Sein Geist zerriß . . . Ein Gedenkblatt für Oskar Panizza.

Vor 75 Jahren, am 28. September 1921, starb der "Dichter von Gottes Gnaden" (Wie er sich selbst genannt hatte) Oskar Panizza, der 1895 für seine "Himmelstragödie" in fünf Aufzügen, Das Liebeskonzil, der Gotteslästerung in 99 Fällen für schuldig befunden, entmündigt und in eine Krankenanstalt eingesperrt worden war. Viele Schriftsteller wie Theodor Lessing, Thomas Mann, Walter Mehring, Kurt Tucholsky oder Andre Breton, zeigten sich von Panizza und dessen Liebeskonzil fasziniert, andere reagierten schockiert und unmutig auf ihn und sein Werk.

Einer der besten Illustratoren des 20. Jahrhunderts, Alfred Kubin, fertigte neun Zeichnungen zu Panizzas Liebeskonzil; sie werden hier mit freundlicher Erlaubnis der Rechte-Inhaberin Christa Spangenberg wiedergegeben (© VG Bildkunst). Die Würdigung schrieb der Richter am Oberlandesgericht Naumburg, Honorarprofessor für Bayerische Gegenwartsliteratur an der Universität München und Schriftsteller Herbert Rosendorfer.

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Abb. 1: Gespräch der Engel. "Gottes Thron wackelte gestern."

Es gibt in der Literaturgeschichte Gestalten, deren Leben bedeutender ist als ihre Werke, und die dennoch die Aufmerksamkeit des Betrachters verdienen. Oskar Panizza gehört zu diesen Gestalten.

Das Mißbehagen mit Oskar Panizza beginnt mit seinem Namen. Nicht selten wird er, als stamme er aus dem Slawischen, auf der ersten Silbe betont. Nichts ist falscher. Oskar Panizza, am 12. November 1853 in Bad Kissingen geboren, war der Sohn eines Kellners, später Hoteliers, Hochstaplers, Spielers und Schuldenmachers namens Carl Panizza, dessen Vorfahren aus Italien stammten. Deshalb rechtfertigt sich nur die Betonung es Namens auf der zweiten Silbe. Aber das nur nebenbei.

Eine familiäre Verwirrung, längst vor Panizzas Geburt, greift in ihren späteren Auswirkungen so tief in seine Psyche ein, daß man zu sagen geneigt ist, sie habe eine fatale Weiche für den auch nicht anders als wirr zu nennenden Lebensweg des Dichters falsch gestellt. Der Vater, als Abkömmling einer italienischen Familie, war selbstverständlich katholisch, die Mutter, Mathilde geb. Speeth, war evangelisch, für beide Familien ein Problem wegen der Konfession eventuell zu erwartender Kinder. Nach einigem Hin und Her einigte man sich auf einen seltsamen Kompromiß: sollte das erste Kind männlichen Geschlechts sein, sollten alle Kinder katholisch getauft und erzogen werden; im Falle einer Tochter aber evangelisch. Alle waren damit einverstanden, nur Carl Panizzas strenggläubige Schwester nicht; sie verlangte die bedingungslose katholische Erziehung aller Kinder, andernfalls sie ihrem Bruder das Darlehen nicht geben werde, das er für die Pacht eines Hotels in Bad Kreuznach benötigte. Unverschämt kurz vor der Hochzeit -- die Gäste waren schon eingeladen -- stellte dann der Bräutigam der Braut das Ultimatum: entweder die Zusage der katholischen Erziehung aller Kinder oder Platzen der Hochzeit. Mathilde Speeth fügte sich, aber nicht aus Nachgiebigkeit und Schwäche (was für eine starke, um nicht zu sagen beinharte, Person sie war, sollte sich später herausstellen), sondern aus Aberglauben: Sie ließ ein Orakel sprechen, und das fiel zugunsten der Katholizität aus.

