Die zaghafte Moderne.
Trümmerliteratur in Bayern 1945 bis 1950

(Vortrag, gehalten im Rahmen der Bavaristischen Ringvorlesung am 1. Juli 1998 im Auditorium Maximum der Ludwig-Maximilians-Universität München)

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Herbert Rosendorfer

Bayem hatte -- wieder einmal -- das Große Los gezogen: Es kamen weder die selber halbverhungerten Engländer, noch die mühsam siegenden Franzosen, noch die beutegierigen Russen; es kamen die mildesten Sieger: die Amerikaner. Über München, obzwar zum größten Teil zerstört, ging die Kaugummi-Sonne auf, der Schwarzmarkt blühte, die Militärregierung hatte keine Ahnung, wo die Nazis waren, nein: die hatten nicht einmal eine Ahnung, wer wirklich ein Nazi war, der freundliche GI im Jeep verteilte an die Fräuleins Nes-Kaffee, und daß man vor kurzem noch in der »Hauptstadt der Bewegung« gelebt hatte, war vollkommen vergessen. Und es waren ja alle dagegen gewesen, heimlich, versteht sich, und von den Greueln der Nazis, von Konzentrationslagern, Judenvergasung und Endlösung, hatte keiner die leiseste Ahnung.

Im KZ Dachau, das immerhin nur wenige Kilometer von München entfernt lag, waren schätzungsweise 500 bis 1.000 Mann Wacht- und anderes Personal beschäftigt gewesen; wenn man davon ausgeht, daß das Personal im Lauf des Krieges nur dreimal wechselte, gibt das 1.500 bis 3.000 Leute -- und Ehegatten ist gleich 3.000 bis 5.000, mal gute Freunde und vertrauliche Bekannte 10.000, auf je 200 eine Milchfrau, gibt 500 Milchfrauen (eine freilich heute ausgestorbene Meinungsvervielfältigungseinrichtung), und wenn 500 Milchfrauen es wissen, weiß es die ganze Stadt. Die ganze Stadt hat es gewußt. Bis zum 8. Mai 1945, von da ab hatte keiner eine Ahnung, und wenn sie nicht gestorben sind, haben sie auch heute noch keine Ahnung. Was soll schon ein kleiner »Ortsgruppenleiter« gewußt haben, der »Kreisleiter«, ein »Gauleiter«, es ging ja alles ganz geheim, wahrscheinlich hat nicht einmal Hitler von den Greueln gewußt -- wie Hitler bekanntermaßen immer so gut wie nichts gewußt hat. »Wenn das der Führer wüßte . . . «, hieß es ja bei jedem Mißstand.

Aber am 8. Mai 1945 wurde alles anders. Im Glanz der Kaugummi-Sonne der so ahnungs- wie im Grunde arglosen, eher kindlichen amerikanischen Besatzungssoldaten war das Vergessen noch leichter als anderswo. Als -- viel später -- der NS-Reichstagsvizepräsident, Chef der Staatskanzlei und Ober-Nazi-Mafioso Hermann Esser (ein Intimus Hitlers) starb, konnte der bayerische Ministerpräsident, es war Franz Josef Strauß, der Witwe ein Beileidstelegramm schicken, und -- womit wir bei der Literatur wären -- der kernige NS-Barde Erwin Guido Kolbenheyer in letzter Instanz als »Minderbelasteter Mitläufer« eingestuft werden.

Hat also in der Nacht vom 8. auf 9. Mai 1945 oder sonstwann wann in dieser Zeit eine »Stunde Null« stattgefunden, oder -- wie ein 1982 von Bernd Schmidt und Hannes Schwenger herausgegebener Sammelband heißt -- eine Stunde Eins ? Die Herausgeber reflektieren dort im Nachwort über »Null« und »Eins« und kommen zunächst zu dem Schluß, daß die »Stunde Null« für die deutsche Situation vom 8. Mai 1945 (auch für die Literatur ?) doch etwas Stimmiges hat. »Das stolze Gebäude meiner Hoffnungen ist assekuranzlos abbrennt, meine Glücksaktien sind um hundert Prozent gfalln, und somit beläuft sich mein Aktivstand wieder auf die rundeste aller Summen, nämlich auf Null. « Das läßt Nestroy -- übrigens fast genau hundert Jahre vor jener »Stunde Null« -- den Titus Feuerfuchs im Talisman sagen, und wenn auch nur ein Deutscher im traurigen Trümmerchaos den nötigen Funken Humor gehabt hat, konnte er das Zitat ohne Weiteres auf die damals gegenwärtige Situation und wohl auch auf das Lebensgefühl anwenden. Also: »Stunde Null«, tabula rasa, auch so etwas wie ein Bankrott. Das hat aber einen nicht ganz angenehmen Beigeschmack. Ein Bankrott tilgt zur meist nur mäßigen Befriedigung der Gläubiger die Verbindlichkeiten des Gemeinschuldners, und alles ist erledigt, reiner Tisch gemacht, der nun ehemalige Schuldner hat zwar nichts mehr, aber er kann neu anfangen. Waren die Schulden der Deutschen zu jener »Stunde Null« vergessen ?

