HOME PAGE
___________________________________________________________________________________________________________

HELLMUT PÖLLMANN

ERICH WOLFGANG KORNGOLD
ASPEKTE SEINES SCHAFFENS



Vorbemerkungen

Der Eindruck, den die Musik Erich Wolfgang Korngolds hinterläßt, ist der einer eigenartigen Gespaltenheit. Einer operettenhaften Leichtigkeit eindeutig Wienerischer Provenienz steht eine Überformung von lastender Schwere gegenüber: die des Erbes der sinfonischen Tradition. Eine Last, die sich in den klassischen Gattungen, einer romantischen Gefühligkeit und der Diktion der musikalischen Moderne Strauss'scher Prägung Ausdruck verschafft. Auf den ersten Blick ein schwerwiegender Vorwurf, einer, der mit dem Begriff des Eklektizismus zwar griffig, aber nur ungenau umschrieben ist. Denn diese Gespaltenheit sitzt tiefer als eine bloß eklektische Stilunsicherheit: sie hat - metaphorisch gesprochen - etwas von zwei Seelen, die in einer Brust wohnen, und das Problem, das es zu erhellen gilt, wäre demnach nicht nur ein musikalisch-stilistisches, sondern auch - und die Metapher sollte es andeuten - ein psychologisches. Daß die eigenartige Physiognomie der Korngoldschen Musik biographisch motiviert sein könnte, ist eine Überlegung, die sich zwar unmittelbar aufdrängt, aber den, der sie zu präzisieren versucht, in methodologische Verlegenheit bringt: sie nötigt ihm das ansonsten eher heikle, weil in Verruf geratene Verfahren auf, ästhetische durch biographische Momente interpretieren zu müssen.
Dem Vorwurf des Eklektizismus, der Vorstellung einer unpersönlichen stilistischen Beliebigkeit, steht auch der Umstand entgegen, daß die oben erwähnte Gespaltenheit der Musik Korngolds eine ungewöhnliche Individualität verleiht: nicht Austauschbarkeit und Verwechselbarkeit, sondern hoher Wiedererkennungswert ist ihr Merkmal - und ihr Problem zugleich. Denn dieses Kriterium ist ebenso wohlmeinend wie zweifelhaft: auch sogenannte Trivialmusik zeichnet sich durch auffällige personalstilistische Merkmale aus (zur Form des »Markenzeichens« verdinglicht) und man wird nicht urnhin können, die Musik Korngolds auch unter diesem Aspekt zu betrachten. Auffällig viele Momente ihrer Rezeption weisen Merkmale auf, die von der Unterhaltungsmusik her bekannt sind, und es ist nicht ganz abwegig, mit diesem Sachverhalt die Umstände ihrer ungewöhnlichen Geschichte in Zusammenhang zu bringen. Denn daß Korngold, der in den 1910er und 20er Jahren eine heute kaum mehr vorstellbare Popularität besaß, so schnell und gründlich vergessen werden konnte, ist ein Phänomen, das für die einen ebenso unerklärlich erscheint wie sein einstiger Erfolg für die anderen überraschend war.
Zu den musikalischen Gattungen hatte Korngold ein nicht genau zu bestimmendes Verhältnis. Einerseits verstand er sich als Opernkomponist, ein Selbstverständnis, das er mit den meisten Komponisten seines stilistischen Umfeldes (Schreker, d'Albert, Puccini) teilte, andererseits legte er eine Universalität an den Tag, die seinerzeit ungewöhnlich war und ihn von eben denselben Opernkomponisten unterschied - ein Merkmal, das ihn eher in die Nähe der Protagonisten der Neuen Musik rückt. Allerdings drängt sich der Verdacht auf, daß Korngold nur dann Kammermusik schrieb (und diese Gattung macht einen Großteil seiner kompositorischen Produktion aus), wenn ihm kein Textbuch für eine neue Oper zur Verfügung stand.
