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Dieter
David Scholz
Rezension
Giuseppe
Sinopoli: Parsifal in Venedig. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Mit einem Vorwort von Hermann
Schreiber. Claassen Verlag 2001. 158 S., EUR
18,00
Musik im Labyrinth der Mythen und
Kanäle
Giuseppe
Sinopolis postum erschienener mythologischer Weltabschiedsroman.
Giuseppe
Sinopoli, der Pult-Star und promovierte Arzt, der kosmopolitische
Psychologe,
der Nietzscheverehrer und Komponist, er war der erstaunlich belesene,
tiefschürfende Philosoph unter den Dirigenten (mit einer bemerkenswerten
privaten ethnologischen Masken-Sammlung in seinem Heim auf den äolischen
Inseln). Der grabungsfreudige Kenner der Antike, der kurz vor seinem
Promotionsabschluß in Archä-ologie stand, war ganz gewiß eine der
frappierendsten Aus-nahmeerscheinungen seines Berufsstandes. Daß er am
20. April im Alter von nur 54 Jahren, ausgerechnet in der als Versöhnung
und Rückkehr deklarierten Vorstellung in der Stadt des Ausgangspunktes
seiner fulminanten Karriere - während einer Aida-Vorstellung an der
Deutschen Oper Berlin (der er nach dem Zerwürfnis mit Götz Friedrich
zehn Jahren den Rücken kehrte) plötzlich und unerwartet verstarb, war
der tragische Schlußpunkt seiner Karriere. Es grenzt an Ironie des
Schicksals, man mag es Vorahnung nennen, daß Sinopoli, der der mit dieser
"Aida" ein sichtbares Zeichen neuer Verbundenheit mit dem
Intendanten Götz Friedrich (der nur wenige Monate zuvor ebenfalls plötzlich
verstarb), im Programmheft der Vorstellung die Worte des Ödipus von
Sophokles zitierte "Du und diese Stadt..., das Schicksal sei Euch gnädig,
und im Wohlergehen erinnert Euch immer mit Freude an mich, wenn ich tot
sein werde".
Indes
gehörte es zu Sinopoli, daß
seine Gedanken stets um Tod und antiken Mythos, um Ar-chaisches und
Utopisches, gefiltert durch Nietzsche, bereichert durch freudianische
Psy-chologie
und deutsche Literatur, kreisten. Daß nicht nur seine Weltsicht und sein
Lebens-gefühl, sondern auch seine dirigentische Haltung davon ganz
entscheidend geprägt waren, be-zeugt sein für einen kleinen Kreis 1993
auf italienisch publizierter Roman,
der jetzt, wenige Wochen nach seinem Tod, erstmals auch auf deutsch
erschien. Das Buch ist der Ver-wandtschafts-Nachweis von Geistesgeschichte
und Musik in der Selbstreflexion eines Dirigenten. Er dirigiert am
inzwischen abgebrannten Teatro La Fenice in Venedig "Parsifal".
Eines Abends, nach einer Probe, verirrt er sich auf dem Heimweg im Gewirr
der Gassen Sackgassen, Brücken und Calle Venedigs. Wie Parsifal auf dem
Weg zum Gral durchwandert dieser Dirigent Giuseppe Sinopoli Irr- und
Erkenntniswege. Konkret sind das die nächtlich unwirklich scheinenden
Wege der einzigartigen Stadt der Vermählung von Wasser und Land. Die
Lagunenstadt wird ihm dabei zur "Stadt der Wiedergeburt". Schon
La Fenice, der Phönix aus der Asche, ist Symbol solcher Vorstellung. Zwar
hat sich Sinopoli, der in Venedig geboren wurde, nie als Venezianer gefühlt.
"Meine Seele stammt von einem Sizilianer, der vor 3000 Jahren geboren
ist". Sein intimstes Domizil errichtete er schließlich auf der Insel
Lipari, zwischen Vulkanen und tyrrhenischem Meer, nördlich von Sizilien.
Doch Venedig erschien ihm als einzigartiges heutiges Labyrinth, als
bestgeeigneter "psychologischer Raum", um das "Problem der
Erlösung" nicht nur Parsifals, sondern auch des Parsifal-Dirigenten,
zu erörtern. "Es gibt keine Stadt, in der Land und Wasser - erstes
ist des zweiten Tod, im heraklitischen Sinn - sich so durchdringen, sich
einander verweigern und in einer mysteriengleichen Symbiose
verschmelzen, die an den Begriff von Leben und Tod gemahnt". Und doch
ist seine Hinwendung zu Venedig mehr als nur Hommage an seine Geburtstadt.