Noch 1969 begann, freilich unter Ausschluß der Öffentlichkeit (aber nicht der ganzen Öffentlichkeit) eine Gesamtausgabe der Werke Hans Grimms zu erscheinen, zu denen auch der Roman Volk ohne Raum gehört, dessen Titel ein Nazischlagwort wurde, und zum hundertsten Geburtstag, den der völkische Dichter Hermann Claudius noch lebend feiern konnte, erschien 1978 eine Auswahl aus seinen Werken, zu der sich der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt das Begleitwort zu schreiben nicht zu schade war. »Herrgott, steh dem Führer bei, daß sein Werk das deine sei, daß dein Werk das seine sei, Herrgott, steh dem Führer bei !«, hat dieser Urenkel des Wandsbeker Boten gedichtet. Der fünfundzwanzigbändige Meyer von 1972 erwähnt die Naziaktivitäten dieses Claudius mit keinem Wort und stuft ihn frech als »Arbeiterdichter« ein, wahrscheinlich, weil die NSDAP ja eine NS-Arbeiter-Partei gewesen war. Nein, eine »Stunde Null« war es so gesehen nicht, nicht einmal eine »Stunde Eins«, es war für viele, für die Hans Grimm und Hermann Claudius nur beispielhaft erwähnt sind, nur eine Stunde des Duckens, des Wegtauchens, des Abwartens. Die Seilschaften, wie man jetzt sagt, waren nur etwas irritiert, pfiffen leise hinter den Baumstümpfen, fanden sich aber bald. Ein solches Nest, das größte wohl, entstand in Lipoldsberg in Hessen, dem Wohnsitz Hans Grimms. Und in München gab es die Klüterblätter und deren Kreis.

Ich geriet so um 1950 herum unversehens in eine Sitzung, fast hätte ich gesagt: Séance, dieses Kreises, der im Gasthof »Neuner« tagte. »Klütern«, auch »Klüttern« oder »klittern« heißt nach dem Grimmschen Wörterbuch soviel wie »klappern«, im Hessischen auch »kleine unnütze Dinge anfertigen«. Wie wahr, auf jene Klüterblätter bezogen, die, hoffe ich, inzwischen doch im Papierkorb der Jahre verschwunden sind. Jene Klüterblätter-Leute, deren Namen ich vergessen habe, Fußvolk der -- völkischen -- Literatur, waren hauptsächlich damit beschäftigt, zu verdrängen, wegzuerklären; die Kolbenheyer und dergleichen, und selbst ein Emst Jünger war nicht frei davon (sogar im Zusammenhang mit Thomas Mann wird darauf zurückzukommen sein), nahmen zwar die Wörter »Vaterland« oder »Deutschland« nicht mehr in den Mund, von Patriotismus, Heldentum und so fort war selbstverständlich überhaupt nicht mehr die Rede, man war plötzlich »abendländisch«, im verschärften Fall »christlich-abendländisch«. Das war eine Ausweich-Haltung, die den beginnenden Kalten Krieg und den zwar kindlich wirkenden, aber nicht ganz unbegründeten Horror der Amerikaner vor allem »Linken« und der daraus folgenden Doktrin benutzt, um so etwas wie Entschuldigungen für jene alten Schulden zu stricken: die Deutschen waren nicht allein schuld am Krieg, die anderen waren auch daran etwas mitschuldig, und die Russen überhaupt, und außerdem das Leid der Flüchtlinge, und die vielen Uhren, die die Sowjets gestohlen haben, und eigentlich waren eher doch die anderen schuld -- diese ganze »Befindlichkeit« ist dann auch unter dem statistischen Gesichtspunkt zu sehen, wieviel ehemalige NSDAP-Mitglieder im ersten Bundestag saßen. Selbst der erste Bundespräsident war eines -- und aber auch die Kehrseite davon: die Alt-Nazis in der Volkskammer der DDR, die genauso verlogen die alten Schulden ausschließlich in den Westen abschoben. Ohne daß es in München eine ähnliche sozusagen ausdrückliche Institution wie Hans Grimms Lipoldsberg gegeben hätte, waren München und die Umgebung bis hinaus zum Chiemsee auch eines der Sammelbecken der unverzagt oder nur wenig verzagt sich Duckenden: Hans Zöberlein (Der Glaube an Deutschland), Hanns Johst, der schon erwähnte Kolbenheyer, Josef Magnus Wehner und andere, allesamt zu Recht vergessen und nicht mehr gelesen, so wenig wie die von Reinhard Wittmann mit Recht als Lupenreine NS-Bardin« bezeichnete Josefa Berens-Totenohl (Der Femhof), Hans Friedrich Blunck (Werdendes Volk), Richard Euringer (Deutsche Passion 1933), Will Vesper (Das harte Geschlecht), Heinz Steguweit und Franz und Heinz Schauwecker. Freilich gelang es nicht allen, sich für dauernd in München niederzulassen, denn die neue Stadtverwaltung war -- mit Recht, wenn man die Wohnungssituation in der weitgehend zerstörten Stadt bedenkt -- mit sogenannten »Zuzugsgenehmigungen« sparsam. Dabei spielte bei deren Erteilung die politische Gesinnung keine oder nur eine untergeordnete Rolle; sie konnte ohnedies schwer nachgeprüft werden. Die meisten der Nazi-Dichter und -Schriftsteller waren nicht in der Partei gewesen, und wer hatte schon Franz Schauweckers So war der Krieg gelesen ? So ist es auch heute noch schwierig, nicht ungerecht zu sein.