Zwar ist Die tote Stadt nicht Korngolds einzige Oper, jedoch ist ihre Rolle als Hauptwerk in seinem Opernschaffen unbestritten - sowohl im populären Urteil, für das Korngold schlechthin mit dieser Oper identifiziert wird, als auch im musikwissenschaftlichen. Der Ring des Polykrates (1915) ist ein selbst vom Korngold-Apologeten Rudolf St. Hoffmann so bezeichneter primitiver, um nicht zu sagen kindlicher Vorwurf während die Violanta (1915) eine in mancherlei Hinsicht der Mode ihrer Entstehungszeit (Einakter, Renaissancedrama) verpflichtete Oper ist, auch wenn sie, so wie Der Ring des Polykrates noch auf den Schneemann zurückgreift, schon auf Die Tote Stadt (1920) vorausweist. Und so wie die Violanta eine Vorläuferin ihrer berühmteren Nachfolgerin darstellt, gewissermaßen eine Fingerübung, so muß man Das Wunder der Heliane (1927) als Nachzüglerin, wenn nicht als Doublette zu jener betrachten, die außer einer verschärft dissonierenden Harmonik, die man als Reaktion auf die damals nicht mehr zu überhörende Neue Musik ansehen muß, kaum eine Weiterentwicklung erkennen läßt.
Was Die Katrin (1938) betrifft, so läßt sich über diese Oper, außer daß sie das Dilemma um ein Libretto widerspiegelt, das durch politische Rücksichtnahmen und Änderungen entstellt ist, kaum eine Feststellung treffen (wie auch über die Komödie mit Musik Die stumme Serenade, 1946), die außer der Partitur auch eine Rezeption, die ihr Geltung verschafft hätte, einschließt. Von diesen Bühnenwerken hat es außer den Uraufführungen (Die Katrin 1939 in Stockholm, Die stumme Serenade 1954 in Dortmund) keine Aufführungen mehr gegeben - oder so wenige, daß sie rezeptionsgeschichtlich nicht ins Gewicht fallen. Mit den Opern Korngolds, deren opus rnagnum Die tote Stadt darstellt, verhält es sich wie mit denen von Leoncavallo, Mascagni oder Bizet: einem erfolgreichen Wurf stehen andere gegenüber, denen das Zusammentreffen mehrerer Umstände, die sich als glücklich erwiesen hätten (librettistischer, stilistischer, rezeptionsgeschichtlicher Art), versagt blieb.
Auch Korngold scheint durch einen als folgerichtig empfundenen Weg von der Oper zum Film gefunden zu haben. Viele Komponisten seiner Generation kamen über die Bühne zum Film, nicht wenige auch, weil sie hier den Erfolg suchten, der ihnen dort verwehrt blieb. Zwar war Korngold auch beim Film äußerst erfolgreich, aber mehr aus Zufall, denn einem Vorsatz folgend. Er hat - und daran muß man gegen alle falsche Apologie festhalten - nur aus der Not des Exils heraus für den Film komponiert. Daß ihm dabei gleichwohl Bedeutendes gelang, lag - wie noch gezeigt werden soll - an der Unvoreingenommenheit, mit der er an diese Aufgabe herangegangen ist.
Keine Argumentation, auch nicht die schlüssigste, ist davor gefeit, in ihren Voraussetzungen angezweifelt zu werden. Wer versucht zu begründen, worin die Qualität der Filmmusiken Korngolds besteht, setzt voraus, daß sie eine solche besitzen. Diese wahrgenommene oder auch nur empfundene Qualität ist zunächst einmal nicht mehr als ein Vorurteil, und wer es nicht teilt, wird sich auch mit der Begründung dieses Vorurteils, der Umwandlung in ein Urteil, schwertun.
Im allgemeinen gilt Korngold als ein Filmkomponist, der zwar ein bis dahin alles überragendes satztechnisches Niveau in Hollywood eingeführt, die Entwicklung der Filmmusik jedoch auf ein Abstellgleis geführt hat. Jenes, auf dem sich echte oder verhinderte Opernkomponisten und eine Filmindustrie, die aus dem ästhetischen Prestige, das diese Komponisten genossen, zu einem filmmusikhistorischen Irrtum einfanden: das »Opernhafte«, das den von diesen Komponisten vertonten Filmen angeblich anhaftet, gilt als »unfilmisch«. Tatsächlich aber ist der Film in seiner vielfältigen Synthese so vielschichtig und chamäleonhaft in seiner Erscheinung und seinem Wesen, daß sich das, was dem Film gemäß sei und was nicht, oder was »filmisch« sei oder nicht, gar nicht auf einen Punkt bringen läßt.