So wurden die nun in rascher Folge geborenen Kinder, auch das fünfte, Oskar, katholisch getauft. Aber 1856, drei Jahre nach Oskars Geburt, starb der Vater, und die Mutter ließ nun unverzüglich alle Kinder evangelisch umtaufen. (Eigenartige Koinzidenz: auch Mathilde selber war ursprünglich katholisch getauft und nach dem Tod ihres Vaters umgetauft worden.)

Die Mutter war eine außerordentlich tüchtige Frau. Sie nahm nach dem - erlösenden - Tod ihres Mannes die Zügel des Geschäfts in ihre starke Hand (inzwischen war man von Kreuznach nach Kissingen übergewechselt), machte aus dem vom offenbar unfähigen Carl Panizza heruntergewirschafteten "Russischen Hof" ein gewinnträchtiges Unternehmen und wurde so zur Millionärin. Aber das Umtaufen ihrer Kinder blieb nicht folgenlos: Der katholische Pfarrer Gutbrod, ein Plattkopf, kläffte verbissen gegen die Witwe, setzte alle Hebel in Bewegung, zeigte sie an, brachte einen Prozeß gegen sie zuwege, in dem ihr letzten Endes die Erziehungsbefugnis über ihre Kinder entzogen wurde. Die Angelegenheit beschäftigte hohe und höchste Stellen, zuletzt selbst König Max II. Alle, ausnahmslos, erwiesen sich als dem dumpfen Katholizismus verhaftet, der Bayern in jenem Jahrhundert "schwärzer noch als Rab und Dohle" machte. Aber Witwe Panizza war noch schlauer: sie brachte die Kinder außer Landes, nach Württemberg. Mathilde Panizza war nicht nur protestantisch, sie war so verbissen pietistisch wie ihr Widerpart Gutbrod katholisch. So gab sie Oskar in die Schule der Brüdergemeinde in Kornthal. Da der Pietismus nicht weniger, wenngleich sozusagen feinmaschiger fanatisch war als der damalige Katholizismus, kam Oskar nicht vom Regen in die Traufe, sondern sozusagen vom Feuer ins Eis. Er sollte sich nie mehr davon erholen.

Nach der Konfirmation kehrte Oskar heim nach Kissingen (die juristisch-klerikalen Wogen hatten sich inzwischen geglättet) und sollte auf Wunsch der bigotten Mutter -- was werden ? Pfarrer. Aber Oskar verweigerte. Er mußte vom Gymnasium, wollte Kaufmann werden, benahm sich flegelhaft, verspürte aber schon die Berufung zu Höherem, studierte am Konservatorium in München herum, komponierte, schrieb Dramen und Epen, blieb einige Monate als frecher Voluntär in einer Bank in Nürnberg, leistete widerwillig den Militärdienst ab und beschäftigte sich hauptsächlich mit sich selber.

Völlig unvermittelt trat 1875 eine Wandlung ein. Während eines Pferderennens faßte der exzentrische Zweiundzwanzigjährige den Entschluß, sein Abitur nachzuholen und zu studieren. Und das Erstaunliche geschah: Er schaffte es. Er studierte Medizin, schloß sein Studium mit einer Dissertation ab, die sein Lehrer, der berühmte Pathologe Hugo von Ziemssen, als mustergültig bezeichnete und alsbald veröffentlichte, erhielt seine Approbation und wurde nun als Dr. Oskar Panizza 1882 Assistent von niemand geringerem als von Prof. Bernhard von Gudden -- von jenem Gudden, der vier Jahre später auf heute noch rätselhafte Weise mit König Ludwig II. ums Leben kam. Zu der Zeit aber hatte Panizza seinen ärztlichen Beruf schon aufgegeben. Eine Jahresrente von sechstausend Mark (damals eine horrende Summe, heute mindestens mit 20 zu multiplizieren), die die Mutter allen ihren Kindern aussetzte, ermöglichte es 1884 Panizza, sich ganz seiner Berufung als Dichter zu widmen und zu reisen.