Die Nazi-Herrschaft war ja nicht wie der Blitz gekommen. Es ging ja auch nicht sofort ein eiserner Vorhang herunter. Im Nachhinein ist man immer gescheiter, und jedem, der heute behauptet, er hätte damals so oder so gedacht und reagiert, mißtraue ich. Weiß ich, was ich damals, am 30. Januar 1933 getan hätte ? Emigrieren ist leichter gesagt als getan, besonders als Schriftsteller. Weit verbreitet (soweit oppositionelles, das heißt vernünftiges Denken überhaupt noch verbreitet war; es wird gern vergessen, daß bei den letzten Wahlen in der Weimarer Republik in manchen Gegenden, z. B. Schlesien, 60% für Hitler gestimmt hatten !), weit verbreitet war die Meinung: » -- wird auch wieder abkommen . . . «, oder » -- er stößt sich die Hörner ab, wenn er Verantwortung übernehmen muß . . . «, oder » -- es wird nicht so heißgegessen wie gekocht . . . « Daß noch heißer gegessen werden sollte, ahnte wohl niemand. Wie soll man zwischen denen unterscheiden, die gewisse Sympathien für gewisse Züge des Nationalsozialismus aufbrachten -- Gottfried Benn gehörte anfangs dazu, es ist nicht zu leugnen --, zwischen denen, die meinten, so ein politischer Schwachsinn könne sich nicht lange halten, man brauche sich nur eine kurze Zeit etwas ducken, und denen, nicht selten sonst Erfolglose, die die Chance sahen, sich durch Anbiederung Ruhm und Geld zu verschaffen ? Wie soll man es einordnen, daß selbst Ödön von Horväth freiwillig Mitglied der »Reichsschrifttumskammer« wurde ?

Man darf also die Situation, die dann auch auf die unmittelbare Nachkriegszeit deutlich eingewirkt hat, nicht verkennen. Wer nicht hart oppositionell schrieb, nicht von vornherein verfemt war (wie Tucholsky, Brecht), wer nicht »rassisch« belastet war (wie alle jüdischen deutschen Autoren), dem passierte nichts, der durfte sogar weiter veröffentlichen. Diese zaghafte Moderne, dieser überwinternde Sanft-Expressionismus eines Wilhelm Lehmann oder einer Gertrud von Le Fort blieben unbehelligt und galten auch nach dem Krieg weitgehend als die neuere Literatur. Dabei vergaß freilich die alte Dame Le Fort, was sie (schon 1932 !) in ihren Hymnen an Deutschland geschrieben hatte. Das Vergessen war freilich eine der verbreitetsten Übungen unter den Angehörigen der mittleren und älteren Generation der Literaten. Man besann sich auf das, was unverbindlich war, übte das Klassische und floh ins Goethe-Jahr 1949, eine von wirklich keinem anfechtbare Manifestation dessen, was deutsch war in einer Zeit, wo man dieses Wort sonst nur ungem in den Mund nahm: in Österreich hießen noch lang nach 1945 die Lektionen in der Muttersprache nicht »Deutsch«, sondem »Unterrichtssprache«.

Die »Innere Emigration« ist nicht ungem belächelt als billige Ausrede mißachtet worden, manchmal zu Recht, manchmal zu Unrecht, wobei überhaupt die Frage ist, was das war, die »Innere Emigration« ? Einige Zeit der literarischen Jahre zwischen 1945 und 1950 hat die Kontroverse zwischen (hauptsächlich) dem Münchener Weltbürger Wilhelm Hausenstein und dem ehemaligen Wahl-Münchener Thomas Mann eingenommen. Wie immer hatten beide Recht und beide Unrecht. Hausenstein, beim Ausbruch der Naziherrschaft knapp über fünfzig Jahre alt, durfte noch, relativ unbehelligt, bis 1936 die Kulturbeilage der Frankfurter Zeitung redigieren, dann machte er sich doch mißliebig, wurde 1936 aus der »Reichsschrifttumskammer« ausgeschlossen, was einem Berufsverbot gleichkam, durfte aber weiter die erwähnte Kulturbeilage -- ich denke mir: höchst vorsichtig - redigieren, bis ihm das 1943 auch verboten wurde. (Ergänzend, ich merke oft, wie weit so etwas alles vergessen ist: nach dem Krieg war Hausenstein der erste deutsche Botschafter in Paris und machte eine gute Figur; auch war er der erste Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.) Thomas Manns Biographie brauche ich nicht zu erwähnen. Er kehrte von einer Vortragsreise ins Ausland im Januar 1933 nicht nach München zurück, ging über die Schweiz usw. nach Amerika und blieb dort bis 1952. Thomas Mann, der nicht Jude war, von daher keine Schwierigkeiten gehabt hätte (zwar: mit einer Jüdin verheiratet - deren Eltern aber die Nazizeit über unbehelligt in München lebten, seltsam), stilisierte sich erst spät zum Gegner des Naziregimes. Es ist rätselhaft, was die Nazis gegen Thomas Mann hatten: weder seine damals aufgeregt (u. a. von Richard Strauss) kritisierte Wagner-Rede noch seine viel erwähnte und kaum gelesene Rede Deutsche Aussprache. Ein Appell an die Vernunft wären bei Lichte besehen geeignet gewesen, selbst zartbesaitete Nazis zu kränken. Beides sind raunend-verquollene Elaborate (die Essayistik war wohl Thomas Manns Sache wirklich nicht), die man erst nach vielfachem Lesen ungefähr versteht. (Und Lesen war der Nazis Sache nicht.) Dagegen stehen in den früheren politischen Schriften Thomas Manns Dinge, die ich lieber nicht zitieren will: Es ist besser, Sie glauben mir, als Sie lesen nach - behalten Sie den Meister des Zauberbergs lieb und verzichten Sie auf die Betrachtungen eines Unpolitischen - selbst latenter Antisemitismus schlägt hier durch . . . Hätten die Nazis Thomas Manns frühe politischen Schriften gelesen, hätten sie ihn ohne weiteres vor ihren Karren spannen können. Wer weiß, wie Thomas Mann reagiert hätte. (Der Grund für Thomas Manns Ungnade bei den Nazis liegt ganz woanders: bei seinen Kindem Klaus und Erika -- die waren in ihrer »Pfeffermühle« militant antinazistisch.) Was ich damit sagen will: Hausenstein, der gewiß kein Nazi war, wie dargestellt, war »Innerer Emigrant«, und Thomas Mann, dessen politische Position äußerst heikel zu beschreiben ist, war (heißt das so ?) »Äußerer Ernigrant«. Und nach 1945 befehdeten sie sich in Briefen und Essays. Thomas Mann warf Hausenstein (und seinesgleichen) vor, nicht genug Widerstand geleistet zu haben, warf ihnen im Grunde vor, nicht aufrecht genug gewesen zu sein, um selbstmörderische Opposition zu betreiben, und mit ihrem Stillhalten indirekt den Nazismus unterstützt zu haben. Hausenstein warf Thomas Mann (und seinesgleichen) vor: er hätte leicht reden in Santa Monica, wo es keine Bomben, dafür genug Butter gab.

