Gleich nach Neujahr 1908 gab es Konzertarbeit in Berlin. Das elfte Programm im modernen Zyklus wurde am 3.Januar mit den Philharmonikern durchgeführt. Es gab drei Werke von Liszt, darunter das von Busoni instrumentierte Petrarcasonett «Pace non trovo», die sinfonische Fantasie «Pohjolas Tochter» von Jan Sibelius, ein Bacchanal aus der Harald-Symphonie von Paul Ertel, einem ehemaligen Liszt-Schüler, sowie Busonis eigenes Violinkonzert von 1899 mit Emile Sauret. Und kurz darauf dirigierte Busoni in der Singakademie einen Abend, bei dem Leo Kestenberg die beiden Klavierkonzerte und den Totentanz von Liszt spielte.
Aber schon Mitte Januar begann wieder die Arbeit in Wien. Busoni schreibt darüber an Gerda, doch die Gedanken schweifen immer ab. Er spricht von der Ibsen-Ausgabe, die sie ihm geschenkt hat, und findet, «John Gabriel Borkmann» sei Ibsens größtes Werk. Wichtiger als sein eigenes Konzert im Großen Musikvereinssaal sind ihm die geglückten Flüge der Brüder Wright mit motorisierten Maschinen. Er ist mit August Göllerich, dem Biographen Bruckners, zusammen, nach dem Konzert mit Franz Schalk, Hugo Botstiber (dem Sekretär der Gesellschaft der Musikfreunde), Heinrich Schenker und Gottfried Galston. Ein Feuilleton über Gerhart Hauptmann aus dem«Neuen Wiener Taghlatt» schickt er dem Dichter.
Aber insgeheim wuchsen Spannungen zwischen ihm und dem Konservatorium. Busoni hatte einen Vertrag, der ihn nicht auf bestimmte Tage, sondern auf eine Gesamtzahl von 280 Unterrichtsstunden pro Jahr festlegte. Im Februar teilte er Dr.Botstiber durch seine Sekretärin mit, er müsse seinen zweiten Wiener Klavierabend absagen, da er in Paris erkrankt sei. Erst vom 21. April ab könne er bis zum Juli ununterbrochen in Wien unterrichten, zwischendurch aber nur Abstecher dorthin machen. Darauf erfolgte am 14.Februar die Kündigung wegen häufiger Nichteinhaltung der Unterrichtsstunden. Der Fall wurde sofort von der Presse, namentlich in Berlin aufgenommen, wo Busoni im «Börsen-Courier» seinen Standpunkt verteidigte. Aus London machte er am 3. März einen Beschwichtigungsversuch, der aber gegen die Veröffentlichung des «durchaus unreifen Entschlusses» und die Proklamierung eines Nachfolgers protestierte. Die telegraphische Antwort aus Wien war negativ.
In den Briefen an Gerda nimmt der Zwischenfall nur wenig Raum ein. Die Arbeit an der «Brautwahl» beschäftigte ihn mehr: «ich wählte und braute in Tönen: eine glÜckliche Woche! », heißt es am I 5. April. Auch die Liszt-Ausgabe machte ihm zu schaffen. Im Mai arbeitete er so leicht wie noch nie, erwog er doch nacheiner«Rigoletto»-AuffÜhrung die Möglichkeit, selbst eine italienische Oper zu schreiben und dafür andere Pläne nach Stoffen von Gustav Meyrink, Shaw und Gobineau aufzugeben. Sechs anstrengende Stunden widmete er bei einem Leipziger Blitzhesuch den Aufnahmen bei Phonola. Im Juni steckte er wieder tief in der Arbeit zur «Brautwahl» und verglich Mozarts rasches Arbeitstempo mit dem schleppenden Flauberts, dessen «Tentation de Saint-Antoine» er las. Von den Schülern wird wenig gesprochen, von den Schülerinnen überhaupt nicht, obwohl Georgine Nelson in der Meisterklassenaffäre energisch Busonis Interessen vertreten hatte. Zu den Schülern gehörten der Amerikaner L.T.Gruenberg und der Belgier Louis Closson.
Im Herbst gab es neue Konzertreisen, eine nach Verona und Mailand, wo er ironische Studien über italienische Frauen machte, im November eine nach England. Er begegnete in Manchester dem alten Hans Richter und dem Geiger Jan Kubelik, freute sich über einen Gruß Cosima Wagners. Die Erscheinung Leonardo da Vincis beschäftigte ihn als möglicher Opernstoff. Er las die Biographien von Vasari und Mereschkowskij, daneben zur Entspannung Anatole Frances «Insel der Pinguine».
Neben der Opernarbeit wird der Konzertschluß zu Mozarts «Don Giovanni»-Ouvertüre geschrieben. An literarischen Arbeiten entsteht Anfang des Jahres als heiterer Faschingsscherz für die Zeitschrift «Die Musik» eine kleine Szene «Aus der klassischen Walpurgisnacht» unter dem durchsichtigen Pseudonym «Ino-Sub-F.»