Das Verhältnis zwischen Film und Musik, ist angeblich das einer einseitigen Abhängigkeit: einer Abhängigkeit in dem Sinne, daß die Musik dem Film unbedingt untergeordnet sein müsse, und die in nahezu der gesamten Filmmusikliteratur als in der Natur der Sache liegend, als dem Wesen des Films entsprechend angesehen wird. Eine Analyse der Filmmusiken Korngolds aber legt eine andere Auffassung nahe, eine, wonach beide durchaus als ebenbürtig, als in ästhetischer Hinsicht »kompatibel« zu betrachten sind. Immerhin ist die Musik dasjenige Element beim Zustandekommen der synthetischen Kunstgattung Film, das dem Film selbst wesensmäßig am nächsten steht. Denn so wie der Film alleine auch ohne Musik existenzfähig ist (es gibt genug Beispiele für ästhetisch überzeugende Filme, die ohne Musik auskommen), so ist die Musik, und zwar in Form der absoluten Musik, auch ohne Bebilderung (und sei es in imaginärer Form, als Programm) lebensfähig. Die Verbindung von beiden aber war für Korngold nur denkbar in einer Begegnung auf gleichem ästhetischem Niveau. Man braucht sich nur Filme wie The Adventures of Robin Hood oder The Sea Hawk ohne die Musik vorzustellen, um eine Ahnung davon zu bekommen, was aus der Verbindung einer - um es vorwegzunehmen - in höchstem Maße autonom gedachten Musik mit dem Film, für den sie geschrieben wurde, entsteht: ein filmmusikalisches Kunstwerk, bei dem beide Konstituenten, Film und Musik, gleichermaßen zu der Verwirklichung der Fabel beitragen.
Die ästhetische Verflechtung zwischen beiden ist in einem Maße unentwirrbar, daß es sich eigentlich nur in diesen und vergleichbaren Fällen gebietet, von Filmmusik (im Gegensatz zu Begleitmusik) zu sprechen. Und das ist umso frappierender, als die Musik, obwohl sie der gängigen Praxis entsprechend nachträglich zum Film komponiert wurde, derart mit diesem verwoben ist, daß auch heute noch der Eindruck vorherrscht, Film und Musik seien gleichzeitig und zusammen entstanden. Daß Korngold später tatsächlich schon im Drehbuchstadium Einfluß auf die musikdramaturgische Gestaltung genommen hat, zeigt nur, daß sein Konzept auch die Geschäftsleute überzeugt hat. Insofern lieferte Korngold Anschauung für eine Utopie, in der filmmusikalische Kunstwerke tatsächlich, und nicht nur dem Eindruck nach, als ein Ganzes erdacht werden und entstehen können.
Korngold hat keine Gelegenheit ausgelassen, dem Film den Rücken zu kehren. Und als der Krieg in Europa, den er insgeheim für seine Misere verantwortlich machte, zu Ende war, war das für ihn der lange herbeigesehnte Anlaß, sich wieder auf das zu konzentrieren, was er für seine eigentliche Berufung hielt. Sein Cellokonzert von 1946 wurde zwar noch für einen Film komponiert, war aber gleichzeitig schon für seine Rückkehr in die Konzertsäle gedacht. Für diese folgten dann noch einige weitere Werke, die zum Besten gehören, was Korngold geschrieben hat. Sein letzter Fehler war wahrscheinlich, daß er hoffte, nach dem Krieg in Europa wieder dort reüssieren zu können, wo er davor aufgehört hatte, nämlich auf der Bühne. Das mißlang. Wenn man heute bedenkt, daß die »tonangebende« Musik der Nachkriegsjahre in Europa eher eine des Konzertsaales als der Opernbühne war, dann hätten die später entstandenen Werke absoluter Musik wahrscheinlich mehr Erfolg versprochen.