Der Ruf und die Aufbruchstimmung nach 1945

Um all das kümmerten sich wenig diejenigen, die nach 1945 eigentlich erst anfingen. Auch für die waren München und Bayern, die amerikanische Besatzungszone, ein Mittel- und Sammelpunkt. Ob der Ruf im Bewußtsein damaliger Leser diesen Mittelpunkt bezeichnete, erscheint mir fraglich, aber rückschauend ist der Ruf fast etwas wie ein Synonym für die literarische Aufbruchstimmung der damaligen Jahre geworden. Entsprechend kontrovers und ungenau ist daher auch alles, was diejemgen, die am Ruf in dieser oder jener Form mitgearbeitet haben, über Weg und Ziel dieser Zeitschrift im Nachhinein berichten. Es ist nicht mehr zuviel gesagt, wenn ich feststelle, daß die Geschichte des Rufs bereits von Legenden umkränzt ist. Nach Abschlagen dieser Legenden-Krusten ergibt sich, daß -- unzweifelhaft -- im März 1945 in einem amerikanischen Lager für deutsche Kriegsgefangene eine Zeitschrift Der Ruf gegründet wurde: mit amerikanischer Hilfe, versteht sich, vielleicht sogar auf amerikanischen Befehl. Diese Zeitung war ein Teil dessen, was die Amerikaner »re-education« nannten, und was eine insgesamt höchst problematische Angelegenheit war. Problematisch nicht wegen der Gesinnung dieser Sieger, die ohne Zweifel gut und richtig war und auf etwas abzielte, was aufs innigste zu wünschen blieb, nämlich das Austreiben des Nazigeistes aus den deutschen Hirnen und das Erwecken (oder Wiedererwecken) demokratischen Bewußtseins. Diese »re-education« war auch, weit über die letzten Endes periphere Bedeutung des Rufes hinaus, für alle, weit wichtigeren und lebensrettenden Bereiche der hungernden und frierenden deutschen Bevölkerung der Leitgedanke der Besatzungspolitik in der amerikanischen Zone.

Die Problematik liegt darin, daß es ein Widerspruch in sich war, den Leuten demokratische Gesinnung mit diktatorischem Knüppel einbläuen zu wollen. Auf die delikate sozialpsychologische Situation, die dadurch entstanden ist und wohl die ersten Jahre der Nachkriegszeit mitgeprägt, die gewisse Trotzreaktion selbst bei manchen Untadeligen hervorgerufen hat, kann hier weiter nicht eingegangen werden, auch darauf nicht, was die Amerikaner hätten besser machen sollen. (Hätte es überhaupt etwas Besseres, Richtigeres gegeben ?) Was den Ruf anbelangt, so sind manche Schwierigkeiten und manche Legendenbildungen auf die Contradictio dieser als Zwangsdemokratisierung empfundenen Besatzer- und Bewachermaßnahmen zurückzuführen. Der Ruf, die auflagenstärkste der »von Kriegsgefangenen für Kriegsgefangene« (so zeitweise der Untertitel) gemachten Zeitungen und Zeitschriften (zuletzt eine Auflage von 75.000 Exemplaren), erschien erstmals am 1. März 1945 im Gefangenenlager Fort Kearney unter der Leitung zweier amerikanischer Offiziere, einer davon deutscher Abstammung: Walter Schoenstedt und Edward Davidson, sowie der beiden Kriegsgefangenen Gustav René Hocke und Curt Vinz. Am 1. Juli 1945 trat Alfred Andersch in die Redaktion ein, Gustav René Hocke wurde Chefredakteur, am 15. Oktober von Walter Mannzen abgelöst, der Hans Werner Richter in die Redaktion holte. Richter, der überhaupt später die Dinge im linkspolitischen Licht zu beschönigen sich bemühte, behauptete, er sei gegen seinen Willen in die Redaktion nach Fort Kearney gebracht worden. Genauso behauptete er später, er habe, als im April 1946 (nach Richters und Anderschs Rückkehr nach München) der Ruf nach München verlegt wurde, eigentlich einen Gegen-Ruf gründen wollen, frei von amerikanischer Bevormundung. Er sagte sogar einmal, er und Andersch hätten »es« (was ?) den Amerikanern mit gleicher Münze heimzahlen wollen. Der Ruf erschien dann noch bis 1947.

