DIE BIOGRAPHIE
VON ALEXANDRA CAROLA GRISSON


ERMANNO WOLF-FERRARI WEBSITE


II. Kapitel

Aus dem Ursprung. Wachsein der Seele im Kinde.
Früheschöpferische Begabung im Zeichnen.
Bedeutsame Eindrücke.

Ermanno Wolf-Ferrari wurde am 12. Januar 1876 zu Venedig geboren. Er selbst bezeichnet seine Kindheit und erste Jugend «als wichtigste und eindrucksvollste Epoche meines Lebens. Was später kommt, reicht an die Zeit bis zum 20. Lebensjahr nicht mehr heran.»
Das geistige Erwachen geschieht ihm sehr früh. Er ist sozusagen gleich da. Mit wachen Sinnen umspannt er die Welt, in die er hineingestellt ist. Und nicht nur dies. Bewußtes Fühlen und Denken erchließen ihm in weitgespanntein Bogen Ahnungen der großen kosmischen Zusammenhänge.
So zeichnet er bereits als zehnjähriger Knabe folgendes Bild (siehe Abbildungen): Ein Kind, das soeben gestorben ist, langt im Himmel an. Mit Schrecken erkennt es, was es noch alles lernen muß, um ein Engel zu werden. Einer der Himmelsengel schleppt, fast erdrückt von der Last, ein großes, schweres Buch herbei («liber scriptus in quo totum continetur») und hält es dem Kinde vor das Angesicht. Aus lichten Sphären des Himmels - die dort oben ruhende Stille und Sicherheit deutet Ermanno durch horizontale Striche an - erhebt sich Gott Vater, mit dem Finger auf die eben aufgeschlagene Seite des Buches weisend. Sinnerfüllt zeichnet Ermanno unterhalb der Wolken strahlenförmige Linien. Mit ihnen verbindet und trennt er zugleich den Himmel von der Erde. Unten ist Bewegung, im Gegensatz zu oben.
Diese Zeichnung stellt nicht etwa eine Illustration dar zu dem, was er gehört hat, sondern sie ist ein Spiegelbild der eigenen inneren Vorgänge, erfunden während des Zeichnens. Erhellt von bewußter Gottverbundenheit scheint es, als ob der Knabe Ermanno die menschliche Unzulänglichkeit ahnt. Zeit seines Lebens durchseelte ihn die Sehnsucht nach Vollkommenheit und paradiesischer Harmonie.
Als reifer Mann sprach er einmal aus: «Ich habe noch immer das Gefühl, als ob das Paradies zu jeder Stunde möglich wäre, wenn die Menschen sich nur nicht so viel darauf einbilden würden, Erwachsene zu sein, und in der Vorstellung lebten, das Kind sei tot in ihnen. 'So ihr nicht werdet wie die Kindlein' - dieser Entschluß aber ist möglich! Das mindeste, was uns die Glaubensfähigkeit geben kann! Aber die Menschen scheinen es viel schöner zu finden, sich gegenseitig zu quälen. Warum? Weil sie sich nicht befleißigen, das Paradies, 'das Reich Gottes', in sich selber zu pflegen. Trüge nur jeder seinen Garten Eden in sich, so müßte auch nach außen etwas davon zu spüren sein!»
Die Zeichnung des Zehnjährigen von dem Kinde, das in den Himmel gelangt, ist wichtig und aufschlußreich, nicht nur als Beweis für das Vorhandensein der Urerfahrung, die sich zuweilen am deutlichsten in der frühen Kindheit des Genies offenbart, sondern auch als Quelle des ganzen menschlichen und künstlerischen Seins Errnanno Wolf-Ferraris.
Verfolgen wir die Entwicklung des Meisters zurück, so finden wir das Grundmotiv seines Schaffens in dem unsterblichen Funken seiner Seele, der ihn das Licht über die Finsternis erheben läßt. Seine sämtlichen Werke sind davon angerührt. Und weil er diesem Gesetz verfallen ist, gehorchen ihm die Mittel, es auszudrücken - mühelos.
