurzeltes kunsthistorisches Denkschema; vgl. z.B. A. Palazzeschi und G. Bruno, «L'opera completa di Boccioni» ( = Classici dell'Arte) Mailand 1969, unter den Nummern 198 bis 202, oder Christa Baumgarth, «Geschichte des Futurismus», Hamburg 1966, S.108 und S. 286. Photographien, die Boccioni beim Porträtiren Busonis und die die beiden zusammen mit dem Marchese zeigen, sind im Anhang von Dent 1933 (Tafel XIX) und bei Beaumont 1985 (Abb.4) wiedergegeben. - Der 176 x 120cm grosse «Ritratto del Maestro Busoni» befindet sich in der Galleria Nazionale d'Arte Moderna in Rom; eine ganzseitige Abbildung des Gemäldes findet sich neuerdings auch im Katalo 1985 in der Staatsgalerie Stutrgart gezeigten Ausstellung «Vom Klang der Bilder. Die Musik der Kunst des 20. Jahrhunderts», München 1985, S.115 (dort S. 62 auch Max Oppenheimers im selben Jahr 1916 in Zürich entstandenes Bild «Busoni am Klavier»).

[16] Vgl. Palazzeschi-Bruno, a.a.O., Nr. 198, 201 und 202; eines der beiden Bilder bei Beaumont 1985 (Abb. 5).

[17] Brief aus London vom 18. März 1912 (Briefe an seine Frau, S. 247); die deutsche Ubersetzung des Bildtitels stammt wohl von Busoni, für den es typisch ist, dass er (ebenda) der Erwäl des «packenden Eindrucks» der Ausstellung sogleich in Klammern den einschränkenden Zusatz folgen lässt: «Leider sehe ich auch diese Leute schon ,altmodisch' werden.»

[18] Das Bild gehört heute zu den Beständen des New Yorker Museum of Modern Art. Die (hauptsächlich in italienischen Kollektionen befindlichen) Skizzen und Entwürfe zu «La città che sale» sind nachgewiesen und abgebildet bei Palazzeschi-Bruno, a.a.O., Nr.119.

[19] Briefe an seine Frau, S. 251. — Die Ausstellung ging von London aus nach Berlin, wo sie im April und Mai 1912 gezeigt wurde. Busoni hatte sich wohl gleich in London mit Boccioni bekannt gemacht; denn Boccioni, der anders als Marinetti die Ausstellung auch nach Berlin begleitet hatte, schreibt von dort aus an Carlo Carrà, er habe Busoni aufsuchen wollen, «um einige Schritte zu unternehmen», ihn aber nicht angetroffen, weil Busoni zu Konzertreisen in Hamburg weilte; er hoffe, dass Marinetti noch nach Berlin komme, nicht zuletzt um ihm, des Deutschen uberhaupt nicht mächtig, hier etwas zu helfen (zit. nach Baumgarth, a.a.O., S. 84). Auf dem Rückweg von London konzertierte Busoni Ende März-Anfang April in Hamburg (vgl. Briefe an seine Frau, S. 247-250); andererseits notiert Edward Dent, zu Gast bei Busoni am 20. April 1912 in sein Tagebuch, Marinetti und Boccioni hätten angerufen und heftig mit dem geduldig zuhörenden Busoni gesprochen (vgl. Beaumont 1985, S. 180), und Busoni berichtet in seinem eigenen Tagebuch am 29. Juli 1912 von der seltsamen, geisterhaften Erscheinung des Bildes am Abend im Musikzimmer (vgl. ebenda).


[20] Der Kriegsfall Boccioni, in: Von der Einheit, S. 241 - 244.


[21] Ebenda, S. 243 f.


[22] Ebenda, S. 242.


[23] Sie hatte ein Nachspiel. Der Artikel kam dem im Juni 1916 nach zehn Monaten aus dem Militärdienst entlassenen Arnold Schönberg zu Ohren: Er nahm im November 1916 den Briefwechsel mit Busoni wieder auf und forderte den Kriegsfall Boccioni an. Wohl angeregt durch Busonis Veröffentlichung, verfasste er ein eigenes Manuskript Friedenssicherung, das er Busoni im Januar 1917 mit der Bitte um Einsatz für die pseudonyme Veröffendichung in einem neutralen Organ zuschickte (Briefwechsel mit Schönberg, S. 194- 197 und S. 202 -205) und in dem er verschiedene Vorschläge unterbreitet, die dann nach dem 11. Weltkrieg in der Charta der Vereinten Nationen verankert worden sind (näher dazu Theurich-Diss., S. 131-137). Es ist nicht bekannt, ob sich Busoni um den Abdruck bemühte und ob der Abdruck selbst in der Schweiz überhaupt möglich gewesen wäre. Als Schönberg im November 1916 Busonis «Artikel über den Frieden» anforderte, griff Busoni zu dem Mittel der indirekten Richtigstellung qua Präzisierung, - ein Mittel, das seinen gesamten Briefwechsel mit Schönberg durchzieht: Sein «kleines Feuilleton» sei «keine Friedensschrift, aber eine, worin die Kunst - in einer knappen Andeutung gegen den Krieg abgewogen wird» (Briefwechsel mit Schönberg, S. 195). Anders als Schönberg, der stets von dem Wunsche durchdrungen war, aktiv in das Geschehen, auch in das politische, einzugreifen, hätte Busoni wohl keinesfalls ein politisches Memorandum verfasst, sondern er wollte im Kriegsfall Boccioni primär die Aufmerksamkeit auf die Belange der Kunst in einer als misslich empfundenen und diese Belange malträtierenden Kriegszeit lenken und zur Nachdenklichkeit stimmen. Das schliesst nicht aus, dass Busoni es sich nicht gewünscht hätte, noch deutlichere Worte zu finden; kurz nach der Veröffentlichung schreibt er am 7. 9.1916 an Hans Huber: «Über Boccioni hätte ich noch manches andere geschrieben aber man hätte es nicht zum Drucke angenommen. Die Zeit steht im Zeichen des Maulkorbes.» (Briefe an Huber, S. 18).