In den folgenden zehn Jahren entstand eine Reihe von literarischen Arbeiten, die alle veröffentlicht wurden und einen halb erotischen, halb okkulten, ebenso moralisierenden wie libertinistischen, insgesamt bohrenden, jauchewarmen Ton aufwiesen, der heute schwer zu ertragen ist. Unverhohlener Antisemitismus und vor allem Anti-Katholizismus waren aber die Hauptzüge. Die Skurrilität erschöpfte sich meistens in den Titeln: Aus dem Tagebuch eines Hundes, Die unbefleckte Empfängnis der Päpste, Der heilige Staatsanwalt. Ohne darin eine große und bedeutende Rolle zu spielen, eher als Mitläufer gehörte Panizza zum Kreis der Bohème in München um Michael Georg Konrad, Max Halbe, dem Kreis, aus dem später der Simplicissimus und die Elf Scharfrichter hervorgingen. Den genialen, stets in Geldsorgen schlotternden Dichter Ludwig Scharf unterstützte der wohlhabende Panizza förmlich als Mäzen.

Alfred Kubin: Liebeskonzil

Abb. 4: Athletischer Liebeskampf am Hof Alexanders VI.

Die entscheidende Wende in Panizzas Leben trat 1894 mit dem ein, was sich heute noch von seinen Werken im literarischen Bewußtsein erhalten hat: mit der "Himmels-Tragödie" unter dem Titel Das Liebeskonzil. Panizza, der ja nicht ohne originelle Einfälle war, freilich ohne Talent für dramatische Proportionen für diese Einfälle, läßt im Liebeskonzil in einer Parodie des Goetheschen "Vorspiels im Himmel" eine verrottete himmlische Gesellschaft, bestehend aus einem schon völlig vertrottelten Gott-Vater, einem smarten Gott-Sohn, einer mondänen Maria usw., ihre Schwierigkeit erkennen, die zunehmend aufgeklärte Menschheit bei der Stange des dumpfen Aberglaubens zu halten, wodurch natürlich die Herrschaft der Himmlischen allein gewährleistet ist. Rettung kann nur der Teufel bringen. Er wird zitiert, von den Himmlischen umschmeichelt und beauftragt, irgendetwas zu erfinden, was dem Menschen die geschlechtliche Lust vergällt, ihn aber nicht tötet und ihn weiterhin erlösungsbedürftig macht. (Als Belohnung bekommt der Teufel dafür eine bequeme Stiege zu Himmel, freien Zutritt dorthin und einen Kammerherrentitel.) Dem Teufel gelingt das mit der Erfindung der Syphilis, die er mit Hilfe der Sittenlosigkeit am päpstlichen Hof verbreitet. Um dies darzustellen, hat Panizza Szenen aus dem bekannten Diarium des päpstlichen Zeremonienmeisters Burchardus eingearbeitet. Das Stück ist teilweise wirklich geistvoll, oft aber auch quälend langatmig, und seine Tendenz ist für den wohlwollenden, objektiven Betrachter klar: Sie richtet sich gegen die namentlich in der katholischen Kirche (nicht nur für Panizza) unerträgliche anthropomorphe Verzerrung der Gottesvorstellung. Da aber gerade diese anthropomorphe Verzerrung zusammen mit der das Erlösungsmonopol der Kirche allein rechtfertigenden Sexuallehre die Stützen der Katholizität waren und sind, haben sich katholische bayerische Kreise, und die gab es ja genug, in ihren Grundfesten angesägt gefühlt.

Panizzas Stück, das er selber gelegentlich (mit einigem Recht) nur als Lese-Drama bezeichnet hat, wurde 1893 geschrieben und erschien im Herbst 1894 beim Verlag Jakob Schabelitz in Zürich, also im Ausland. Dennoch griff die Staatsanwaltschaft in München sofort ein, mit einer Schnelligkeit, die sich damals mancher Bürger bei wirklichen Verbrechen gewünscht hätte. Es war aber eine harte Nuß für den Staatsanwalt, denn es stellte sich heraus, daß von einer Verbreitung der als gotteslästerlich und daher kriminell zu geltenden Schrift nur 23 Exemplare verkauft worden waren, und daß die beiden betreffenden Buchhändler und die Käufer keinen Anstoß genommen hatten. Sogar ein sich als katholisch bezeichnender Schriftsteller -- es stellt dem sonst wohl Vergessenen ein gutes Zeugnis aus, weshalb sein Name genannt sei: Heinrich Steinitzer -- gab zu Protokoll, durch die Lektüre keinesfalls in seinen religiösen Empfindungen verletzt gewesen zu sein. Vielleicht war Steinitzer klar, daß nicht Panizzas karikierende Darstellung gotteslästerlich ist, sondern das, was er karikiert, nämlich der katholische anthropomorphe Gottes-Aberglaube. --

