Hans Heinz Stuckenschmidt

BUSONI IN ZÜRICH

Nach Amerika begleitete ihn Gerda mit den beiden Söhnen, von denen Benvenuto, der in Boston geboren war, das Anrecht auf amerikanische Staatsbürgerschaft hatte. Nach Absolvierung der Tournee, die im April endete, blieb Busoni noch einige Zeit mit der Familie in New York. Erst im Septembcr fuhr er mit Gerda und Raffaelo, dem jüngeren Sohn, heim wärts. Sie nahmen ein italienisches Schiff, landeten in Genua, reisten aber nicht nach Bologna, weil sich dort die Dinge ungünstig entwickelt hatten. An wichtigen Kompositionen entstanden in den ersten Kriegsjahren die Dritte Sonatine "ad usum infantis" und ein Teil der indianisch inspirierten Werke. Unter den literarischen Arbeiten ist ein Geleitwort für die Novellen E. T. A. Hoffmanns und eine Glosse: "Zur Frage musikalischer Eigenart".
Angesichts der immer bedrohlicheren internationalen Lage faßte Busoni im Oktober 1915 einen schwerwiegenden Entschluß. Er fuhr nach Zürich, suchte den ihm gut bekannten Volkmar Andreae auf und bat durch ihn die Schweiz um Asyl. Andreae war nicht nur ein fruchtbarer Komponist, sondern damals auch Direktor des Zürcher Konservatoriums und Erster Dirigent der Tonhalle-Gesellschaft. Er schilderte 1926, als man an Busonis Zürcher Haus eine Gedenktafel anbrachte, diese Begegnung:

Vorher hatte ich Busoni nur als Künstler und geistvollen Menschen gekannt. Hier kam er als ein Mensch, der, von den Kriegswirren gehetzt, tränenden Auges um Hilfe bat. Noch selten hat mich ein Ereignis so ergriffen und zugleich erfreut: ergriffen durch die Unbeholfenheit dieses großen Mannes, erfreut, Busoni nunmehr den Unsrigen nennen zu können.

