MATHILDE SCHWARZENBACH

[DAL CARTEGGIO BUSONI - ANDREAE
CURATO DA JOSEPH WILLIMANN]



FERRUCCIO BUSONI aus London (4.7.1920)

London 4 Juli 1920

L[ieber] D[okto]r V[olkmar] A[ndreae]

mit tiefer Theilnahme erfüllt mich die Nachricht von Fräulein Mathilde Schwarzenbach's Tod. Auch ich verdanke, unter vielen, viel Angenehmes u. Sympathisches der lieben Dame, die ich nicht wiedersehen werde. - Leider fühle ich mich hilflos in dem Sinne, daß ich Niemanden weiß, an den ich eben diese Empfindungen der Theilnahme und des Dankes richten könnte.
* Ich erlaube mir daher diese wenigen Worte an Sie zu adreßieren, damit sie überhaupt niedergelegt werden. Vielleicht finden Sie Gelegenheit, dieselben an paßender Stelle weiterzugeben. Ich grüße Sie herzlichst u. achtungsvoll

als Ihr ergebener
F. Busoni
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In der Todesanzeige (NZZ vom 22.6.1920, 1. Morgenblatt, Nr. 1036) heisst es: «Zürich, den 21. Juni 1920. Heute nacht entschlief sanft nach längerem, schwerem Leiden unsere liebe Schwester, Schwägerin, Tante und Grosstante Frl. Mathilde Schwarzenbach.» Mathilde Schwarzenbach war eine Mäzenin und Freundin vieler Künstler in Zürich. Eugen d'Albert fand am 3.8.1914 bei ihr Unterschlupf, «einer Freundin Eugens aus alten Tagen» (Pangels 1981, S. 297). Noch einmal wohnte er 1915 bei ihr, bis er im Herbst seine eigene Zürcher Wohnung gefunden hatte (ebd. S. 302). Frl. Anna Mathilde Schwarzenbach (die nicht mit der in die Familie Schwarzenbach eingeheirateten Generalstochter Renée Schwarzenbach-Wille zu verwechseln ist) wohnte im Haus «Ulmberg» am Parkring 61 (Adressbuch der Stadt Zürich 1920, S. 536, 2. Sp.). Dort traf man sich auch nach Konzerten: «Für Dezember [1915] setzte Eugen [d'Albert] ein Konzert in Zürich fest. In Gegenwart seines Kollegen Ferruccio Busoni und der Pianistin und vormaligen Liszt-Schülerin Johanna Klinkerfuß errang Eugen einmal wieder einen seiner rauschenden Erfolge, so stark, wie er es bei schweizerischem Publikum nicht für möglich gehalten hätte. Man fand sich nach dem Konzert bei d'Alberts Gönnerin Mathilde Schwarzenbach zusammen; der Dichter Ernst Zahn, der Komponist Othmar Schoeck und der Leiter des Züricher Stadttheaters Dr. Reucker nahmen ebenso wie [d'Alberts] Frau Fritzi an diesem fröhlichen Beisammensein teil.» (ebd. S. 303 f.; das Konzert fand am 13./14.12.1915 statt; vgl. Anm. 8/3). Über Mathilde Schwarzenbach öffneten sich Beziehungen zur besten Zürcher Gesellschaft: zum Grossunternehmer Hermann Reiff und dessen Frau, der Komponistin Lily Reiff-Sertorius, zur Familie des Grossunternehmers Hirsch-Faber (nach Wilhelm Raupp, ebd. S. 312). Auch der italienische Komponist Wolf-Ferrari zählte sich zum Freundeskreis. An d'Albert schrieb er: «Bitte, falls Sie wieder in Zürich sein werden, von mir unsere gemeinsame Freundin Mathilde Schwarzenbach herzlichst zu grüßen.» (zit. nach Pangels 1981, S. 316). Und auch der für d'Albert zum verständnisvollen Freund gewordene Hermann Hesse gehörte zum Kreis um Mathilde Schwarzenbach. D'Albert nennt ihn: «mein lieber Freund aus dem Hause von Fräulein Mathilde Schwarzenbach» (ebd. S. 377). Im Frühling 1920 war M. Schwarzenbach schon ernsthaft krank. Am 27.5.1920 schreibt d'Albert aus Lugano an seine Frau: «Ich war heute in Zürich - sehr heiß - Frl. Schwarzenbach ist sehr krank - man sagt, sie hätte nur kurze Zeit zu leben. Sie war mir so dankbar, daß ich sie besuchte - ich war aber erschrocken, sie sieht entsetzlich aus. Abgemagert, elend, schrecklich!» (zit. nach Pangels 1981, S. 342).
* Der Kreis um Mathilde Schwarzenbach mit d'Albert stand Busoni kaum sehr nahe. Den Komponisten d'Albert pflegte er mit dem Übernamen «d'Alberich» zu bezeichnen (Beaumont 1987, S. 233). Ebenso war d'Albert kein Freund Busonis. Busoni schreibt am 16.7.1917 an Jarnach (nach der Uraufführung der zwei Kurzopern Turandot und Arlecchino in Zürich): «Nikisch and d'Albert have now also raised their low - and high-pitched voices against me.» (orig. dt., engl. bei Beaumont 1987, S. 264). Es trifft auch nicht zu, dass d'Albert und Busoni im Frühjahr 1916 in Zürich gemeinsam auf dem Podium gestanden sind (wie Pangels irrtümlich angibt, 1981, S. 310). In den von Busoni dirigierten Konzerten waren die Klavier-Solisten: Egon Petri (21./22.2.1916) und Paul Otto Moeckel (27./28.3.1916) (vgl. Anm. 95/9). Geradezu als Antipoden in pianistischer Hinsicht erscheinen die zwei in Edwin Fischers Erinnerung: «Aber auch in späteren Jahren, als die jungen Musiker durch die geistige Kraft seines Antipoden Busoni hellhörig geworden waren und das Urteil geschärft war, wurde man immer wieder von d'Alberts Persönlichkeit, dem ihm innewohnenden Genie überrascht,» (zit. nach Pangels 1981, S. 195).