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Abb. 7: Der Teufel schließt Salome in seine Arme

So wie ich nun behaupte, ist es nicht dokumentiert, aber ich bin im Innersten sicher, daß es so gewesen ist: Der Staatsanwalt bat -- warum gerade dort ? hatte er dort einen Korpsbruder ? -- in Sachsen um Amtshilfe. In Leipzig nahm ein Oberwachtmeister Forstenberg sozusagen pflichtgemäß Anstoß an Panizzas Werk, bestätigt von Polizeirat Müller. Polizeirat Müller (schreit): "Klaputzke ! Hört denn geener ? Klaputzke !" Oberwachtmeister Forstenberg (tritt ein): "Melde gehorsamst, Herr Polizeirad, Wachtmeester Glabudsge is heide auf Wache." Polizeirat Müller: "Na, egal. Dann nehmen Sie eben Anstoß." Oberwachtmeister Forstenberg: "Zu Befehl, Herr Polizeirad, nehme hiermit Anstoß." Polizeirat Müller: "Sie wissen ja noch gar nich, woran Sie Anstoß nähmen solln." Oberwachtmeister Forstenberg: "Nähme an allem Ansdoß, wenn Herr Polizeirat winschen." Polizeirat Müller: "Dange. Abdredn." So ungefähr. Und der Staatsanwalt in München -- der rechtsbeugende Jurist hieß Eugen Nepomuk Joseph Freiherr von Sartor auf Gansheim, geboren 1857 in Eichstätt, später Landgerichtsdirektor in München; wann er gestorben ist, ließ sich nicht feststellen -- konnte Anklage erheben. Auch das Urteil des Landgerichts München I vom 30. April 1895 war eine Rechtsbeugung. Selbst nach den damals geltenden, weit strengeren Vorschriften des Strafgesetzbuches hätte Panizza schon mangels relevanter Verbreitung seines Werkes im Inland nicht verurteilt werden dürfen. Aber Panizza befand sich in aussichtsloser Position. Nachdem zwei renommierte Anwälte die Verteidigung abgelehnt hatten, übernahm diese eine offensichtliche juristische "Flasche" namens Dr. Kugelmann, arbeitete aber eher dem Staatsanwalt in die Hände. Und ich zweifle nicht -- das ist natürlich nirgendwo dokumentiert, weil es wohlweislich nicht aufgeschrieben wurde --, daß das Erzbischöfliche Ordinariat hinten herum das Gericht und die Geschworenen beeinflußte. (Etwas in der Art gibt es ja heute noch in Bayern: Wenn man an den privaten Kontakt Kardinal Ratzingers mit dem Ministerpräsidenten Stoiber in Sachen Abtreibungsrecht denkt.) Panizza wurde zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt, die er am 8. August 1895 in der Haftanstalt Amberg antreten und bis auf den letzten Tag absitzen mußte -- Jedem Straßenräuber wäre bei "guter Führung" das letzte Drittel der Strafe auf Bewährung ausgesetzt worden. Das Jahr Gefängnis zerbrach Panizza. Er kehrte -- nur zu gut verständlich -- angeekelt und gekränkt dem "Katholo-Morast" Bayern den Rücken, betrieb sogar seine Entlassung aus dem (damals neben der Reichs-Staatsbürgerschaft noch existierenden) bayerischen Staatsverband. Er wurde staatenlos, siedelte zunächst in Zürich, nach Schwierigkeiten mit der Polizei dort (wegen Kontaktes mit einer Prostituierten, in Wirklichkeit, weil die Züricher Polizei ihn für einen italienischen Anarchisten hielt) in Paris.