Man muß sich, um die Kontroversen der Zeit, auch um den Ruf zu verstehen, vergegenwärtigen, wie schnell der Konsens zwischen den Siegermächten, sozusagen wenige Stunden nach dem 8. Mai 1945 auseinanderbrach, wie rasch der »Kalte Krieg« zwischen Ost und West eintrat, und wie rasch damit in dem, was von Deutschland übriggeblieben war, und dort, wo sich ein Pflänzchen neuer deutscher Literatur zeigte, die Frage »links« oder »rechts« virulent wurde. Ich behaupte, daß bei Leuten wie Hans Werner Richter und Alfred Andersch die dann lebenslang zur Schau gestellte (und dabei keineswegs gelebte) linke Gesinnung nichts anderes war als ein Mittel, den Amerikanem »es« heimzuzahlen, wobei es eine überaus heikle Frage ist, was dieses »es« war.

Selbst wenn man Thomas Manns Doktor Faustus ganz genau liest, muß man feststellen, daß er sein alter ego Zeitblohm mehrfach von den deutschen, also sozusagen den Hitler-Truppen als von den »unseren« sprechen läßt, also eine -- ich nehme an: unbewußte -- innere Identifikation vornimmt: mit Hitler-Deutschland. Ich habe mich immer über den Satz gewundert: »Wir haben den Krieg verloren. « Nein: ich nicht. Hitler hat den Krieg verloren, und alle haben ihn verloren, die Hitler wollten. Waren auch Andersch und Richter der Meinung, daß »wir« -- also auch sie beide -- den Krieg verloren haben ? Hätten sie -- und auch Thomas Mann -- den Krieg lieber gewonnen ? Es ist damals die ungerechte und im Grunde steindumme, weil heillos versimplifizierende Ansicht entstanden, daß Amerika mit »rechts« und die Sowjet-Union mit »links« zu identifizieren wären. Sie hat im Grunde bis zum Ende der achtziger Jahre gegolten.

Das Um und Auf der Trümmer-Literatur (und die Keinfrage, um die viele Beiträge im Ruf kreisten) war die »Schuldfrage«. Diese Suche nach der Schuld -- der Schuld am Krieg, an der Niederlage, an der Naziherrschaft überhaupt -- ist natürlich höchst verständlich, denn wenn diese »Schuldfrage« befriedigend hätte gelöst werden können, wäre damit auch eine »Entschuldigung« möglich gewesen. Nach nichts, außer vielleicht noch »Camel« und »Lucky Strike«, haben die Deutschen so sehr gelechzt wie nach einer Entschuldigung. Daß sich die russischen und zum Teil auch die englischen und französischen Besatzungstruppen wie die Schweine benommen haben (also fast so, wie die deutschen Besatzungstruppen vorher in Frankreich, Polen, Rußland), wurde als Entschuldigung herangezogen, die militärisch sinnlosen Bombardierungen ziviler Ziele, das in der Tat unermeßliche Leid der Flüchtlinge aus dem Osten auch -- aber das ist so ungefähr wie jener Witz vom Amerikaner, der (im Kalten Krieg) nach Moskau kommt und herumgeführt wird, auch auf den Kasaner Bahnhof, wo, laut Agitprop-Fremdenführer, alle halbe Minute ein Zug ein- oder abfährt, und der Amerikaner sagt: »Wir sind jetzt drei Minuten hier, und noch kein einziger Zug ist ein- oder abgefahren. « Antwort des Agitpropisten: »Ihr seid auch schlecht zu den Negern. « Unrecht hebt Unrecht nicht auf. Jede Greueltat ist isoliert zu betrachten, sonst besteht die Gefahr, daß Schuld und Sühne sich fortschleppend vererben -- wie es ja leider eigentlich regelmäßig der Fall ist.

Das »feindliche« Unrecht also bot nur ungenügend Anhaltspunkte für »Schuldfrage« und Entschuldigung. Mittels strammlinker Gesinnung tat man sich leichter: schuld waren die Nazis, also die anderen. (Wenn man die Schuldfrage-Diskussionen liest, beschleicht einen ohnedies der Verdacht: die »Schuldfrage« sucht nur die Antwort, daßja ein anderer schuld ist. Für einen Scherbenhaufen die Verantwortung zu übernehmen, ist unschön.) Leute wie Richter oder Andersch, die sich zwar auch linker, aber keineswegs - ich will durchaus die Kirche beim Dorf lassen, ich habe beide gekannt -- linksfaschistischer Gesinnung befleißigten, sahen die Sache differenzierter, so daß sich etwa die Antwort herauskristallisierte: Hitler war schuld am Krieg, aber das Kuddelmuddel der Weimarer Republik war schuld an Hitler, und die unvernünftige Politik der Alliierten des Ersten Weltkrieges war schuld an diesem Kuddelmuddel . . . meist hörte da die betrachtete Kausalkette auf. Man könnte sie vielleicht weiter aus dem Brunnen der Vergangenheit heraufrattern lassen, bis von ganz unten Hermann der Cherusker auftaucht.