Die Schweizer Jahre brachten dem heimatlos gewordenen Busoni ein reiches Maß an Arbeit, aber auch an Freundschaften und geistigem Austausch. Er fand bald eine Wohnung in der Scheuchzerstraße, die ein Treffpunkt von Künstlern und Intellektuellen aus aller Welt wurde. Als Andreae 1916 Offiziersdienst leisten mußte, übertrug er die Leitung seiner Abonnementskonzerte im Februar, März rmd April Ferruccio Busoni, der auch an dem ersten dieser Abende im Januar als Spieler seiner eigenen "Indianischen Fantasie" für Klavier und Orchester aufgetreten war. Busoni widmete das Februar-Konzert Werken von Liszt, wobei sein Lieblingsschüler Egon Petri das A-Dur-Konzert spielte. Er überraschte seine Freunde im März mit einem Programm, das auf die Zweite Symphonie von Sibelius eine Mozart-Konzert-Arie und Tschaikowskijs Violinkonzert folgen ließ und mit Wotans Abschied und Feuerzauber aus Wagners "Walküre" endete. Sein drittes Programm brachte das eigene "Rondeau harlequinesque", umrahmt von Mendelssohn, Mozart und Berlioz. Das vierte Programm wurde mit Beethovens Eroica beschlossen.
Auch der Pianist Busoni kam in dieser Frühjahrssaison 1916 bedeutsam zu Wort. Vier Klavierabende im Abstand von ein bis zwei Wochen waren jeweils Werken von Bach, Beethoven, Chopin und Liszt gewidmet. "Busoni liebte die Romantiker nicht", schreibt in einem Brief sein späterer Kompositionsschüler Robert Blum, der keines der Züricher Konzerte versäumte, "und trotzdem spielte er, so wie ich es empfand, überaus vollendet romantische Musik."
Noch war die Verbindung mit Italien nicht unterbrochen. Busoni spielte erfolgreich in Rom und verbrachte den Juni 1916 als Hausgast des Marchese Silvio Casanova in San Remigio. Dort traf er den Maler Umberto Boccioni, dessen Bilder ihn schon bei einer Londoner Ausstellung 1912 gefesselt hatten und der nun Busonis Porträt malte. Es war eines seiner letzten Werke. Im Juli wurde er Soldat und starb im Dienst infolge eines Sturzes vom Pferd.
Die Zürcher Jahre waren reich auch an schöpferischer Tätigkeit. Das Hauptwerk, das 1916 hier vollendet wurde, war die Oper "Arlecchino". Schon in einem Brief aus Bergamo vom September 1913 erwähnte Busoni, er habe die Skizze dazu dem Freunde Emilio Anzoletti gezeigt. Die Komposition wurde 1914 begonnen und im wesentlichen 1916 in Zürich beendet. Das Zürcher Stadttheater nahm das Werk zur Uraufführung an, sah aber ein Problem darin, daß es nicht abendfüllend war. So entschloß sich Busoni, die alte Idee einer Turandot-Oper wiederaufzunehmen. Die Arbeit wurde in drei Monaten beendet, so daß nun beide Werke am 11. Mai 1917 zur Aufführung kommen konnten. Die Sprechrolle des Arlecchino spielte Alexander Moissi, Busoni dirigierte, Regie führte Hans Rogorsch. Der Uraufführungsabend brachte einen starken Erfolg; das Theater war von vielen Weg- und Schicksalsgenossen besucht, die Busonis Beispiel gefolgt waren und in Zürich ein friedliches Exil gefunden hatten. Nach der Premiere versammelten sich Busoni und seine Freunde in der Kronenhalle, wo auch die Mitglieder des in Zürich gastierenden Max-Reinhardt-Theaters erschienen. Im Nebenraum saß einsam und verbittert Frank Wedekind und weigerte sich, an der Feier teilzunehmen. Schließlich setzte sich Busoni zu ihm und hellte Wedekinds böse Stimmung durch ein langes Gespräch auf. Die Szene hat Wolfgang Hartmann in einem Erinnerungsblatt beschrieben, wo auch zu lesen ist, wer alles zu Busonis Zürcher Kreis gehörte: der Dirigent Oskar Fried, die Dichter Franz Werfel, René Schickele, Ludwig Rubiner, Leonhard Frank und Iwan Goll. Auch Stefan Zweig, Fritz von Unruh, der Berliner Verleger Paul Cassirer und seine Frau, die Schauspielerin Tilla Durieux wohnten damals in Zürich.
Zu der Musikerschar, die sich um Busoni versammelte, gehörten Philipp Jarnach, seine spätere Biographin Gisella Selden-Goth und der Komponist Reinhold Laquai.
Trotz aller Freundschaft und allem Frieden, die Busoni mit seiner Familie hier genoß, war er doch in der Schweiz nicht eigentlich glücklich. Der Gedanke, daß Italien, sein Vaterland, und Deutschland, seine geistige Heimat, miteinander Krieg führten, war ihm nahezu unerträglich. Er fühlte sich hüben und drüben unverstanden oder doch mißverstanden und war zerrissen zwischen zwei Sehnsüchten, die sich nicht erfüllen ließen. Ohne seine große Berliner Bibliothek leben zu müssen, war für ihn ein schweres Opfer. Er baute sich in Zürich eine kleinere zweite auf, die einige für ihn unentbehrliche Bücher enthielt. So war der fünfzigste Geburtstag, "dieser fatale Tag", den er am 1. April 1916 in Zürich verlebte, kein Fest für ihn. Seine Freunde haben geschildert, wie er oft einsam, nur von dem großen Bernhardiner "Giotto" begleitet, zum Hauptbahnhof promenierte und dort im Restaurant Neuchateler Wein trank, sehnsüchtig auf die Züge horchend, die nach Deutschland oder Italien fuhren.
Busoni nahm an den künstlerischen Ereignissen dieser Jahre als kritischer Beobachter teil. Er saß in dem neueröffneten Cabaret Voltaire, wo Richard Hülsenbeck, Tristan Tzara, Iwan Goll, Hugo Ball, Hans Arp, Emmy Hennings die ersten dadaistischen Texte lasen, fand aber an "dieser gestammelten Dichtung" keinen Gefallen. Er kreuzte geistig die Klingen mit Igor Strawinskij, den er damals noch nicht kannte und von dem ihm aus Morges am Genfersee berichtet wurde, er sei erstaunt, daß Busoni die deutschen Klassiker liebe. Er ließ Strawinskij bestellen, wenn er die deutschen Klassiker kennen würde, so würde er sie auch lieben.
Seine Konzerttätigkeit blieb nicht auf Zürich beschränkt. Mit Basel verbanden ihn alte freundschaftliche Beziehungen, namentlich zu Hans Huber. Er stand mit dem von ihm hochgeschätzten Mann in einem Briefwechsel, der musikalische und literarische Fragen berührte und einen bitteren Ton annahm, als im September 1916 Italien Deutschland den Krieg erklärte. Auf Vermittlung Hubers gab er vom 12. Januar bis 2.Februar 1917 vier Klavierabende im Basler Neuen Konzertsaal mit gemischten Programmen; im Februar und März 1918 setzte er den Zyklus mit drei Abenden fort.
Zu den Sorgen der Kriegsjahre gehörte auch die Einberufung Benvenutos zur amerikanischen Armee. Weihnachten 1917 hatte er dem in Amerika verbliebenen Sohn die vierte seiner Klaviersonatinen gewidmet. Weihnachten war ein Fest, an dem er mehr hing als die meisten seiner Landsleute. Schon 1909 hatte er eine "Nuit de Noel" geschrieben. Die Sonatine, am 22. Dezember beendet, trägt den Namen: "Sonatina in Diem nativitatis Christi 1917". Doch die Hauptarbeit galt dem großen Werk, das unvollendet blieb, dem "Doktor Faust". Busoni sagt darüber: "Wie in einem Fieber, und in sechs Tagen, schrieb ich den ersten Entwurf des Doktor Faust nieder, zwischen dem Ausbruch des Krieges und den Vorbereitungen zu einer Ozeanfahrt gegen Ende 1914." In den Briefen, die während der Konzerttournee 1915 aus verschiedenen amerikanischen Städten an Gerda geschrieben wurden, ist immer wieder von seinem "Faust" die Rede. Aber erst in der Schweiz kam die Komposition voran. "In diesem Augenblick... habe ich den letzten Takt des I. Bildes meiner vierten Oper niedergeschrieben!", heißt es in einem Brief aus Zürich am 29. September 1917. Und an Volkmar Andreae schickte er im Januar 1919 die Vollzugsmeldung über die Komposition der beiden Orchesterstücke aus "Doktor Faust" in Form einer Annonce:

Die Verlobung ihrer Tochter
Sarabande
mit
M. Cortege
beehren sich anzuzeigen
Ferruccio Busoni und Muse
Zürich Januar 1919 Empoli

Endlich war im November 1918 der Krieg beendet. Busoni zögerte, in das politisch und wirtschaftlich zerrissene Nachkriegsdeutschland zurückzukehren. Noch einmal gab er vom Februar bis April 1919 fünfpopulären Konzerten der Tonhalle-Gesellschaft den Stempel seines Geistes. Unter Leitung Volkmar Andreaes spielte er einen Zyklus: "Die Entwicklung des Klavierkonzertes". Jede der insgesamt vierzehn Programm-Nummern sah ihn als Solisten am Klavier, wobei Werke von Bach, Mozart, Hummel, Beethoven, Schumann, Mendelssohn, Weber, Saint-Saëns, Brahms, Liszt, Rubinstein und zum Abschluß Busonis eigenes Konzert für Klavier, Orchester und Männerchor zur Wiedergabe kamen.
Unter den literarischen Arbeiten der Züricher Jahre war eine dramatische Szene nebst Pantomime, "Das Wandbild", die Philipp Jarnach gewidmet ist und von Othmar Schoeck komponiert wurde. Gegen Hans Pfitzners Broschüre "Futuristen-Gefahr", eine gehässige Erwiderung auf Busonis 1916 als Insel-Büchlein erschienenen Entwurf, wehrte er sich in einem offenen Brief, den 1917 die Vossische Zeitung so mutig war zu veröffentlichen.
Bald nach dem Krieg nahm Busoni seine internationale Konzerttätigkeit wieder auf. Er wurde nach Paris und London gerufen, spielte mit großem Erfolg, traf alte Freunde wieder und berichtete in einem seiner vielen Briefe an Gerda von dem Nachmittag, an dem Bernhard Shaw ihn besuchte. Sie sprachen über Mozart, Wagner und Elgar.
Im Herbst 1919 kam eine Anfrage von Leo Kestenberg aus Berlin. Er bot ihm eine Meisterklasse an der Preußischen Akademie der Künste an, die Busoni sechs Monate jährlich Reiseurlaub gab. Er zögerte, die Schweiz zu verlassen. Im Juli hatte ihm die Zürcher Universität den Ehrendoktor der Philosophie verliehen, was er durch die Widmung des Textbuches zum "Doktor Faust" erwiderte. Dennoch entschloß er sich endlich, nach Berlin zurückzukehren, wo er Wohnung, Klaviere und Bibliothek zurückgelassen hatte. Im September 1920 kam er zurück an den Viktoria-Luise-Platz und fand die Wohnung unberührt. Noch im November gab er zwei Konzerte in der überfüllten Philharmonie. Er hörte Eduard Erdmann sein Klavierkonzert spielen, gab ein Konzert in Hamburg und begann sich an das düstere Leben in Berlin zu gewöhnen. Im Januar 1921 waren drei philharmonische Konzerte, die "Der Anbruch" organisierte, seinen Werken gewidmet. Die Arbeit mit den Schülern begann. Busoni hatte fünf angenommen: die Schweizer Luc Balmer, Robert Blum und Walther Geiser, den Russen Wladimir Vogel und den Deutschen Kurt Weill. Die "Musikblätter des Anbruch", modernistische Hauszeitschrift der Wiener Universal-Edition, widmeten ihre Januar-Doppelnummer Ferruccio Busoni. Dem Heft lag die Klavier-Toccata bei, die in den ersten Wochen des Berliner Aufenthaltes beendet worden war. Am 13. Mai brachte die Staatsoper Unter den Linden "Turandot" und "Arlecchino" unter musikalischer Leitung Leo Blechs heraus. Das Sonderheft der "Blätter der der Staatsoper" veröffentlichte Busonis heroisch-heiteres Sagenspiel "Die Götterbraut", eine individuelle Deutung der indischen Erzählung von Nala und Damayanti, als Libretto für Louis T. Gruenberg geschrieben und von diesem 1913 komponiert.
Nur im Februar hatte eine Reise ihn zu Konzerten nach London geführt. In Rom, wo man Busoni noch 1919 als deutschfreundlich ablehnte, wurde er nun Commendatore der Krone von Italien. Vor der Staatsopern-Premiere spielte er in Berlin unter Gustav Brecher an zwei Abenden sechs Klavierkonzerte von Mozart.