Es ist nicht zu verkennen, daß Panizzas literarische Produktionen in den knappen zahn Jahren bis zum endgültigen Zusammenbruch 1904 zunehmend monomanisch, eigensinnig (selbst in der hartnäckigen Privat-Orthographie) und verbissen wurde. Mithilfe eines deutschen Mäzens, eines Barons von Grote, gab er seine Zürcher Diskußjonen heraus, unregelmäßig erscheinende Hefte von wechselndem Umfang, deren Beiträge nahezu alle von Panizza selber geschrieben wurden. Es waren Rundumschläge subjektivster Natur. In Paris fühlte er sich als Emigrant wie Heinrich Heine und schoß sich auf Kaiser Wilhelm II. ein, eine wahrhafte historische Witzfigur, jedes Spottes wert, aber Panizzas Angriffe waren so unqualifiziert, daß sie jede politische Wirkung verloren. In seinen Parisjana und in anderen Werken dieser Zeit zog sich Panizza, wie Michael Bauer in seiner 1984 erschienenen vorzüglichen Panizza-Biographie schreibt, "in ein Gedankengebäude zurück, dessen innere Struktur der Logik Außenstehender nicht mehr zugänglich war."

Aber zugänglich dem Staatsanwalt Panizza geriet -- in Abwesenheit -- wieder in die Mühlen der deutschen Justiz. Sein Vermögen in Deutschland (die sehr hohe Summe von 185.000 Mark) wurde beschlagnahmt, obwohl ein Verfahren gegen ihn aus formalen Gründen eingestellt werden mußte. Also wieder eine Rechtsbeugung zu Lasten Panizzas. Panizza lebte aber nun in Paris ohne Ressourcen. Die Familie verweigerte dem schwarzen Schaf jede Unterstützung. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als nach Deutschland zurückzukehren, sich der Polizei zu stellen. Das war am 13. April 1901, dem Karfreitag des Jahres. Panizza kam in Haft, dann in die geschlossene Kreisirrenanstalt -- als Ironie des Weltgeistes, über dessen Geschmack man streiten kann, eben in jene Anstalt, in der er vor zwanzig Jahren als Assistenzarzt Dienst getan hatte -- und wurde vom Landgericht München I für paranoid und unzurechnungsfähig erklärt. Zu seinem Erstaunen wurde er ohne Vorankündigung entlassen. Die bayerische Justiz entledigte sich des Unbequemen, der sichtlich am Ende seiner Kräfte war, sozusagen auf dem kalten Wege. Panizza kehrte für kurze Zeit nach Paris zurück, kam aber dann doch wieder nach München, wo er teils nörgelnd, streitsüchtig, teils eremitisch-bummelnd, jedenfalls aber ohne Kontakte zu seinen früheren Kreisen, lebte, bis er am 19. Oktober 1904 seine Einweisung in die Heilanstalt dadurch provozierte, daß er in Unterwäsche von der Werneckstraße bis zum Siegestor spazierte.

Den Rest seines Lebens (er starb am 28. September 1921) verbrachte Panizza nicht in einem Irrenhaus, wie vielfach zu lesen ist, sondern von 1907 an (nach vorübergehenden Aufenthalten in anderen Anstalten) in dem durchaus als luxoriös zu bezeichnenden Herz- und Kreislaufkrankenhaus "Mainschloß Herzogshöhe" in Bayreuth. Noch 1905 wurde er entmündigt. Das scheint Panizza nicht mehr berührt zu haben, auch nicht die Querelen über sein Vermögen und über die Finanzierung seines Aufenthalts, die wohl eher widerwillig die Familie übernahm. Da das "Mainschloß" keine geschlossene Anstalt war und kein Ausbruchsversuch Panizzas oder sonstige Renitenz bekannt ist, muß man davon ausgehen, daß er freiwillig blieb -- sofern von einem Willen bei der gebrochenen Seele dieses Mannes zu dieser Zeit noch die Rede sein konnte.

