Am 11. Januar 1907 fand das zehnte Orchesterkonzert statt, eingeleitet von Busonis schon 1904 komponierter «Lustspiel-Ouvertüre», beschlossen mit Liszts «Zwei Episoden aus Lenaus Faust». Dazwischen dirigierten Hermann Behr und der Holländer Johan Wagenaar eigene Werke, leitete Busoni die Erstaufführung eines Phantasiestückes für Geige und Orchester von Hugo Kaun mit Michael Preß als Solist.
Ein Jahr von bunter, vielfältiger Fruchtbarkeit hatte begonnen. Der März brachte Konzerte in Marseille und München, dazwischen anstrengende Aufnahmen für das Welte-Mignon-Klavier in Freiburg. Die «Brautwahl» nahm Form an. Eine Reihe von Aufsätzen wurde für Berliner Zeitschriften geschrieben, einer über Strauss' «Salome», einer über das Auswendigspielen, einer zum Thema: «Wie ich komponiere». Von der Bach-Ausgabe waren sechs Tonstücke zur Veröffentlichung fertig, von den Bach-Bearbeitungen erschienen der erste Band der Orgel-Choralvorspiele und die Violinchaconne, die Eugen d'Albert gewidmet war. In Triest hatte Schmiedl den «Entwurf» und den «Mächtigen Zauberer» veröffentlicht.
Busoni fand relativ viel Zeit, in der Berliner Wohnung zu arbeiten, besonders da Gerda häufig auf Reisen war. Anfang August spielte er in dem eleganten Seebad Norderney und reiste direkt nach Weimar weiter, wo die Liszt Gesamtausgabe vorbereitet wurde. Der September führte ihn nach England, wo er bei einem Musikfest in Cardiff mitwirkte, von Bath bezaubert war, in Manchester Egon Petri nebst Frau traf. Mit amüsiertem Interesse las er Thomas de Quinceys «On murder as a fine art».
Mittlerweile war das Wiener Projekt Wirklichkeit geworden. Nach einer vortastenden Besprechung im September begann einen Monat später die Arbeit in der Meisterklasse. Von der Mehrzahl der Teilnehmer war Busoni enttäuscht. Aber einige starke Begabungen waren dabei, wie Leo Sirota, Gregor Beklemishew, Vera Maurina-Preß und die Amerikanerin Georgine Nelson. Im Vergleich zu Berlin erschien ihm Wien provinziell. Nur im Kreis der Wiener Werkstätten, in einem literarischen Cabaret, in der Gesellschaft Gustav Klimts fühlte er sich wohl. Die Wohnung im Schottenhof weckte Erinnerungen an Liszt, dem er als Knabe vorgespielt hatte.
Anfang Dezember waren die Elegien für Klavier beendet, bald danach orchestrierte er das 104.Petrarcasonett von Liszt. Auch die zwei Fassungen der Kadenz zu Mozarts d-Moll-Konzert entstanden in Wien und wurden Richard Faltin gewidmet.
«Es ist gut, daß ich meine vorläufige Arbeit mit dem Sonett abschließe, das ich Dir heute im fertigen Manuskript eben geschickt habe», heißt es am 17. Dezember in einem Briefan Gerda. «Ich bin fast schmerzlich angestrengt - aber auch sehr zufrieden mit dem Ergebnis dieses gesegneten Jahres I907...»
Immer wieder versuchte man, Busoni für eine ständige pädagogische Tätigkeit an Hochschulen zu verpflichten. Die Nachricht, daß er eine Meisterklasse am Wiener Konservatorium übernommen habe, wirkte dabei stimulierend, denn bis dahin hatte Busoni alle derartigen Versuche zurückgewiesen. Im Frühjahr I907 wandte sich der Direktor der Allgemeinen Musikschule Basel, Hans Huber, wegen der Leitung eines Meisterkurses an ihn. Busoni schätzte Huber als Komponisten und Pädagogen hoch und ist ihm auch in seinen Schweizer Exiljahren nahegetreten. Dennoch lehnte er ab, schlug aber gleichzeitig «mehrere junge, prächtige Männer» vor, darunter den «ausgezeichneten und hochgebildeten» Waldemar Lütschg, den «brillanten Klavierspieler verwegener Art» Michael von Zadora («ein Gentleman nebenbei, aber nervös und ohne feste Autorität»), Theodor Szanto und Egon Petri («mein echtester Schüler»). Er nannte ferner in zweiter Linie Bruno Mugellini, Alberto Fano, Johann Wijsman, vom Hörensagen Alfredo Casella und schließlich Rudolph Ganz.

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