DIE GESCHICHTE

 

«Divorced - Beheaded - Died - Divorced - Beheaded - Survived»: Auf eine einfache Formel gebracht, ist das Schicksal der sechs Frauen Heinrichs VIII allgemein bekannt. Zwei wurden geschieden, zwei liess der König unter fadenscheinigen Gründen hinrichten, eine starb im Kindbett, nachdem sie ihrem Gatten den lang ersehnten männlichen Thronfolger (Edward VI) geboren hatte, die letzte überlebte den König. Von ihnen ist Heinrichs zweite Frau Anne Boleyn diejenige, die bis auf den heutigen Tag das grösste Interesse geweckt hat. Sie war es auch, die sich nach ihrer Vorgängerin Katharina von Aragon am längsten an der Seite Heinrichs halten konnte, und die ihm eine Tochter schenkte, die ab 1558 England zu einer politischen und kulturellen Blüte führen sollte: Elisabeth I.
Die überlieferten Beschreibungen von Anne Boleyn sind so konträr, dass sie schon zu Lebzeiten Annes zu zahlreichen Legendenbildungen, oft absurdester Art, Anlass gaben: Indiskrete Höflinge wussten zu berichten, sie habe an einer Hand sechs Finger und ihr Nacken sei durch eine grosse Geschwulst entstellt, die sie mit hohen Kragen zu verstecken versuchte, während andere ihre wenn nicht ebenmässige, doch um so reizvollere Schönheit priesen.
Am Hof Heinrichs VIII war sie als scharfsinnige, selbstbewusste und einflussreiche Frau gleichermassen geachtet wie gefürchtet. Auch ihre politischen Kontrahenten erkannten ihre Intelligenz und ihren Witz an, liessen aber keine Gelegenheit aus, sie als «Konkubine» oder gar «Hure» des Königs zu bezeichnen - eine persönliche Deformierung, die geradezurücken der englische Hof kein Interesse zeigte, nachdem Heinrich VIII Anne hatte hinrichten lassen, um ihre Holdame Jane Seymour zu heiraten.
Unter Anne Boleyns Tochter Elisabeth I war die englische Geschichtsschreibung später dann verständlicherweise um so mehr bemuht, den Ruf der ermordeten Königinmutter von diesem Makel zu säubern. Vor allem in der Literatur sind verschiedene Facetten von Annes Charakter im Laufe der Jahrhunderte unterschiedlich beleuchtet worden: Mal wurde sie als schamlose Mätresse des Königs gezeigt, mal als Märtyrerin, als rücksichtsiose Aufsteigerin oder mannstolle Ehebrecherin.
Die jeweilige Akzentuierung war dabei stets auch davon abhängig, in welchem Licht Heinrich Vlll. erscheinen sollte: Als königlicher Blaubart, als Potentat, dem Glück im Privatleben versagt bleibt, als betrogener Ehemann oder als beeinflussbarer, seine Politik im Schlafgemach aushandelnder Regent.
Dass Anne Boleyn bis heute die meist beachtete Gattin Heinrich VIII geblieben ist, lässt sich nicht allein damit begründen, dass sie die Mutter von Elisabeth I war. Zwar spricht vieles dafür, dass Anne zugleich die intelligenteste und einflussreichste von Heinrich sechs Frauen war, doch ist ihr posthumer Ruhm vor allem darauf zurückzuführen, dass Heinrich ihretwegen eine Reihe von politischen Entscheidungen traf, die weit über die private Sphäre hinaus reichten: Anne war indirekt der Auslöser für Heinrichs Lossagung von Rom und im folgenden für den Sturz des Lordkanzlers Kardinal Wolsey und seines Nachfolgers Thomas Mores.
Und schliesslich begründete Heinrich VIII durch die Ehe mit Anne Boleyn seinen Ruf als Tyrann. Nachdem sich Heinrich von Katharina von Aragon hatte scheiden und Anne Boleyn später hinrichten lassen, musste das Schicksal der folgenden Frauen wie eine Wiederholung der Geschichte erscheinen: Dass der englische König sich nach kurzer Ehe von seiner vierten Frau Anna von Kleve scheiden liess und seine fünfte, Catherine Howard, wegen Ehebruchs enthaupten liess, rief bei weitem nicht mehr das Interesse hervor, wie die «Eheaffaire», die Anne Boleyn seinerzeit ausgelöst hatte.