DIE TOTE STADT
I -
II - III - IV - V
pp. 51-57

Der Roman Das tote Brügge (Bruges-la-morte) von Georges Rodenbach, der von ihm zu einem Drama mit dem Titel Das Trugbild (Le Mirage) verarbeitet wurde, welches wiederum der Toten Stadt zugrunde liegt, gilt nach literaturhistorischern Einverständnis als symbolistisch. Hugo Viane (in der Oper Paul) hat sich nach dem frühen Tod seiner geliebten Frau in die Stadt Brügge zurückgezogen, um sich dort zwischen alten Mauern und Grachten, vom realen Leben unbehelligt, einer Traumexistenz hingeben zu können. Mit alten Erinnerungsstücken, Bildern, Kleidern und einer Haarlocke, betreibt er einen Kult der Vergangenheit, zu dem nur eine Haushälterin und ein Freund - dieser kommt nur im Drama und in der Oper vor - Zugang haben. Auf einem seiner einsamen Spaziergänge lernt er Jane (Marietta) kennen, die seiner Toten bis aufs Haar (!) gleicht. Daß sie in ihrem Wesen aber einen Gegensatz zu der Verstorbenen ausbildet, birgt den dramatischen Konflikt: Hugo verfängt sich auf eine für ihn zunehmend unerträglicher werdende Weise in einem Widerspruch zwischen Realität und Traum, den er nur dadurch zu lösen vermag, daß er Jane letztlich erwürgt. Auf symbolistisch-beziehungsreiche Weise geschieht das mit der wichtigsten Reliquie, die er von seiner Toten besitzt: mit der Haarlocke. Nun sind beide auch innerlich gleich, nämlich tot.
Während Roman und Drama mit diesem Ausgleich, der Wiederherstellung des Ineins von Traum und Leben, enden, führt der Mord in der Oper zu einer Katharsis, einem heilsamen Schock, der Paul den Fehler seiner Traumverlorenheit erkennen läßt: er kehrt am Schluß, seinem Freund folgend, ins »Leben« zurück, was unter Vermeidung moralischer Komplikationen dadurch möglich ist, daß der Mord von Paul nicht tatsächlich begangen, sondern nur geträumt wird: zwei Drittel der Oper sind als Traumhandlung konzipiert.
Deshalb darauf zu schließen, daß es sich bei Korngolds Oper um eine symbolistische handelt - wie man es beispielsweise für Debussys Pelléas et Mélisande in Anspruch nimmt -, wäre übereilt. Wie auch bei Schreker machen sich eine ganze Reihe stilgeschichtlicher Einflüsse in dieser Oper bemerkbar und eine eindeutige Zuordnung unmöglich. Und gerade das Uneinheitliche, so scheint es, ist das charakteristischste Merkmal dieser Oper. Was sich einmal mehr mit der oft geäußerten Auffassung deckt, daß das spezifisch »Korngoldsche« paradox genug, genau darin besteht, daß es keinen bestimmten Stil ausprägte.
Schon beim Vergleich der literarischen Vorlagen gewinnt man den Eindruck, daß symbolistische Momente, die im Roman wirksam sind, seiner Dramatisierung zum Opfer fielen. Die für Hugo Viane übermächtige Allgegenwart seiner toten Frau, deren poetische Allegorie in der Stadt Brügge ihren Ausdruck findet, und die sich als episches Leitmotiv durch den gesamten Roman zieht, also essentiell ist, ist dialogisch nur akzidentiell zu vermitteln und muß dramatisch gar durch eine »Erscheinung« einen Bühnenzauber also, erfahrbar gemacht werden. Bezeichnenderweise kommt der Roman nahezu ohne Dialog aus, und daß im Drama unablässig gesprochen werden muß (was in der Natur der Sache liegt), verlagert den Akzent ohnehin von einem nach innen gekehrten, nur seiner Vergangenheit lebenden zu einem sich ständig mitteilenden, in die Nähe des Psychopathischen gerückten Hugo Viane. Die Aufstockung des Personals um Joris Borlunt, einen Freund Hugos (wenn auch der einzige, so doch, im Gegensatz zum Roman, überhaupt einer - wodurch die Einsamkeit Hugos zusätzlich relativiert wird), der als Spiegel für dessen Empfindungen und Erlebnisse dient, verweist Jane (die Marietta aus der Oper) gar vom Platz der zweiten Hauptrolle auf den der dritten. Die literarischästhetische Differenz von Epik und Dramatik wird in einem Umfang wirksam, der inhaltliche Verschiebungen zur Folge hat.