Es dauerte naturgemäß nicht lang, bis man bemerkte, daß die »Schuldfrage«-Diskussion, überhaupt das Politische, nicht taugt, um etwas hervorzubringen, was mit einigem Recht neue deutsche Literatur genannt werden konnte. Man vergegenwärtige sich die Situation nochmals: Da schrieben alte unverfänglich, die Wilhelm Lehmanns (das ist, gerade bei ihm, nicht abwertend gemeint), ein Leonhard Frank, eine Gertrud von Le Fort. Da bekriegten sich Innere und Äußere Emigranten, da wollten Anfänger saubere politische Gesinnung hochhalten -- und man raunte vom großen neuen Roman, an dem Thomas Mann schrieb. Wo war das Neue ?

Eine Nische bildeten die Jammer-Poeme, die den Markt überschwemmten. Die Abgrenzung ist naturgemäß schwierig, die literarischen Qualitäten schillerten. Die Galionsfigur ist das allen geläufige Hörspiel und Theaterstück Wolfgang Borcherts, Draußen vor der Tür. Ich möchte aber, weil die literarische Situation in Bayern beleuchtet werden soll, einen damals hier lebenden Autor als Beispiel für den Versuch, aus dem Jammer Literatur zu klopfen, heranziehen: Walter Kolbenhoff . . .

Als Walter Hoffmann 1908 in Berlin geboren, gelernter Chemigraph, einige Jahre weltherumstreunend, seit 1929 Mitglied der KPD und eher glückloser, wenngleich für das Elend des Proletariats in unzweifelhaft aufrichtiger Weise glühender Journalist, emigrierte er 1933 nach Dänemark, wo er offenbar hungern mußte, keine Hilfe von Genossen erhielt (er wurde, weil wohl unbequem, aus der KPD ausgeschlossen), fand für seine -- nie veröffentlichten, verschollenen Romane keinen Verleger und kehrte in die Höhle des Löwen, nämlich nach Nazi-Deutschland, zurück. Die Nazis hielten ihn für so unbedeutend, daß sie ihn nicht einmal zum Märtyrer machten, sondern -- 1942 -- zur Wehrmacht einzogen. 1944 wurde er bei Monte Cassino gefangengenommen und kam -- jetzt erfüllte sich seine Zeit -- in eines der sogenannten ANTIFA-Lager in Amerika, später in das oben schon genannte Lager Fort Kearney, wo er Alfred Andersch und Hans Werner Richter kennenlernte, wurde so einer der prominenten Mitarbeiter des Rufs, wurde 1946 entlassen und kehrte nach Deutschland zurück, und zwar nach München, wo er Redakteur des inzwischen auch legendären »Re-Education«-Blattes Die Neue Zeitung wurde. Die Neue Zeitung erschien im selben Haus und aus denselben Druckmaschinen, die im Franz Eher Verlag die süddeutsche Ausgabe des Völkischen Beobachters hervorgebracht hatten: Schellingstraße 48. So hieß dann auch ein -- viel später geschriebenes - Erinnerungsbuch Kolbenhoffs (1984). Diese topologische Übereinstimmung war zwar zufällig (das Eher-Verlags-Druckhaus war von den Bomben verschont geblieben, wie seltsamerweise fast alle prominenten Nazibauten in München: »Ehrentempel«, »Führerhäuser«, »Haus der deutschen Kunst«, selbst Hitlers Privatwohnung am Prinzregentenplatz -- ich habe da einen Verdacht, sage ihn aber nicht), war aber auch ein Programm. Man wollte zeigen, daß mit den alten Mitteln neuer Geist herzustellen war. Nach dem Ende der Neuen Zeitung 1949 lebte Kolbenhoff in Germering mehr schlecht als recht vom Verfassen von Hörspielen -- dem Notanker zahlloser Autoren bis zum Aufkommen des Fernsehens -- und von Übersetzungen. Seine späteren Romane blieben wenig beachtet, und er starb 1993, fast vergessen. Aber 1947 erschien sein, noch in amerikanischer Gefangenschaft geschriebener Roman Von unserem Fleisch und Blut und 1949 der Roman mit dem bezeichnenden Titel Heimkehr in die Fremde. Beide Arbeiten wurden als herausragende Manifestationen einer neuen Zeit und einer neuen Literatur beachtet. Von unserem Fleisch und Blut handelt von einem verblendeten jungen »Werwolf«-Partisanen, der im zerstörten, von den Amerikanern besetzten München herumstreunt, sich an seiner Pistole festhält und noch an den Endsieg glaubt. Kolbenhoff hielt, so erhellt aus dem Buch, so etwas für Realität, war also auf die Greuelmärchen der an den »Werwolf« glaubenden Amerikaner hereingefallen, die wiederum auf die -- letzte - Propagandalüge von Goebbels hereingefallen waren. Einen »Werwolf«, wie ihn Kolbenhoff schilderte, gab es nie. Heimkehr in die Fremde ist der Titel eines -- fiktiven -- Romans, den der Erzähler während des Ablaufs der Handlung sich bemüht zu schreiben. Die Handlung ist eher nebensächlich. Abgesehen von Rückblenden auf die Kriegs- und Vorkriegszeit, zum Teil autobiographisch, ist Heimkehr in die Fremde eher eine Ansammlung von Skizzen aus der Trümmerzeit, schildert das Elend, die Hoffnung und die Hoffnungslosigkeit, den Schwarzmarkt, die GI-Romantik, den Jazz, Gelegenheitshuren, heimliche Alt-Nazis und dergleichen. Ein bunter Strauß, sozusagen, aus Blumen von verschiedenen Grau-Tönen. Im Hintergrund grollt etwas, wovon sich damals -- nicht ganz zu Unrecht -- nicht nur die Literaten umlauert fühlten: die Angst vor dem Dritten Weltkrieg und der Atombombe.