Schon während seiner ersten Ehe mit Katharina von Aragon, einer Tochter Ferdinands II und Isabellas von Kastilien, war Heinrich VIII eine Affäre mit Annes älterer Schwester Mary eingegangen, bevor sich der Monarch um das Jahr 1526 herum in Anne verliebte und fortan alles in seinen Kräften stehende tat, um sie als Königin auf den Thron und in seine Privatgemächer zu bringen.
Heinrich gebärdete sich wie ein pubertierender Jüngling, schrieb Anne Boleyn glühende Liebesbriefe - und musste einsehen, dass Anne eine ebenso selbstbewusste wie zielstrebige junge Frau war: Offensichtlich nicht gewillt, das Schicksal ihrer Schwester Mary zu teilen und sich mit dem Rang einer Mätresse des Königs zufrieden zugeben, übte sich Anne in vornehmer, manchmal auch koketter Zurückhaltung, wohl wissend, dass ihre Distanziertheit die Leidenschaft des Königs erst recht anfachen musste. Ihre Rechnung ging auf: Heinrich liess sich von Katharina von Aragon scheiden und vollzog aus diesem Grund sogar den Bruch mit der katholischen Kirche, nachdem er als Gegner der Reformation 1521 von Papst Leo X. für eine gegen Luther gerichtete Schnft noch mit dem Titel eines «difensor fidei» (Verteidiger des Glaubens) ausgezeichnet worden war.
In seinen Eheangelegenheiten ging es Heinrich fortan jedoch vor allem um die Verteidigung seiner ureigenen persönlichen Interessen, und als selbstbewusster Renaissance-Mensch duldete der König keine Einmischung von dritter Seite. Bereits Heinrichs Ehe mit Katharina von Aragon hatte einer päpstlichen Dispens bedurft, war Katharina 1501 doch mit Heinrichs älterem Bruder, dem Kronprinzen Arthar, verheiratet worden. Als dieser ein Jahr nach seiner Vermählung im jungen Alter von fünfzehn Ja,hren starb, blieb Katharinas Schicksal vorerst ungewiss: Heinrichs Vater erwägte nach dem Tod seiner Frau zunächst, seine Schwiegertochter selbst zur Gattin zu nehmen - ein taktischer Zug, der dazu diente, die Beziehungen zu Spanien nicht zu gefährden, und der vor allem auch einer möglichen Rückforderung der Mitgift entgegenarbeitete.
Spätere Pläne, den jungen Heinrich mit Katharina zu verloben, wurden dann von der Aussicht auf eine stärkere Bindung an die Habsburger vorübergehend zerschlagen. Erst nach dem Tod von Heinrichs Vater und sechs Wochen nach seiner Thronbesteigung wurde Katharina nach sieben ungewissen Jahren mit Heinrich vermählt. Zuvor hatte sie sich einer Unterleibsuntersuchung unterziehen müssen, um zu beweisen, dass die Ehe zwischen ihr und ihrem ersten Mann Arthur «nicht vollzogen» worden war, denn nur unter diesen Umständen war von Papst Julius II die Einwilligung zur Ehe zwischen Heinrich und seiner Schwägerin Katharina zu gewinnen.
Als Heinrich 18 Jahre später Katharina überdrüssig wurde und sich Anne Boleyn zuwandte, sah die Lage komplizierter aus, schon allein deshalb, weil gleich eine ganze Reihe von Motiven den König dazu veranlassten, sich von Katharina zu trennen, und einer stringenten Arqumentationslinie im Wege stand. Zweifellos war Heinrich bis über beide Ohren in Anne Boleyn verliebt - sicherlich ein ebenso schwaches Arqument, um den Papst zu einer Annullierung seiner Ehe mit Katharina zu bewegen, wie jenes, dass der König und sie sich auseinandergelebt hatten.