Nun ist der Symbolismus, der sich literarisch im unabwendbaren Einfluß einer mystischen Gewalt auf die Vorgänge äußert, von der musikalischen Metaphysik Wagners so weit nicht entfernt, wie Debussy meinte, als er sich mit seiner einzigen Oper gegen Wagner zu wenden glaubte. Wie das Orchester im »Drama aus dem Geiste der Musik« durch Allgegenwärtigkeit mit den Vorgängen auf der Bühne verwoben ist, so wird die Handlung in der symbolistischen Literatur von Einflüssen gelenkt, die auf die Betroffenen mit unabwendbarer Schicksalshaftigkeit einwirken. Den Symbolismus, wie er erst im späten 19. Jahrhundert »an der Zeit« war, mit Ideen der Musikdramatik zu verschränken, war naheliegend und für Schreker eine Möglichkeit, das Erbe Wagners nutzbar zu machen, ohne in Epigonalität zu verfallen. Und daß Korngold, wenn auch erst später, auf die gleiche Idee verfiel, rückt ihn näher zu Schreker, als es dem Vater, der aus seiner Abneigung gegen Schreker nie einen Hehl gemacht hatte, recht gewesen sein konnte.
Es läge also durchaus nahe, in der Oper jenen Aspekt von Symbolismus zu restituieren, der den Roman kennzeichnet und der im Drama von ihm abgezogen wurde. Tatsächlich gelingt es Korngold in dem Maße, in dem er sich Ideen des Musikdramas zu eigen macht, die Ideen von musikalischer Prosa und Orchestermelodie, ein Gewebe von Bezügen und Stimmungen über der Szene auszubreiten, das in seiner Wirkung der epischen Idee des Romans vergleichbar ist. Ohne daß man von einer Leitmotivtechnik im Wagnerschen Sinne sprechen könnte - die eigentlichen Leitmotive der Toten Stadt sind die zentralen Begriffe von Tod, Vergänglichkeit und Traumverlorenheit -, exponiert Korngold eine Reihe von Motiven und Themen, denen im Verlauf der Oper weniger die Entwicklung der Handlung anzumerken wären, als daß sie vielmehr fast alle auf die symbolistischen Begriffe und die von ihnen induzierten Stimmungen verweisen und sich in der zentralen Idee des ganzen Stückes gebündelt einfinden. Die musikalischen Motive bewegen sich gleichsam eine Ebene unterhalb der literarischen, als Verweise auf die eigentlichen. Vergleicht man zum Beispiel das Vergänglichkeits-Motiv mit dem Brügge-Thema*,
dann erkennt man sofort eine gewisse Ähnlichkeit, und zwar in zweierlei Hinsicht: die Intervalle sind annähernd gleich - und wenn man von der unterschiedlichen Rhythmisierung absieht, stellt man fest, daß das Vergänglichkeits-Motiv im Brügge-Thema aufgehoben ist - und ihre Bedeutungen sind nahezu austauschbar. Beide stehen sie für das unheimliche, traumverlorenapathische, das auf der Szene lastet. Das gleiche gilt auch für das Haar-Motiv, in dem das zentrale Intervall der beiden obigen Motive, die Quart, gebündelt erscheint, für die Auferweckungs-Akkorde und für das Motiv, das als klingendes Signet der Vision fungiert.