Venedig ist für Sinopoli, wie die mythische Insel Ogygia, "Symbol
des Übergangs vom Leben zum Tod", aber auch Symbol der "Terra
Mater. In den Höhlenlabyrinthen werden nicht nur Initiationsriten und
Bestattungsriten zelebriert,
sondern es finden auch 'Hierogamien' oder heilige Hochzeiten wie die von
Dido und Aeneas, Thetis und Peleus, Medea und Jason statt". Sinoppoli
imaginiert schließlich das labyrinthische Venezia als "mystische Rückkehr
zur Großen Mutter". Er zitiert griechischen Mythos, zieht Parallelen
zum Begräbniskult der Ägypter, streut Kenntnisse der Osiris-Myterien
ein, aber auch intime Vertrautheiten kabbalistischer Weisheiten,
mittelalterliche Mystik und allerhand sagengeschichtliche Assoziationen um
Utopia. Sinopoli schreitet den ganzen Raum seiner immensen Belesenheit in
griechischer, römischer und deutscher Literatur aus und knüpft ein
hochintellektuelles Netzwerk feinster mythen-geschichtlicher,
philosophischer Fäden, das seinen künstlerischen Denkraum anschaulich
Weise absteckt. Dabei ist er sich des spekulativen Charakters dieser
geheimnisvollen, my-thisch kreisförmigen Reise durch die labyrinthische
Lagunenstadt bewußt: "Die Rationalität ist eine Mauer, die schützt".
In diesem Roman gestatte er dem Leser einen Blick hinter die Mauern der
Rationalität und seinem erzählenden Ich eine fiktive, komprimierte Reise
durch die Mythenwelt Venedigs wie des Parsifal-Musikdramas, nach
Montsalvat also wie nach Delphi, Jerusalem und Rom, Kreta, die Insel der
vier Herrscher, nach Irland und Thule. Die klassische Bildungstour de
force liest sich als philosophisch-poetischer Streifzug spannend. Es ist
ein gelehrtes wie intimes Buch, in dem der Leser jenseits des Informativen
sich selbst erkennen mag und seine Grenzen, seine Sehnsucht nach dem Einst
und Dereinst, denn das Buch ist - ausgelöst im Hier und Jetzt des
heutigen Venedig - so etwas wie eine "Suche nach dem ursprünglichen
Zentrum", auf den Spuren Parsifals und doch in antikischem Geist.
Dabei steht Sinopoli Wagner gedanklich erstaunlich nahe, denn auch Wagner
meinte ja mit Blick auf germanischen wie antiken Mythos: "Die Zukunft
... suchen wir aus den Bildern der Vergangenheit zu sinnlicher
Erkennbarkeit zu gestalten!" Kein Zufall, das Richard Wagner in
Venedig die Stadt seiner Träume fand und den Tod. Sinopoli war das nicht
vergönnt.
Sein
viel zu frühes Ende kam in der Stadt Berlin, in der er 1980 über Nacht
zum Pultstar auf-gestiegen war. In seinem Venedig-Roman, der mit Fug und
Recht als sein gedankliches Ver-mächtnis aufgefaßt werden darf,
vergleicht er die Doppelspirale des Canale Grande mit dem ägyptischen
Ideogramm des geheimnisvollen Fisches, der "Einweihung in ein
Mysterium" meint, oder auch "die ferne Bezeichnung einer
Utopie". Er war ein kluger, allzu kluger Utopist, dieser Giuseppe
Sinopoli. Das haben wir an ihm ja so bewundert und geliebt. Sein oft
non-konformes, verstörendes, tiefgründelndes Dirigieren
macht es hörbar noch in den Ton-konserven seiner Dirigate. Wer nachlesen
und gedanklich nachvollziehen will, was sich in den weitgespannten
Denklabyrinthen des hochgebildeten Maestro vollzog, dem sei sein kleines
Buch mit Nachdruck empfohlen.
Dieter
David Scholz
(Abgedruckt in:
„Opernwelt“, August 2001, S. 68-69)
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