[24] Vgl. Briefwechsel mit Schönberg, insbes. S. 166 ff. (aus dem Jahre 1909); die «Konzertmässige Interpretation» im Kindermann-Verzeicbitis B 97.

[25] Dazu gehört auch trotz aller Zwiespältigkeit die erwähnte Annahme des Direktorats des Liceo Musicale in Bologna (vgl. <im Buch> Anm. 7).


[26] Diese Bemerkung könnte der Anlass für oben Anm. 15 genannte Legende unter Kunsthistorikern gewesen sein.


[27] Von der Einheit, S. 241.


[28] Ebenda, S. 242.



[29] Vgl. z. B. Marianne W. Martin, in: «Futurism. A Modern Focus», veröff. durch die Solomon Guggenheim Foundation, New York 1973, S. 27.


[30] Darauf hat D. Kämper beim Internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung Bayreuth 1981 hingewiesen, in: Kongressbericht Bayreuth, Kassel 1984, S. 177.


[31] Briefe an Huber, S. 30. In seinem Offenen Brief an Hans Pfitzner vom Juni 1917 (Von der Einheit, S. 247-250), in dem Busoni Pfitzners Angriffe auf den Entwurf (erst in der Ausgabe von 1916) als streitbares «Missverständnis» seiner «wohlgemeinten, friedenserfüllten Sätze» bezeichnet (S.250), beschwert er sich gleich zu Beginn (S.247 f.), dass die «Betitelung, Futuristen-Gefahr» eine Irreführung sei: die Futuristen seien eine «Gruppe», «die mir fern steht» eine «Bewegung der Gegenwart», die zu seinen eigenen «Argumenten keine Beziehung» haben könnte, da er sich «niemals» einer «Sekte» angeschlossen habe.

[32] Von der Einheit S. 184-186.

[33] Von der futuristischen «Geräuschkunst» ist hier noch nicht die Rede. Sie ist hauptsächlich von Luigi Russolo im März 1913 in einem an Balilla Pratella («grand musicien futuriste») gerichteten Manifest befördert worden (vgl. L. Russolo, «L'art des bruits, Manifeste futuriste 1913», eingel. von M. Lemaître, Paris 1954). Zum Bruitismus scheint Busoni dann keine Stellungnahme mehr veröffentlicht zu haben.


[34] Von der Einheit, S. 185.1n diesen Zusammenhang gehört auch jene Erzählung, derzufolge sich Busoni während seiner Zürcher Exilzeit über den in Morges am Genfer See lebenden Strawinsky mokierte, weil dieser die (deutschen) Klassiker nicht liebte. Beim Zusammentreffen auf der Weimarer Bauhaus-Ausstellung von 1923 sei Strawinsky dann auf Busoni zugegangen und habe zur Rührung Busonis erklärt: «Meister, ich liebe jetzt die Klassiker» (mitgeteilt von Wl. Vogel, in: «Wesen und Einheit», S. 249 f.) . Ausserte sich Busoni zuvor kritisch über Strawinsky z.B. 1919 dahingehend, Strawinsky gebe «ein falsches Bild von dem, was in der Musik fortschrittlich sein soll» (Briefe an seine Frau, S. 366), so gab er danach seine Reserviertheit zugunsten grosser Zustimmung auf (z.B. 1924, vermutlich im Blick auf «Les Noces» von 1914-1923; vgl. Briefe an Andreae, S. 45).


[35] Vgl. Briefe an seine Frau, S. 277 f.


[36] Elbenda, S. 279. Boccioni war ausser mit Bildern insbesondere auch mit Plastiken hervotgetreten und fasste seine Ansichten in Buchform zusammen: «Pittura Scultura Futuriste (Dinamismo Plastico)», Mailand 1914.


[37] Am 17. 6. 1913, nachdem Busoni die Berliner Uraufführung im Oktober 1912 wegen einer eigenen Konzerttournee versäumt hatte. Busoni hat seinen Eindruck von dieser Privataufführung in einem ebenso aufschlussreichen wie hellsichtigen Brief an Egon Petri zusammengefasst (abgedr. bei Beaumont 1985, S. 208 f.), in dem er die Komposition bis hin zu Momenten des Genialen anerkennt und als unentschuldbar beklagt, dass Schönberg die Gedichte A. Girauds nicht im französischen Original belassen habe.


[38] Vgl. Briefe an seine Frau, S. 278. Gemeint ist Poes Arabeske «The Oval Portrait» von 1842.


[39] Bei Palazzeschi-Bruno (a.a.O., unter Nr. 198, dem Porträt Busonis) heisst es im Anschluss an einen Briet Boccionis an Pratella (vom 16. 6. 1916, also während der Zeit auf San Remigio), Busoni habe Boccioni die Idee erklärt: «innovare mantenendo una continuitä storica con la tradizione». Es ist nicht sicher, ob diese Idee von Palazzeschi-Bruno nicht aus Busonis späterem Brief-Aufsatz …Junge Klassizität» von 1920 (Von der Einheit, S. 275 - 279) übernommen ist; aber Busoni dürfte auf San Remigio seinen eigenen Standpunkt gefestigt haben, dass die eigentliche «Innovation» nicht aus den Momenten von Rebellion und Revolution, die im «Neuen» enthalten sind, sondern aus der Tradition und Geschichte, die das «Alte» anbietet, hervorgeht.