Die Engel spielen in seiner frühesten Kindheit eine große Rolle. Immer wieder zeichnet er Engel, schon vom fünften Jahre an. Auf der Abbildung mit der Bezeichnung «Venezia, November 1886», sehen wir Ermannos jüngsten Bruder Cesare, der über seinen Bausteinen eingeschlafen ist. Ein Engel schwebt zu ihm nieder und küßt den Kleinen auf die Wange.
Nicht nur die Technik Ermannos mit einer richtigen Verteilung von Licht und Schatten, auch seinen zielbewußten Gestaltungswillen zur künstlerischen Komposition müssen wir bewundern. Der kleine Cesare schläft nicht allein mit den Augen. Wie wir sehen, hat ihn der Schlummer restlos übermannt. Schwer ruht das kleine Haupt auf dem rechten Arm; der linke ist ausgestreckt. Noch im Schlaf will die Hand nach dem Spielzeug fassen. Innigste Zärtlichkeit des Engels drückt Ermanno in der Diagonalbewegung von Armen und Flügeln aus, die sich im Duo der Haltung des schlafenden Kindes anschmiegen.
Mit welcher Spannweite des Gefühls Ermanno seinen kleinen Bruder Cesare erlebt, beweist eine weitere Skizze aus der gleichen Zeit. (Abbildung).
Auf diesem Bild hält der Zehnjährige den Augenblick fest, da sein Brüderchen zeichnet. Angerührt von der heiligen Konzentration des Kindes, gibt er ihm Flügel. Es kann nicht anders sein. Schon dem jungen Maler Ermanno war es nie allein um die Sensualität der schönen Linie zu tun. Ihn fesselt der Ausdruck. Die Form dient ihm nur, den Inhalt aufzutun. Er kennt weder beim Zeichnen noch später beim Komponieren ein Tasten und Versuchen. Sicher und klar im Strich, gestaltet er, was er im Inneren gesehen oder gehört hat.
Wo aber wäre eine Vollnatur ohne überschäumende Heiterkeit? Der Zehnjährige legt auch davon Zeugnis ab. Auf [einer] Abbildung erblicken wir eine Art dionysische Phantasie. Ein wohlbeleibter Bacchus wandert mit seinem Gefährten durch die blühende Landschaft. Schön ist der starke Rhythmus im Gleichtakt des Dahinschreitens. Die Natur hat die kräftestrotzenden Bacchusse mit einbezogen. Verschwendung, wohin das Auge fällt. Aus Blumen und Gräsern reckt sich neugierig ein Frosch empor. Eines Vogels Lied begleitet, dem Ather nahe, das selige Dahinschweben eines Seraphs.
Auf diese Weise lebt das Kind Ermanno seiner Eigengesetzlichkeit im Kreise der Eltern und Geschwister. Sie schenken dieser möglichst viel Raum - ein großes Glück für Ermannos Entwicklung.
Betrachten wir einmal das Bildnis des Sechsjährigen. (Abbildung). Die Züge sind weich und noch voller Anmut. Auffallend wirken die großen Augen. Sie lauschen, empfangen und forschen. Ihr Ausdruck verrät eine unglaubliche Intensität des Gefühls, eben jenes Urwissen um die Dinge, das den Geheimnissen in angebotener Ehrfurcht Zeit läßt, sich zu enthüllen, und gleichzeitig in wachsamer Bereitschaft auf jenen schöpferischen Augenblick vorbereitet ist.
Nimmt es wunder, daß der also Empfängliche mit kaum sechs Jahren, bei einem Besuch in Florenz, von einer leidenschaftlichen Liebe zu einem fünfjährigen Mädchen ergriffen wird? Ermannos Vater malte in dieser Stadt an einem Auftrag für den Grafen Schack. Tagsüber ließ er den Knaben bei einer befreundeten Dame, die eine kleine Tochter - Lizzie Deisenseer - hatte. Ermannos Gefühl wird mit Hingebung erwidert. Das entzückende Geschöpfchen mit einem Engelsgesicht, eingerahmt von seidigen, blonden Locken, ist dem Knaben in heißer Bewunderung ergeben. Das lockt seine Männlichkeit und frühe Überlegenheit hervor. Die Kleine hängt an seinem Munde, wenn er ihr etwas erzählt oder verständlich macht. Zusammen sehen sie mit Lizzies Mutter Märdhenbücher an, oder die kleine Freundin schaut zu, wenn Ermanno Aquarelle malt.
