Rolf Urs Ringger

Weltgeist an der Scheuchzerstrasse
Ferruccio Busonis Zürcher Exil

© Neue Zürcher Zeitung 19.08.1999

 

Der Musiker Ferruccio Busoni (1866-1924) lebte während des Ersten Weltkrieges in einem Bürgerhaus an der Scheuchzerstrasse 36. Wo heute Ziegel lagern, entstanden etliche seiner Werke - so Teile der Musik zum «Doktor Faust» und die Pantomime-Szene «Das Wandbild» - und gingen andere temporäre Wahlzürcher wie Franz Werfel oder Paul Cassirer ein und aus. Zusammen mit Volkmar Andreae brachte Busoni didaktische, aber auch abwechslungsreiche Programme in die Tonhalle.
Eine dunkle Platte mit Kopfprofil des Künstlers an der Fassade, links der Haustüre, hält fest: Hier wohnte Ferruccio Busoni (1866-1924) in der Zeit von- 1915 bis 1919. Unterzeichnet mit «Seine Freunde». Wer diese heutzutage wohl sein könnten? Denn selbst Musikfreunden ist dieser Name nicht mehr allzu geläufig.
Ferruccio Busoni, der Deutsch-Italiener von Geburt, Weltmann von Neigung und geistiger Orientierung, suchte gern die Schweiz als Exil während des Ersten Weltkrieges auf. Hier hatte er Auftrittsmöglighkeiten in der Tonhalle (und in anderen Schweizer Städten) und vor allem Ruhe zum Komponieren. Neben seinen legendären Klavierrezitals trat er als Dirigent auf; oftmals musste er auch Volkmar Andreae vertreten, der als hoher Offizier in der Schweizer Armee im Dienste Stand, Busonis Vielseitigkeit wurde auch in Zürich geschätzt: als Interpret, als Lehrender, vor allem auch als Inspirator.
 

Belebtes Klima

 

Das belebte Zürcher Klima jener Jahre muss für Busoni günstig gewesen sein. Hier entstanden neben anderem das «Indianische Tagebuch» für Klavier, die Suite aus der Oper «Die Brautwahl», die «Sonatina in Diem Nativitatis MCMXVII», das Klarinetten-Concertino op. 48, Dichtung und Teile der Musik zu «Doktor Faust». Im Stadttheater Zürich wurden am 11. Mai 1917 die Opern «Arlecchino» und «Turandot» uraufgeführt. Hier schrieb Busoni für seinen Freund Othmar Schoeck die Pantomime-Szene «Das Wandbild». 1919 ernannte die Universität Zürich Busoni zum Ehrendoktor der Philosophie.
Scheuchzerstrasse 36 - das war eine international bekannte Adresse. Das fünfgeschossige, graue westliche Eckhaus zum Turnersteig hin, Zeugnis bürgerlicher Stabilität der Jahrhundertwende, hat nicht mehr die Allüre von einst. Ein Dachdeckergeschäft deponiert heute auf dem Vorplatz Ziegel in grossen Mengen.
Busoni fiel auch als Erscheinung im Zürcher Stadtbild auf. Grossgewachsen, edlen Hauptes, war er stets begleitet von seinem Bernhardinerhund Giotto. Der fast tägliche Spaziergang führte zum Hauptbahnhof, wo die Restauration auch unter den Säulen auf der Limmatseite stattfand. Musse und ein Neuenburger Weisser waren ihm dort sicher. Es existieren Speisekarten des Zürcher Bahnhofbuffets mit Busonis Skizzen zur «Faust»-Oper. An der Scheuchzerstrasse hielten die Busonis hof und einen eigentlichen Salon. Auch Franz Werfel, Stefan Zweig, Paul Cassirer, Tilla Durieux verkehrten als temporäre Wahlzürcher dort. Die Sprechrolle des Arlecchino spielte bei der Uraufführung Alexander Moissi.
 

Busonis Vertraute

 

Auf Busoni in Zürich nachdrücklich hingewiesen wurde ich pikanterweise in Florenz - durch Gisella Selden-Goth, eine vermögende Sammlerin, Musikschriftstellerin, Komponistin. Sie schilderte mir Episoden aus dem Zürcher Musikleben jener Jahre, die in keinem Buch nachzulesen sind. Jahrgängerin und einst Jugendfreundin von Béla Bartok in Budapest, hatte sie, wie Busoni, den Ersten Weltkrieg in Zürich überdauert - und wurde auch in der Tonhalle-Gesellschaft aufgeführt. Sie war Busonis Schülerin, Sekretärin, Vertraute - mehr bestimmt nicht. Denn das harmoniesüchtige Auge des Meisters erfreute sich damals eher an Jünglingen denn an Zudienerinnen.
Zur Scheuchzerstrasse 36 heute: Mit Ferruccio Busoni ging hier en miniature für einige Zeit zweifellos Weltgeist ein und aus. Heutzutage scheint da Kleinkrämerei zu walten. Eine Affiche an der Haustüre verbietet Reklame kategorisch «für das ganze Haus».
 

Didaktische Programme

 

Ferruccio Busoni gab in Zürich ein frühes Beispiel von didaktisch strukturierten Konzertprogrammen. Ein Tonhalle-Zyklus hiess im Frühjahr 1919 «Die Entwicklung des Klavierkonzertes». Zusammen mit Volkmar Andreae bot Busoni Werke von Bach, Mozart, Hummel, Beethoven, Schumann, Mendeissohn, Weber, Saint-Saëns, Brahms, Liszt, Rubinstein und schliesslich auch sein eigenes, riesenhaftes Konzert für Klavier, Orchester und Männerchor auf einen Text des dänischen Dichters Adam Gottlob Oehlenschläger. Das ist übrigens das Werk von Busoni, das heutzutage, auch auf CD, noch am ehesten anzutreffen ist.
Und wie als Gegensatz zur sanften Lehrhaftigkeit sorgte er, ebenfalls in Zürich, auch für reine Unterhaltung und Abwechslung etwa mit einer Folge wie. Zweite Sinfonie von Sibelius, eine Mozartsche Konzertarie, Tschaikowskys Violinkonzert und schliesslich der «Feuerzauber» aus «Walküre», Hans Heinz Stuckenschmidt hat in seiner klugen Busoni-Biographie von 1967 (Atlantis, Zürich) auf solche Keckheiten hingewiesen. Zürich braucht sich als Musikstadt solcher Vergangenheit nicht zu schämen.