Der einzige Punkt, der zur Hoffnung Anlass gab, die Ehe mit Katharina könne annulliert werden, war, dass die Königin bislang keinen männlichen Thronfolger zur Welt gebracht hatte. Bei Heinrich rührte die Frage der Nachkommenschaft an zwei empfindlichen Punkten: Zum einen ging es dem König um den Fortbestand der Dynastie der Tudor, die er nur durch die Geburt eines Sohnes garantiert sah. Dass später zwei seiner Töchter den englischen Thron besteigen und die Tudor-Linie fortsetzen würden, war für einen Mann wie Heinrich unvorstellbar.
Zum anderen scheint der naiv gläubge Heinrich die zahlreichen Fehlgeburten, die Katharina seit der Entbindung von Mary (der späteren Mary Tudor, der «blutigen» durchlitten hatte, als Strafe Gottes für die Heirat mit seiner Schwägerin interpretiert zu haben: «Nimmt jemand das Weib seines Bruders, so ist es abscheulich; er hat seines Bruders Blösse enthüllt; sie werden kinderlos bleiben», heisst es im 3. Buch Mose, und allen Anscheins nach festigte sich in Heinrich der Gedanke, mit der Wahl seiner ersten Frau gegen Gottes Gebote gehandelt zu haben. So argumentierten Heinrichs Unterhändler mit der Bibel gegen den Papst - und gegen die Dispens dessen Vorgängers, die Heinrichs Vermählung mit Katharina überhaupt erst ermöglicht hatte.
Während Katharina tatenlos zusehen musste, wie Heinrich alle Hebel in Bewegung setzte, um sich von ihr zur trennen, wurde Anne, wohl des Wartens müde, auf ihre Weise aktiv: Spätestens 1532 muss sie dem beständigen Werben des Königs nachgegeben haben, denn in den letzten Tagen des Jahres eröffnete sie Heinrich die Nachricht, dass sie schwanger sei; die Tochter, von der sie im September des folgenden Jahres entbunden wurde, sollte später als Elisabeth I die Geschicke des englischen Reiches für 44 Jahre in die Hand nehmen.
Und als im August 1532 der Erzbischof von Canterbury verstarb, setzte Anne durch, dass der auf Grund einer heimlichen Ehe erpressbare Thomas Cranmer zu dessen Nachfolger ernannt wurde. Cranmers erste Amtshandlung war, die Ehe zwischen Heinrich und Katharina für ungültig zu erklären und damit Anne den Weg auf den englischen Thron freizumachen. Nachdem sie am 25. Januar 1533 heimlich die Frau Heinrichs VIII geworden war, wurde ihre Ehe am 28. Mai desselben Jahres öffentlich für gültig erklärt, und am 1. Juni wurde sie in London zur Königin gekrönt.
Im folgenden Jahr regelte Heinrich per Gesetz die englische Thronfolge neu: sein Nachfolger sollte ein (bis dato noch nicht geborener) Sohn aus der Ehe mit Anne werden. Sollte dieser nicht geboren werden, so fiel die Herrschaft an Annes Tochter Elisabeth. Erstaunlich ist freilich, dass Heinrich nun überhaupt die Möglichkeit einer Nachfolgerin in Erwägung zog, doch dass Heinrichs Tochter aus der Ehe mit Katharina von der Erbfolge ebenso ausgeschlossen wurde wie die Kinder von Heinrichs Tochter Margarete, ist zweifellos auf das Einwirken Annes zurückzuführen - der Lauf der Geschichte sollte das familienpolitische Kalkül der Königin sqäter bestätigen.
Womit Anne kaum gerechnet haben mag, war, dass sich nach drei Jahren Ehe das Schicksal ihrer Vorgängerin Katharina auch an ihr vollziehen sollte: Ende Januar 1536 erlitt Anne eine Fehlgeburt - das Kind wäre der von Heinrich ersehnte männliche Thronfolger gewesen. Heinrich hatte sich mittlerweile einer Hofdame Annes zu gewandt, der 25jährigen Jane Seymour, und Anne wird sich schmerzlich daran erinnert haben, dass sie einst Holdame Katharinas gewesen war, als sie Heinrich kennenlernte.