Über die akuten Krankheitsursachen ist viel geschrieben worden. Mit naheliegenden Bezug auf das Liebeskonzil wird vielfach davon ausgegangen, daß Panizza Syphilitiker war, er selber hat gelegentlich damit -- man kann es nicht anders sagen -- kokettiert. Es scheint aber nicht der Fall gewesen zu sein. Ob die Diagnose der Gutachten, die der Entmündigung zugrundegelegt wurden -- hereditär bedingte Paranoia -- zutraf, wird wohl nie mehr festzustellen sein. Es wird behauptet, Panizza habe noch im Sanatorium geschrieben, und zwar die fünf Dialoge mit Geisteskranken. Dies geht aus einem Vermerk von fremder Hand auf dem Manuskript hervor: "1905/1905 Herzogshöhe"; 1905 war aber Panizza noch nicht im Sanatorium Mainschloß-Herzogshöhe. Die Nachricht ist also dubios. Erwiesen ist dagegen, daß Panizza in der Zeit seines Sanatoriumsaufenthaltes viel zeichnete. Einige der Zeichnungen sind erhalten, wurden inzwischen veröffentlicht. Sie zeugen, von keinem Genie, scheinen vielmehr darauf hinzudeuten, daß Panizzas Geist nun tatsächlich umnachtet war, wie immer man die Geisteskrankheit fachlich einzuordnen hat.

Die letzte sicher datierbare schriftliche Äußerung Panizzas stammt von 1906. Darin verfügt er, daß verschiedenen Institutionen -- unter anderem der Staatsbibliothek in München -- je 200 Millionen Reichsmark zu überweisen seien. Er unterschrieb mit ". . . hochachtungsvoll grüßend, Otto Fürst von Bismarck."

Die Wertungen des Werkes Oskar Panizzas sind bunt wie die Figur ihres Schöpfers. Von Fontane bis Achternbusch haben sich viele mehr oder weniger bedeutende Literaten zu Panizza geäußert. Er galt dem einen als bewunderungswürdiger Libertin, dem anderen als quasi neuer Heinrich Heine, als protestanischer Dickschädel, als sozialer Winkelried. Sicher erscheint mir, wie eingangs vermerkt, daß die Qualität seiner Werke -- der formalästhetische Gehalt, die Proportion der Gedanken -- kein literaturhistorisches Aufsehen rechtfertigen. Aber allein das himmelschreiende Unrecht (sofern man beim Atheisten Panizza, und als solcher hat er sich selber bezeichnet, vom Himmel sprechen darf), das die damalige bayerische Justiz -- eine verrottete, ultramontan korrumpierte Maschinerie -- an Oskar Panizza verübte, rechtfertigt, daß sein Andenken bewahrt wird.

Und mit Sicherheit war, und so verstand er sich selber, Oskar Panizza ein glühender Moralist. Nur wußte er nicht, welche Moral er vertrat. Vielleicht führte dieser Umstand dazu, daß sein Geist zerriß.

Literatur:

  1. Michael Bauer: Oskar Panizza -- Ein literarisches Portrait, München 1984.
  2. Oskar Panizza: Das Liebenskonzil und andere Schriften (biographisches Nachwort von Hans Prescher), Neuwied 1964.
  3. Oskar Panizza: Das Liebeskonzil, dageboten von Joseph Berlinger, München 1990.
  4. Oskar Panizza: Neues aus dem Hexenkessel der Wahnsinns-Fanatiker. Hg. Michael Bauer, Darmstadt 1986.
  5. Oskar Panizza: Deutsche Thesen gegen den Papst und seine Dunkelmänner, Berlin 1940 (!).
  6. Oskar Panizza: Abschied von München. Ein Handschlag, München 1979.
  7. Isabel Geigenberger: Was wollte Oskar Panizza als Moralist ? Hauptseminararbeit, Ms., LMU 1995.
  8. Programmheft der Oper Luzifer von Franz Hummel, Text von Christian Fuchs, Ulmer Theater 1987.

Copyright © 1996, Herbert Rosendorfer


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