Hans Heinz Stuckenschmidt

DER LEHRER

[Hans Heinz Stuckenschmidt - Ferruccio Busoni - Zeittafel eines Europäers - ATLANTIS VERLAG 6063, ZÜRICH 1967, S.143-145;  
ISBN 3-254-00063-3]

«Daß ich als Mensch und Künstler lieber nach vorwärts als zurück Sehe, damit hängt wohl auch zusammen, daß ich lieber jüngere Menschen um mich habe. Und so möge es bleiben bis ans Ende - denn wenn das aufhört, ist's betrübend...» Die Stelle aus einem Brief Busonis an Gerda von 1904 gibt das Geheminis preis, warum der Mann, der mit seiner Zeit und Arbeitskraft oft geizte, dem das Konzertieren als Energleverlust unerträglich war, sich lehrend verschwendete. Er war kontaktbedürftig, brauchte den geistigen Austausch und empfand den Umgang mitjungen, wißbegierigen Leuten als eine Art von Kraftquelle. Das Obertragen von Wissen, die Vermittlung künstlerischer Einsichten und Erfahrungen war ihm so sehr Bedürfiiis, daß der Begriff des pädagogischen Eros wie auf ihn gemünzt erscheint.
Von 1888 bis 1924 sind Generationen werdender Klavierspieler und Komponisten durch seine Schule gegangen, Menschen vieler Nationalitäten und Geistesarten, Männer und Frauen. Niemand weiß, wie viele Busonischüler es gibt; etwa dreißig sind als Pianisten, etwa zehn als Komponisten bekannt geworden. Doch auch über ihre Personen hinaus ist sein Geist lebendig geblieben; Schüler seiner Schüler tragen die Flamme weiter, die er in ferner Vergangenheit entzündete. So unvleich die Schule Busonis in ihren oft extrem individualistischen Mitgliedern vertreten ist - eines ist ihnen fast allen gemeinsam: Sie sind Musiker höheren geistigen Niveaus, oft selbst schöpferisch hervorgetreten, vielfach Intellektuelle und Schriftsteller, deren Berichte und Erinnerungen literarischen Wert haben.
Die ältesten dieser Erinnerungen der Schüler gehen in die achtziger Jahre zurück und geben uns ein Bild von dem jugendlichen Klavierlehrer Busoni in Helsingfors. Ihr Wortführer ist Adolf Paul, der 25jährig sein Schüler wurde, zwei (sic) Jahre älter [1863-1943, pseudonimo di Georg Wiedersheim, allievo svedese di Busoni. Diventò poi scritttore e fu amico intimo si Strinberg ]als der italienische Professor, mit dem er sich rasch befreundete. Sein Unterricht ruhte auf dem sicheren Grunde einer Autorität, die durch eine verblüffende Literaturkenntnis sofort gefestigt war. Kennzeichnend ist, daß Busoni schon damals mit bildlichen Vorstellungen operierte, um den Schülern den Geist einer Musik zu erklären. Paul berichtet, daß er ihm die kleine c-Moll-Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier von Bach (offenbar aus dem ersten Band) zu üben aufgab. «Das Präludium», so zitiert er Busoni aus dem Gedächtnis, «denke ich mir als einen Gewittersturm, der über die Aue hinwegbraust und sich dann verzieht.» Das ist praktische Hermeneutik, wie sie in der Wagner-Nachfolge für die Bachdeutung üblich war, auch von Albert Schweitzer in seinein Buch angewandt wurde. Weiterhinaber berichtet Paul von der Kommentierung der Fuge: «Dann wagt sich schüchtern eine Elfe hervor mit dem Thema der Fuge und tanzt damit um. Eine zweite folgt dem Gegenmotiv, dann eine dritte mit dem Hauptmotiv, und so tanzen sie, zierlich und leicht, die ganze Fuge ab. Bis plötzlich mit schweren Oktavengängen ein plumper Gnom hereinhüpft und das Hauptthema donnernd den armen Elfen nachschleudert, daß sie entsetzt davonhusehen. Und er bleibt stehen und macht ein dummes Gesicht.»
So poetische Interpretationen aus dem Geist der Gartenlaube liebte das ausgehende 19. Jahrhundert. Sie stammen aus einer Heteronomie-Ästhetik, die Musik nur als Dolmetscherin außermusikalischer Gegenstände begreifen kann. Romantisches Erbe, das uns fremd geworden ist. Auch Gustav Mahler gibt 1896 seiner dritten Symphonie Satz-Überschriften wie «Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen» oder «Was die Engel erzählen». Busoni steht mitten in dieser Bewegung, und nur seine lateinische Ironie stört das Elfenidyll durch den plumpen Gnom und das Donnern des Hauptthemas. Auch wenn Adolf Paul nicht übertrieben und aus eigener Phantasie dazugegeben hat, kann man ihm in großen Zügen bei seiner Darstellung von Busonis Unterricht vertrauen. Doch wird man gut tun, diese pädagogische Methode mit der analytischen zu vergleichen, die in der Bachausgabe nachzulesen ist. Sie stammt von 1894, ist also nur fünf Jahre später entstanden als die Widmung, die Busoni dem schwedischen Schüler 1889 in sein Bach-Exemplar schrieb und die zur Zeit des Unterrichtes entstand: «... damit er recht tüchtig präladiert und seine Finger fügsam werden». In der Bachausgabe steht über das Präludium (neben rein technischen Bemerkungen) nur, es sei «einem rastlosen, die Flammen einer Feuersbrunst widerscheinenden Strome vergleichbar», sein Kadenzteil «aus allen Dämmen hervorbrechend». Die Fuge erklärt Busoni so: «Gefälliger, beinahe tanzartiger Rhythmus, ein in den einfachsten Intervallen-Sprüngen sich bewegendes, deshalb leicht faßbares Motiv, große Sparsamkeit in den contrapunktischen Künsten». Die Durchführung will er als ein einziges, großes Zwischenspiel angesehen wissen. Von der Czernyschen Oktavenverdopplung der Bässe distanziert er sich, läßt sie aber gegen Schluß bei Eintritt des Themas gelten.
Man muß also unterscheiden zwischen Busonis praktischem Unterricht, der die Phantasie der Schüler stimulieren will, und seiner Tätigkeit als Herausgeber, die ja auf höherer Ebene gleichfalls eine pädagogische einschließt. Es scheint, als habe sich seine Lehrpraxis in den goerjahren, die eine so starke Wandlung seiner künstlerischen Anschauungen brachten, kaum verändert.Aus all den frühenjahren von Busonis Lehrtätigkeit in Helsingfors, Moskau und Boston ist uns kaum Nachricht überliefert. Gerda, seine schwedische Braut und spätere Frau, war niemals seine Schülerin, da sie nicht am Helsingforser Konservatorium studierte. Gerade an ihr hat sein pädagogischer Takt in der merkwürdigsten Weise versagt. In ihren Erinnerungen schildert sie, wie er sie bedrängte, ihm alsjunges Mädchen vorzuspielen. Sie war dazu nicht zu bewegen, wurde aber einmal von ihm belauscht, als sie Bach spielte und er unbemerkt das Zimmer betrat. Nach einer langen Weile räusperte er sich, sie sprang auf, er nahm ihren Platz am Klavier und imitierte sie «aufs grausamste». Gerda schrieb darüber: «Ich war außer mir und zertrümmerte mit beiden Fäusten die Glastür zum Nebenzimmer; Ferruccio lachte schallend. Seitdem habe ich keine Taste mehr angerührt. » Man mag an dieser Episode ermessen, wie teuer das Glück erkauft war, ein Leben an der Seite Busonis zu verbringen.