Mit diesen Motiven, die alle in Bedeutung und Stimmung auf die zentrale Idee des ganzen Stückes, der Unentrinnbarkeit von dem was kommen muß, gerichtet sind, wird ein Großteil der Partitur bestritten und die im Roman spürbare Allgegenwart eines dumpf lastenden und unausweichlich die Handlung lenkenden Geschickes hat in der Allgegenwart der Motive, die alle mehr oder weniger auf dieses Geschick verweisen, in der Oper ihr aus dem Orchestergraben tönendes Korrelat. Insofern haben die Motive und Themen eher den Charakter einer materialen Basis, von der aus, je nach den Forderungen der Szene, mit Beweglichkeit auf die jeweilige Situation reagiert werden kann.
Jetzt war es Abend... Ein feiner, kalter Regen fiel, ein Strichregen, der immer schnellerfloß und ihm mit Nadeln in die Seele stach... Hugo fühlte sich wieder besiegt, von ihrem Gesicht verfolgt, nach Janes Wohnung getrieben. Er ging abermals hin; als er in die Nähe kam, kehrte er wieder um. Ein plötzliches Bedürfnis nach Einsamkeit bemächtigte sich seiner; er fürchtete jetzt, sie möchte zu Hause sein und ihn erwarten, und er mochte sie nicht sehen.
Er schlug mit raschen Schritten die entgegengesetzte Richtung ein. Sein Wegführte ihn nach alten Stadtgegenden. Er wußte selbst nicht, wo er war, er ging unbestimmt und traurig durch den Straßenschmutz. Der Regen fiel immer schneller und haspelte seine Fäden ab, verstrickte sein Gewebe zu immer dichteren Maschen und wob ein ungreifbares triefendes Netz, in dem Hugos Seele allgemach zerfloß. Er begann wieder an die Vergangenheit zu denken... Er dachte an Jane. Was tat sie bei solchem trostlosen Wetter draußen? Er dachte an die Tote... O, was ward aus ihr? Aus ihrem armen Grabe... Kränze und Blumen wurden von dieser Regenflut gewiß vernichtet ...
Und die Glocken läuteten sofern und blaß! Wie fern war ihm die ganze Stadt! Es deuchte ihn, daß auch sie in der Auflösung begriffen, in dem alles überschwemmenden Regen ertrunken sei... Sie paßten gut, diese Trauerklänge! Für das tote Brügge läutete es von den höchsten noch überlebenden Glockentürmen herab. O, wie trüb fielen die Schläge! [Rodenbach, Das tote Brügge]
Die erste Szene des zweiten Bildes beginnt mit einem breit ausgeführten, mit großer orchestraler Geste gestalteten musikalischen Brügge-Bild, in dem die Auferweckungs-Akkorde und das Brügge-Thema mit tiefen Glocken übereinandergeschichtet den düster-unheimlichen Hintergrund für Pauls Räsonnernent über seine mißliche Lage abgeben. Die im Orchester erklingende Brügge-Stimmung drängt sich als Kommentar zu dessen Frage Was ward aus mir? auf und ist das musikalische Gegenstück zu einer Situation, die im Roman mehrere Kapitel in Anspruch nimmt und im Drama durch einen etwas wehleidigen Dialog, in dem sich Hugo seinem Freund Joris mitteilt, bewältigt werden muß.
Daß das Verfahren, das die Übertragung von Momenten des literarischen Symbolismus auf die Oper ermöglichte, andererseits aber auch veristische Implikationen enthält, ist weniger paradox, als es auf Anhieb erscheinen mag. Wird der Symbolismus in der Literatur gemeinhin als Gegenreaktion auf den Naturalismus interpretiert, so gilt das für die Oper keineswegs. Ideengeschichtlich stellt sich der Opernverismus eher als Variante des Exotismus dar, und daß eine Oper wie Cavalleria rusticana, die Geburtsurkunde des Verismo auf der Opernbühne, nahezu nichts mehr mit dem gemein hat, was an seiner literarischen Vorlage veristisch ist, gehört zu den Verwirrungen, die eine Nomenklatur hervorruft, die sich ihrem Gegenstand gegenüber verselbständigt hat. Nimmt man aber den Opernverismus so, wie er sich um die jahrhundertwende darstellte, und nicht, wie er hätte sein sollen, wenn er auf den literarischen Verismo (oder Naturalismus) rückzubeziehen wäre, dann kann man auch in der Toten Stadt einige Merkmale dingfest machen, die sie den veristischen Opern an die Seite stellt.