Kolbenhoffs Romane wären, schon wegen ihres zum Teil abwegigen und unrealistischen und nur aus zweiter Hand erfahrenen Hintergrundes (besonders peinlich bei einem sich als Realisten verstehenden Autor) zu vernachlässigen, wenn nicht Stil und Sprache ganz bezeichnend für die, wie ich sie im Titel genannt habe, »zaghafte Moderne« wäre. In die Debatte darüber einzusteigen, was die Moderne ist, war, damals war, ob es überhaupt so etwas gibt, ist fruchtlos und führte zu weit und wohl auch zu nichts. In dem Zusammenhang hier ist nur interessant, wo die Entwicklung der deutschen Literatur in Deutschland (und dann in Österreich) abgebrochen wurde: 1933 und 1938. Ich sage: mitten im Expressionismus.

Seit etwa den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts beherrschte der Weltuntergang, die Apokalypse, die deutschsprachige Literatur. Ich sage nicht: ausschließlich, selbstverständlich gab es immer auch Blümchendichter; aber selbst hinter den Fassaden aristokratischer Ästhetik eines Hofmannsthal -- um nur einen zu nennen -- grollte mehr oder minder hörbar das Desaster: »Manche, freilich, müssen unten sterben . . . « Wer etwas auf sich hielt in der Literatur, verstand sich fortan als Prophet, und zwar als der des Verderbens. Das entscheidende Datum ist -- vielleicht -- das Jahr 1892, als Gerhart Hauptmanns Weber uraufgeführt wurden. Darüber, was unter der Apokalypse zu verstehen ist, bestand natürlich keine Einigkeit, aber die Weltgeschichte lieferte genug Fakten, an denen in diesem Sinn anzuknüpfen war: von den Sozialgärungen bis zum Ersten, zum Zweiten Weltkrieg, Vulkantanz, Schwarzer Freitag, Hitlers Machtübernahme, Zusammenbruch, Hiroshima. Das Grauen ist namenlos und unpersönlich, und so der literarische Expressionismus. (Ich bitte mir nachzulassen, daß ich den Begriff im weiteren Sinn verstehe.) Das -- vermeintlich -- Allgemeinverbindliche ist expressionistisch, das Unbenannte (gern handeln in Dramen der Zeit »der Mann«, »die Frau«, »er«, »der Fremde«), das Raunende, das Abgehackte, Angedeutete, auch alles jene Stotternde wie Sprachlose von Dada bis zur »Ursonate« ist expressionistisch, kurzum: das Welt-Verbessernde, was an sich ja merkwürdig und in sich unschlüssig ist, wenn man eine Welt, die am Untergehen ist, verbessern will. Aber erstens befaßt sich ein Teil der expressionistischen Literatur (meist die sozialkritische) mit Modellen, die den Untergang abwenden sollten, und zweitens ist auch und eben das Merkwürdige und Unschlüssige, dazu zumeist Bierernste und Humorlose des Expressionismus ein bedeutender Zug darin. Ich betrachte Brecht, dessen schillernder Facettenreichtum nicht darüber hinwegtäuschen sollte, wie bieremst und raunend er war, als den letzten Expressionisten, und mit seinem Weggang aus Deutschland brach eben dieser Expressionismus unausgegoren ab. Wer weiß, was aus ihm geworden wäre. Der verdämmernde Spätexpressionismus einiger weniger Unbehelligter (siehe oben) kann vernachlässigt werden. Ohne daß ein ausdrückliches Konzept zu sehen wäre, wohl nicht einmal empfunden wurde, scheint mir, daß zu jener »Stunde Null« oder »Eins« versucht wurde, an den abgebrochenen Expressionismus der zwanziger und frühen dreißiger Jahre anzuknüpfen.

Das konnte nicht gelingen; das war, als ob man versuchte, eine in tausend zerspaltete Drähte aufgefächerte Leitung an ein Kabel zu schließen. Kolbenhoffs Romane (jene beiden aus den vierziger Jahren) breiten nochmals -- heute unlesbar geworden, meine ich -- jenes Namenlose, Gewollte, Verkrampfte, Zerrissene aus, in Form, Sprache und Gedanken, das bezeichnend für den Expressionismus ist. »Er starrte in die Ruinen und sah die Wüste vor sich: Eine weite hügelige Steppe. Unter dem Sande lagen die Häuser und die Millionen der Toten. Am Himmeljagten zerrissene Wolken, auf einem kahlen Stein hockte ein einsamer Adler. Der Wind aber sang ein wehmütiges Lied von den Männern, die hier gestorben waren. « (Von unserem Fleisch und Blut). Derlei Töne finden sich nicht nur bei Kolbenhoff, sie finden sich auch bei vielen von denen, die damals - mehr oder weniger spät - anfingen: beim frühen Böll, beim frühen Andersch, und wer heute, meine ich, Tauben im Gras wieder liest und zwar aufmerksam, dem kann dieser expressionistische, irreale Ton mit realistischem Anspruch nicht verborgen bleiben.

