Vielleicht hat Busoni das, was er in Wien und Bologna suchte, bei seinen Amerika-Tourneen gefunden: eine Horizonterweiterung, ohne daß der Ort solcher Erfahrungen ihn auf Dauer an sich band. Besonders die zweite Reise, die ihn von Ende Dezember 1909 his Ende April I910 in die Staaten führte, hat in diesem Sinne gewirkt. Der Gegensatz zwischen seiner zutiefst europäischen Erfahrung und dem so anderen Gebaren der Neuen Welt muß ihn fasziniert haben. Auf der Überfahrt nach New York arheitete er noch an dem Editionsprojekt von Bachs «Kunst der Fuge», und einmal eingetaucht in die Probleme des unvollendeten Schlußstücks, begann er selbst zu überlegen, wie die letzte Fuge zu vollenden wäre. Trotz einer anstrengenden Konzerttour ließ ihn das Problem in den USA nicht mehr los, spätestens seit ihn der Komponist und Theoretiker Bernhard Ziehn in Chicago auf eine mögliche Lösung hingewiesen hatte.
Ziehn, 1868 in die USA ausgewandert, bekräftigte mit Nachdruck eine Vermutung, daß die letzte, die abgebrochene Fuge vier Themen habe und daß das zur Quadrupelfuge noch fehlende <Subjekt> nichts anderes sei als das Hauptthema. Eine entsprechende Notenskizze Ziehns nahm Busoni Mitte Januar aus Chicago mit. Daß dieser Lösungsvorschlag keinestalls neu war, sondern schon von dem Brahms-Freund und Musikforscher Karl Gustav Nottebohm (1817-1882) angeregt wurde, sei hier nur am Rande bemerkt. Von Ziehn angespornt, machte sich Busoni an seine eigene «Große Fuge. Kontrapunktische Fantasie über die Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach» (BV 255), wie die Erstfassung der Fantasia Contrappuntistica heißt, die schon im April 19I0 bei Schirmer in New York als Privatdruck von 100 Exemplaren erschien.
Bernhard Ziehn und dem ihm wahlverwandten Wilhelm Middelschulte hat Busoni noch im Januar 19I0 in dem Aufsatz «Die 'Gotiker' von Chicago» ein Denkmal gesetzt, wobei der Terminus Gotik irritiert. Gemeint ist eine bestimmte Ausprägung des linearen Kontrapunkts, wie sie Ziehn über alle harmonischen Bedenken hinweg propagierte. <Gotik> ist aber auch eine Metapher, die sich als Kontrapunkt zum modernen Amerika einstellt und damit über Busonis eigenen Standort eine Aussage macht. Die Impression liest sich stellenweise wie eine musikalische Verlaufsbeschreibung, ihre Intensität wächst im Kontrast zu den atemberaubenden Wolkenkratzer-Landschaften:
«In geheimnisvoller Dunkelheit zeichnen sich Wunder der Ornamentik vor dem tastenden Auge ab. Alles ist sinnreich geordnet und im reichsten Gewirre rein gegliedert. Eines trägt das andere, das Höchste entzweigt sich organisch aus dem Tiefsten; alles Einzelne zum Ganzen notwendig spitzenhaft durchsichtig, unerschatterlich in seinen Gründen, eine Brücke von der Erde zum HimmeL So ist die Gotik, und zwei Männer pflegen diese auserlesenste Blüte menschlichen Geistes im amerikanischen Chicago, indes rings um sie steinerne Würfel von zwanzig und mehreren Stockwerken plump und schmucklos ein neues Jahrhund ert in einer neuen Welt sigualisieren.»