Unzertrennlich verbunden sind die zwei Kinder, tausehen Seligkeiten ihrer phantasievollen Spiele und erleben eine Steigerung ihrer Gefühle zueinander in der gemeinsamen Liebe zu einem Pferde.
Es war der Apfelschimmel einer Trambahn, die vor dem Hause vorbeifuhr. Wie auf eine Geliebte warteten sie, am Fenster stehend, voll Ungeduld und Sehnsucht, bis er endlich vorbeizog. Dies alles geschah wie im Traum. Immer zu kurz. Nie kamen sie dem Gegenstand ihrer Liebe nahe, erlebten ihn immer nur vom Fenster aus. Und immer nur für einen Augenblick.
Wenn sich die Kleine von Ermanno trennt, bricht sie in Tränen aus. Das kann er anfangs nicht fassen. Aber ahnungsvolles Begreifen überkommt ihn, erregt sein Gemüt. Es ist die keusche Scham vor dem «Anderssein». Das Auftun plötzlicher Ferne vor der Nähe.
Die erste Liebe des Knaben ist vielleicht seine inbrünstigste. Sie symbolisiert den Zustand des ersten Menschen im Paradiese. Sie erzeugt in dem jungen Ermanno die Grundliebe zur Liebe, erweckt in ihm eine unbezwingliche Sehnsucht, immer wieder zu jenem elementaren Anfangsund Ausgangserlebnis zurückzukehren.
Das strömt später in seine Musik über und erschließt uns den kristallklaren Ather paradiesischer Atmosphären, in denen sein Geist und seine Seele sich beheimatet fühlen.
An das Haus, in dem er als Kind wohnte, es lag hinter dem Kanal, trat manchmal ein Lumpensammler. Schmutzige Fetzen hingen um seinen Leib. Dies erschreckende Aussehen machte sich Ermannos Mutter als Erziehungsmittel zunutze. «Er holt dich, wenn du nicht brav bist», konnte man sie sagen hören. Dieser Einschüchterungsversuch aber gleitet an dem selbständigen Urteil des Knaben Ermanno vorbei. Still lächelt er in sich hinein. Er hegt eine verborgene Liebe zu dem 'Sior Leopoldo', aus dessen äußerlicher Verkommenheit ihm ein Haupt wächst, ein Antlitz von so edlen Formen und überirdischer Schönheit der Augen, daß Ermanno einen Apostel zu schauen glaubt.
Sior Leopoldo wird später zum göttlichen Bettler im «Himmelskleid», einer der schönsten und tiefsten Opern unseres Meisters.
Erstaunlich war die Erinnerungsfähigkeit Wolf-Ferraris. Sie geht bis auf sein drittes Lebensjahr zurück. Im 65. Lebensjahre erinnerte er sich noch genau der Empfindungen, die ihn bewegten, als man ihm ein eben geborenes Brüderchen zeigt, den 21 1/2 Jahre jüngeren Theodoro.
Seltsam berührt uns der Flügel der Zeit, wenn wir von einer Begegnung hören, die Ermanno in früher Kindheit mit der alten 'Nonna Santina' hatte, dem Großmütterchen Santina', wie sie allgemein genannt wurde. Sie lebte von 1790 bis 1880, reichte also noch bis in Mozarts und Beethovens Tage zurück. Wolf-Ferrari sah sie deutlich vor sich, erinnerte sich an jede Einzelheit ihres Zimmers - an die Möbel, die Bilder an den Wänden -, vor allem an ein Kind, das vor einem großen runden Goldfischglas auf dem Boden kniete. Die schimmernden roten Leiber der Goldfische ruhten tief auf dem Grund. Ein wenig unter dem Wasserspiegel ließ das Kind eine blinkende Taschenuhr hin- und herpendeln. Fasziniert vor Staunen sah er damals diesem eigenartigen Spiele zu - und empfand dies in der Rückerinnerung wie eine magische Melodie aus der Kinderzeit.
Er war vier Jahre alt, als Mütterchen Santinas ärmlicher Leichenzug an seinem Fenster vorbeiging und er ausrief: «Ich will nicht, daß man sie wegtrage!»
Es war seine erste Berührung mit dem Tode.