Die mystische Gewalt über die Vorgänge, die von der toten Stadt ausgeht, ist nicht nur ein symbolistisches Motiv, sondern stellt, anders akzentuiert, auch ein Stück Milieuschilderung im veristischen Sinne dar. Hat man von Charpentiers Louise behauptet, daß Paris darin die eigentliche Hauptrolle spiele, so könnte man mit etwas Übertreibung behaupten, daß Brügge in der Toten Stadt die gleiche Rolle zukäme. Daß die handelnden Personen so sind und handeln, wie es ihre Umgebung, ihr Milieu zuläßt, kann symbolistisch und veristisch gedeutet werden. Wenngleich, und da liegt der entscheidende Unterschied, das symbolistische Moment in einer tieferen Schicht, gleichsam unter der sichtbaren Oberfläche wirksam ist, während der opernveristische Akzent mehr auf dem Exotisch-Pittoresken der Szenerie, also an der Oberfläche, liegt. Und was sich im Symbolismus als künstlerische Uberhöhung psychoanalytisch deutbarer Abgründe ausnimmt, findet im Opernverismus nicht selten als psychologisch-soziale Pikanterie seinen Niederschlag.
In diesem Sinne changiert auch das Verhältnis von Paul und Marietta in der Oper gelegentlich zwischen einem aus dem Geiste psychoanalytischer Traumdeutung empfundenen und einem, das eher der künstlichen Alltäglichkeit des Naturalismus anzugehören scheint (wie z. B. in der Eifersuchtsszene im 2. Bild, 4. Szene). Daß Paul in seiner sich der Realität verschließenden Verblendung in Marietta seine verstorbene Frau Marie sieht, gehört als Handlungsfolie der Sphäre des Symbolismus an, während die Rivalität mit seinem Freund Frank, der ebenfalls mit Marietta ein Verhältnis hat (was im Drama nicht zutrifft, sondern von jane nur erfunden wird, um Hugo eifersüchtig zu machen - eben nur eine Finte aus der Trickkiste der Psychologie) und die daraus resultierende Entzweiung der beiden Freunde, auch wenn sie nur in der Vision stattfindet - auch die Vision ist Bühnenrealität -, ein Stück affektgeladener Realität darstellt, das sich so ähnlich auch zwischen Alfio und Turridu hätte abspielen können, nicht aber zwischen Pelléas und Golaud.
Wenn Paul Marietta im dritten Bild mit der Haarflechte seiner verstorbenen Frau erdrosselt, so entspricht dieser Vorgang in seiner Symbolträchtigkeit der literarischen Vorlage. Im Drama, das damit ein Moment des bei der Übertragung verlorengegangenen Symbolismus wieder hereinholt, heißt es gar mit den letzten Worten: «Nicht ich hab's getan, ihr Haar, ihr Haar! - -» . Die musikdramatische Umsetzung jedoch ist ein Muster reinsten Opernrealismus': der Aufschrei Mariettas, die gesprochenen Worte Pauls (fetzt gleicht sie ihr ganz, Marie), die Nüchternheit des Vorgangs, die von keiner musikalischen Verklärung getrübt wird, und die als ein Stück Wirklichkeit in die Szenerie hineinragt, all das sind Momente, die für den Opernverismus so typisch sind wie das motivisch leerlaufende Fortissimo des Orchesters, das die Tat kommentarlos begleitet.
* Die Namen der Motive und Themen, die denen von Rudolf St. Hoffmann folgen, haben hier nur die Funktion von Etikettierungen und tun sonst nichts zur Sache, da sie weniger mit Bedeutungen aufgeladen sind, die im klingenden Zusammenhang abrufbar wären, als mit Stimmungen.