Annes Sturz und Tod war damit jedoch keineswegs endgültig besiegelt: Vieles spricht dafür, dass die Hinrichtung der Königin zu einem Grossteil auch das Resultat einer geschickt eingefädelten politischen Intrige war. Anne, die viele Jahre ihrer Jugend am französischen Hof verbracht hatte und darüber hinaus der protestantischen Bewegung grosse Sympathien entgegenbrachte, hatte sich in Thomas Cromwell, Heinrichs Generalvikar, einen gefährlichen Feind am Hof geschaffen. Ihre pro-französische Haltung kollidierte mit Cromwells Bestreben, eine Annäherung an den spanischen Hof Karls V zu erreichen.
Und da Cromwell von Heinrich zu seinem Stellvertreter in kirchlichen Fragen ernannt worden war, mag es auch hier zu Auseinandersetzungen zwischen beiden Parteien gekommen sein: In Glaubensfragen war die anglikanische Kirche nach der Trennung von Rom weiterhin ausgesprochen konservativ, während Anne eine erklärte Anhängerin der Reformation war.
Der Sturz der Königin vollzog sich im folgenden ebenso brutal wie aberwitzig: Anne wurde des mehrfachen Ehebruchs und des Inzests mit ihrem Bruder Lord Rochefort angeklagt. Ein Hofmusiker, Mark Smeton, gestand (möglicherweise unter dem Einfluss der Folter) Ehebruch mit der Königin begangen zu haben. Rechtlich reichte dies keineswegs aus, um Anne zum Tode zu verurteilen: Zusammen mit etwa zwanzig anderen Angeklagten beschuidigte man Anne anhand fadenscheiniger Beweisführungen der Konspiration gegen den König. Parteiische Richter und Geschworene (alte Anhänger Katbarinas, Cromwell-treue Staatsbiener und persönliche Feinde der Angeklagten) verurteilten Anne und fünf ihrer vermeintlichen «Komplizen» zum Tode, unter ihnen der Hofmusiker Smeton und Annes Bruder Rochefort. Sie wurden am 17. Mai im Tower zu London hingerichtet. Zwei Tage später fand Anne, die in einer kurzen Rede an das Volk ihre Unschuid beteuerte und die Untertanen zur Loyalität mit dem König aufrief, den Tod durch das Beil.
 

DER LIBRETTIST
UND DAS LIBRETTO

 

Gaetano Donizettis Librettist Felice Romani konzentriert sich in seinem Libretto zu «Anna Bolena» ganz auf die letzten Tage der Königin. Annes Aufstieg zum Thron und das Schicksal ihrer Vorgängerin Katharina von Aragon liegt zu Beginn der Oper bereits Jahre zurück. Die Handlung setzt zu einem Zeitpunkt ein, zu dem sich Heinrich VIII schon von Anne abgewandt hat und um deren Hofdame Jane Seymour wirbt.
Die Vorgeschichte lässt sich aus Dialogen und einigen Passagen des Chores entnehmen und wird, wie die eigentliche Handlung auch, jeder politischen Dimension beraubt. Romani gestaltet auf Grundlage der historischen Fakten ein überaus stringentes, im privaten Konflikt zwischen Anne und Heinrich angesiedeltes Drama, das Dichtung und Wahrheit geschickt verbindet.
Am charakteristischen zeichnet der Textdichter die Titelpartie der Oper: Anne Boleyn (bei Romani: Anna Bolena) wird als Frau gezeigt, die ihre Jugendliebe durch die Heirat mit Heinrich (Enrico) einst gegen den Thron eintauschte und nun ein tristes Leben am Hof führt. Zu Beginn der Oper bangt sie bereits um ihre Position als Königin - zurecht, wie wir dem Chor der Introduktion zum ersten Akt entnehmen: «Ihr Stern ist am sinken. Heinrichs flatterhaftes Herz entbrennt in Liebe für eine andere», wissen die Höflinge Annas Ängste zu konkretisieren.