Vielleicht ist alles aber auch ganz anders. Vielleicht sind die fünfzig Jahre, die seitdem vergangen sind, zu wenig, um herauszufinden, ob es überhaupt eine »Trümmerliteratur« gab, und wennja, welche Leitfossilien diese Literatur bezeichnen. Vielleicht war alles miteinander nur Scherben und zerborstene Brocken. Dabei gab es in Deutschland kaum eine Zeitspanne wie diese fünf Jahre, in denen das Kulturelle eine so große Rolle gespielt hat. Die Zahl der literarischen Zeitungen war unübersehbar, alle wurden gekauft und gelesen. Die Auflagen der Zeit wären astronomisch gewesen, sofern nicht die Papierknappheit eingedämmt hätte, das gleiche gilt von den Büchern; Verlage schossen wie Pilze aus dem Boden, und es wären noch mehr hervorgeschossen, wenn nicht die Amerikaner mit den Lizenzen gegeizt hätten. Theaterkarten waren gefragt wie warme Semmeln - die es nicht gab. Und das ist der springende Punkt. Sobald es diese, nämlich die warmen Semmeln, wieder gab, ab Juli 1948, der »Währung«, war es aus mit der Kunst- und Kulturbegeisterung. Es kam die Freßwelle (die deutsche Bevölkerung, jedenfalls die der West-Zonen, nahm binnen eines Jahres um 30% zu, nicht durch Geburtenüberschuß, sondern durch Gewichtanftessung), dann die Bekleidungswelle (die Kriegsklamotten waren ihnen zu eng geworden, die Bevölkerung wuchs durch die damals beliebten Kreppsohlen um 4 bis 6 Zentimeter), dann die Einrichtungswelle, dann die Motorisierungswelle - die Kulturwelle nach 1945 war eine Scheinblüte gewesen. Die Leute hatten Kultur gekauft, weil sie nichts anderes für ihr Geld bekommen hatten. Herrscht, frage ich, auch in der Kunst das kapitalistische Prinzip stärker, als wir ahnen ? War der sozusagen konkurrenzfreie Kulturmarkt nach 1945 schuld daran, daß die damalige Literatur so blaß und farblos erscheint -- als eine zaghafte Moderne, irritiert und orientierungslos ? Ein abgestandener Expressionismus ?

Im September 1947 wurde am Bannwaldsee von -- unter anderen -- Hans Werner Richter und Alfred Andersch die »Gruppe 47« gegründet. Angeblich. Die Legenden, die sich um die »Gruppe 47« gebildet haben, sind wohl unterhaltender und bedeutender als die Institution selbst. In Wahrheit trat diese lose Vereinigung wohl erst 1951 ins literarische Leben, wurde »Gruppe 47« -- wegen auch angeblich 47 Gründungsmitgliedern -- genannt, das Gründungsdatum auf 1947 (per Akklamation -- so Wolfgang Bächler, der dabei war) zurückverlegt. Sicherlich ist kein Rundblick, sei er noch so kursorisch, über die Literatur zwischen 1945 und 1950 vollständig, ohne Erwähnung der »Gruppe 47«, und, wie gesagt, die Legenden sind zahllos. Im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg wird der Original-Tisch aufbewahrt, an dem 1947 die Gruppe gegründet wurde. (Und, erlaube ich mir hinzuzufügen: eine linke Einlegesohle Hans Werner Richters, ein Zigarettenstummel Günter Eichs und der unverwesliche Fußabdruck Kolbenhoffs) -- alles so echt wie die Feder aus dem Flügel des Erzengels Gabriel im Dom zu Faënza. Alles ist subjektiv, namentlich, wenn man Wert und Bedeutung von Kunst betrachtet und darüber redet. Wer meint, irgend etwas Objektives in dem Zusammenhang sagen zu können, außer vielleicht einigen Fakten (und die meist unsicher genug) täuscht sich entweder, oder er lügt.

Nehmen Sie also alles, fast alles, was ich gesagt habe, als möglicherweise abwegige Meinung eines Einzelnen, auch das, daß ich in der Gründung der »Gruppe 47« entgegen deren ausdrücklichem Programm keinen wirklichen Neuanfang der deutschen Literatur sehe. Zumindest in den ersten Jahren bewegte sich auch dort das meiste in den Bahnen des abgestandenen Expressionismus, der zaghaften Moderne.

Wo war der wirkliche Neuanfang ? 1952 erschien jenes Buch, das endlich, meine ich, alles hinter sich ließ, das Abgestandene, das Jammervolle, das zum Klassischen Geronnene oder darin Wurzelnde, die irritierte Moderne und den abgebrochenen Expressionismus, das Werk, meine ich, das eine neue Tradition erzählenden Schreibens eröffnete, und es war nichts mehr wie früher, und die neue, noch unbeschriebene Zeit fing an: Wolfgang Hildesheimers Lieblose Legenden. Was es mit diesem Buch auf sich hat, ist schon eine andere Geschichte, und mit deren Anfang ist, behaupte ich, die Geschichte der Trümmerliteratur und damit mein Vortrag zu Ende.

© 1998, Herbert Rosendorfer, Die zaghafte Moderne. Trümmerliteratur in Bayern 1945 bis 1950. Zeitschrift Literatur in Bayern Nr. 53 vom September 1998. Foto: Felicitas Timpe.


Camillo Schrimpf (München, 1999) [ Email | Contact | Homepage | Ansichtskarten | Familie | Philosophie | Literatur | Gesundheit | AOL | T-Online | Texte | Versuche | Utilities]

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