Die Zeit um dieses Amerika-Jahr 1910 herum (im Dezember des gleichen Jahres brach er zu einer weiteren Amerika-Tournee auf) war angefüllt mit Experimenten, nicht nur, weil er sich auf das Abenteuer einer Oper eingelassen hatte. Eine Neubestimmung seiner kompositorischen Arbeit bestimmte Busoni seit drei Jahren; die Zeichen der Zeit standen ohnehin auf Sturm. Die funktionale Harmonik war spätestens mit Wagners «Tristan» in die Krise geraten. Wer als Musiker etwas auf sich hielt, versuchte sich im ständigen Erweitern der einmal ins Fließen geratenen Grenzen der Tonalität, gelegentliche Grenzüberschreitungen nicht ausgeschlossen. Das galt für Richard Strauss genauso wie für Hans Pfitzner, Max Reger oder eben Ferruccio Busoni. Und 1908 - ein Schlüsseljahr der neueren Musikgeschichte - wagte Arnold Schönberg gar die endgültige Überschreitung der harmonischen Grenzen im vierten Satz seines zweiten Streichquartetts. Diesen Schritt in ein atonales (= tonikaloses, also grundtonloses) Komponieren mochten nur die wenigsten unter seinen Zeitgenossen mitvollziehen, auch nicht Busoni, der Schönbergs Entwicklung mit aufmerksamer Skepsis beobachtete.
Aber Busoni war wenigstens bereit, die in dieser Zeit sich auftuenden neuen Möglichkeiten mitzudenken. Der «Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst» wagte noch vor Schönbergs folgenschwerem Schritt einen weiten Blick in die Zukunft. Jedenfalls wurden hier im November 1906 Überlegungen über neue Siebentonskalen jenseits des Dur-MollSystems angestellt, und der schmale Traktat endete gar in einer ernsthaften Erwägung von Dritteltönen, einschließlich des Vorschlags für ein praktikables Notensystem. Diese kleine Schrift hat, über die Kenntnis des musikalischen Werks hinaus, das Bild des Komponisten bis heute geprägt: Busoni, der Seher der Neuen Musik! Doch man muß den Entwurf nicht nur im Zusammenhang mit den darin angesprochenen neuen Ideen sehen, sondern als einen beherzten Beitrag zu Sein oder Nichtsein der Musik. Der folgenschwere Essay ist ein Experiment im Geiste, dem der praktizierende Musiker sich selbst gar nicht anschließen konnte oder wollte. Ja, der Entwurf, der nicht die Musik im Titel führt, sondern das altmodische Wort von der Tonkunst bemüht, ist ein Gedankenblitz der E. T. A. Hoffmannschen Art und deshalb dem Textbuch zur Brautwahl wiederum sehr nahe.
Etwa gleichzeitig mit dem «Entwurf» konstatierte Busoni auch einen kompositorischen Neuanfang: «Mein ganz persönliches Gesicht habe ich aber endlich und erst in den 'Elegien' aufgesetzt» , resümierte er im März 1908, und diese Elegien hat Busoni nicht ohne Hintersinn als Neue Klavierstücke (BV 249) bezeichnet. Zum Zeitpunkt der von Busoni selbst annoncierten Beendigung am 1. Januar 1908 waren es sechs fantasieartige Charakterstücke, die sich auf keinen einheitlichen Nenner bringen lassen. Die Bezeichnung als Elegien belegt den unspektakulären Charakter dieser Versuche und kennzeichnet darüber hinaus ihren durchaus wehmütigen Tonfall. Vielleicht waren diese Elegien für Busoni deshalb so wichtig, weil er in ihnen eine Summe seiner musikalischen Produktion zieht, eingeleitet durch das erste Stück «Nach der Wendung. Recenillement» , das wie die Nummer 3, das Choralvorspiel «Meine Seele bangt und hofft zu Dir» , als programmatisch verstanden werden kann. Die anderen Stücke sind Paraphrasen, also Bearbeitungen bestehender und noch zu schaffender Werke. So reflektiert das zweite, «All'ltalia» , den vierten Satz des Klavierkonzerts, während «Turandots Frauengemach» und «Die Nächtlichen» (Nummer 4 und 5) Studien zur Turandot-Musik sind. Das Notturno «Erscheinung» schließlich enthält bereits ein Stück aus der «Brautwahl» . Im übrigen sollte auch das Choralvorspiel «Meine Seele bangt» später bedeutungsvoll als «Preludio corale» in der «Fantasla Contrappuntistica» auftauchen.