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9. Mai 2005, Neue Zürcher Zeitung

Künstlers Wille und Wahn

«Doktor Faust» von Ferruccio Busoni in Stuttgart

Er war ihm ein besonderes Herzensanliegen - gerade deshalb vielleicht hat Ferruccio Busoni den «Doktor Faust», sein musiktheatralisches Vermächtnis, an dem er von 1916 an die letzten acht Jahre seines Lebens arbeitete, nicht fertigstellen können. Goethe hat ihn geblendet, das mag das eine sein; er rettete sich davor, indem er für die Erstellung des Librettos aufs Puppenspiel zurückgriff. Das andere ist im Text selbst thematisiert. Es ist das Streben nach dem Vollkommenen, das den Künstler umtreibt: ihn bewegt, aber auch lähmen kann.

Für ihre neue Produktion von Busonis «Doktor Faust», die sie in San Francisco erarbeitet und jetzt nach Stuttgart in die Staatsoper gebracht haben, setzten der Regisseur Jossi Wieler und sein begleitender Dramaturg Sergio Morabito ganz auf diese Karte. So zeigen sie das Stück denn auch in der fragmentarischen Form, in der es Busoni hinterlassen hat - also weder mit den Ergänzungen, die sein Schüler Philipp Jarnach unmittelbar nach dem Tod des Komponisten beigefügt hat und die dann sechzig Jahre gültig blieben, noch mit den Alternativen, die der Busoni- Spezialist Antony Beaumont 1985 vorgestellt hat. Die dadurch entstehende Lücke im Helena-Bild ist kaum spürbar, das Ende aber führt ins gesprochene Wort und lässt zusammen mit einem harten Blackout das Scheitern offenkundig werden.

Der hier scheitert, ist ein Künstler, ein Maler aus der Action-Szene. Die Bühne, von der Ausstatterin Anna Viebrock mit unverkennbarer Handschrift gestaltet, lässt ein geräumiges Atelier sehen, das nicht nur an allen Ecken und Enden bröckelt, das vielmehr auch von der manischen Veranlagung seines Bewohners spricht. Für Faust ist es Arbeits- und Lebensraum in einem, es wird aber auch zum Imaginationsraum des ganzen Abends. Hier ruft sein Gehilfe Wagner (Attila Jun) die drei Studenten aus Krakau per Handy herbei. Hier findet - Mephistopheles betätigt sich dabei kundig an der in einem Wandschrank verborgenen Orgel - die Kirchenszene mit dem Geharnischten (Johannes Martin Kränzle) statt. Und hier verliert der stämmige Herzog (Nils Olsson) seine ihm eben angetraute Herzogin (Eva-Maria Westbroek) an Faust, der sie mit «Wohlgestalt und Geist und Mannheit» verhext hat. In diesem Einheitsraum erhält das Geschehen einen unglaublichen Zug, knisternde Spannung baut sich auf. Nicht zuletzt trägt dazu der witzig pointierte Text Busonis bei, der aufs Bühnenportal projiziert wird, so dass man stets auf der Höhe des Verständnisses bleiben kann. Und die nicht nur eingängige Partitur kommt im so flüssigen wie nuancierten, die sinfonische Geste betonenden Spiel des Staatsorchesters Stuttgart unter der Leitung von Lothar Zagrosek zu blendender Wirkung.

Vor allem aber: die Bühne. Da wird mit einer Phantasie und einer Genauigkeit, zugleich mit einer Unaufgeregtheit und auch mit einer Prise leichtfüssigen Humors gearbeitet, dass sich eine Wahrnehmung von ganz eigener Intensität einstellt. Mit seinen dicken Tränensäcken und seinem wirren Haar ist Faust bei Jossi Wieler und Sergio Morabito ein rabiat um sich schlagender Egomane, angespannt bis aufs Letzte in seinem Suchen, gnadenlos mit sich selbst in seinem Schaffens- und Alkoholexzess, scharf provokativ gegenüber der ihn umgebenden Gesellschaft - Gerd Grochowski, mit einem kernigen, voluminösen Bariton ausgestattet, zeigt das als ein echter Sängerdarsteller, in totaler Verausgabung und mit packender Ausstrahlung. Jürgen Müller, der die anspruchsvolle, extrem hoch gelegene Partie des Mephistopheles hinreissend meistert, steht ihm in nichts nach. Kein schwarzer Magier erscheint da, auf dessen Fingerschnalzen hin Flammen aus dem Boden schiessen, sondern ein schussliger Hauswart mit abgewetztem Arbeitskittel und dicken Brillengläsern, der nicht weiss, wo er sich verkrümeln soll. Die lädierte Plastictasche, die er jederzeit mit sich führt, hat es allerdings in sich, sie kann auch gehörig Dampf machen. Eine Helena kommt freilich nicht zum Vorschein, das muss sich Faust, der dafür kräftig Hand an sich anlegt, schon selber vorstellen.

Da wird nach Kräften szenisch interpretiert - und zugleich in einer sehr poetischen Weise Theater gespielt. Tatsächlich, dass Oper mehr ist als eine Versammlung prominenter Stimmkünstler in spektakulärer Dekoration, dass sie vielmehr zum musikalischen Theater werden kann, das den Zuschauer mit all seinen Sinnen und seinem ganzen Geist fordert - das ist in Produktionen wie dieser und an Häusern wie jenem in Stuttgart zu erleben.

Peter Hagmann

 
 
 

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