Ihre Hofdame und Rivalin Jane (Giovanna) Seymour wird von Romani als zwiespältiger Charakter gezeichnet: Zum einen gibt sie Enrico im Duett des ersten Aktes zu verstehen, dass sie sich ihm nur als Ehefrau und Königin hinzugeben bereit ist, zum anderen bangt sie um das Schicksal ihrer Herrin, der gegenüber sie sich trotz der persönlichen Rivalität loyal zeigt. Der König selbst wird von Romani als rücksichtsloser Despot gezeigt: Um Giovanna zu gewinnen, ist er bereit, Anna zu verstossen, und lässt sie durch seinen Offizier Hervey beschatten. Der Zufall spielt Enrico zwei Trümpfe in die Hand, die er gegen Anna verwendet: Er überrascht die Königin in einer zweideutigen Situation mit ihrer Jugendliebe Lord Percy und dem Musiker Smeton und lässt sie zusammen mit Annas Bruder Rochefort inhaftieren.
Wie der historische Musiker Anne Boleyns gesteht Smeton fälschlicherweise, Ehebruch mit der Königin begangen zu haben, und liefert Heinrich damit einen ersten Anklagepunkt in die Hand. Der zweite kommt aus Percys Mund, der im Terzett des zweiten Aktes dem König ins Gesicht schleudert, er sei Anna vor ihrer Heirat mit Enrico angetraut worden. Damit ist Annas Schicksal besiegelt, und trotz Giovanna Seymours Fürsprache wird sie zusammen mit Percy, Smeton und Rochefort zum Tode verurteilt.
Die Rolle Percys ist diejenige, die Romani am freiesten gestaltet. Der historische Henry Lord Percy war zwar mit Anne Boleyn vor deren Eheschliessung mit Heinrich VIII liiert gewesen, sagte aber später vor Gericht aus, dass es nie «einen Vertrag oder ein Heiratsversprechen zwischen ihr und mir gab», und sass sogar unter den Geschworenen, die Annes Todesurteil aussprachen.
Im Vorwort zu seinem Libretto hat Romani selbst erklärt, dass er in einigen Punkten bewusst von der Historie abweicht, um den Stoff theatergerecht zu gestalten. Da die für den Fall der historischen Anne Boleyn entscheidende Intrige Cromwells in Romanis «entpolitisiertem» Drama wegfällt, erfindet er den Vonwurf der Bigamie, um Enrico einen weiteren Grund für den Sturz Annas zu geben.
Ebenso rafft Romani die Chronologie der Ereignisse in theaterwirksamer Weise: Bereits einen Tag nach Anne Boleyns Hinrichtung verlobte sich Heinrich VIII mit Jane Seymour. Im Finale der Oper wird dieses Ereignis von Romani um einen Tag vorgezogen, um Annas tragisches Ende zu betonen: In der grossen Finalszene, die Anna auf dem Weg zum Richtblock zeigt, erklingen hinter der Bühne Fanfaren, die den Kirchgang Enricos und Giovannas begleiten. Gaetano Donizetti erfindet hier eine betont triviale Marschmusik, die im krassen Gegensatz zu den elegischen Phrasen Annas steht und Verdis musikalische Kontrastdramaturgie durch Uberblendung divergenter Stile vorwegnimmt.
 

DIE OPER

 

Mit «Anna Bolena», Donizettis 35. (!) Oper, gelang dem Komponist endgültig der internationale Durchbruch, und der Erfolg der Uraufführung des Werkes machte Donizetti kurz vor Gioacchino Rossinis Rückzug von der Oper neben Vincenzo Bellini zum führenden Musikdramatiker Italiens: «Erfolg, Triumph, Delirium: es war, als ob das Publikum verruckt geworden ware. Alle sagten, sie könnten sich nicht erinnern, je bei einem solchen Triumph zugegen gewesen zu sein», berichtete Donizetti seiner Frau nach der ersten Auffuhrung von «Anna Bolena» am 26 Dezember 1830.
Für den überragenden Erfolg dieser Vorstellung war sicherlich auch die erstklassige Besetzung verantwortlich, die von einer Gruppe reicher Adliger und Kaufleute an das Teatro Carcano verpflichtet worden war: Es handelte sich um dasselbe Ensemble, das ein Jahr spater auch Bellinis «La Sonnambula» zum Triumph führen sollte.
1831 wurde «Anna Bolena» in London und Paris, 1833 in Wien und Budapost herausgebracht, und die Oper galt im 19. Jahrhundert neben «Lucia di Lammermoor» als eines der Hauptwerke Donizettis, bevor sie allmahlich in Vergessenheit geriet. Erst eine Wiederaufführung an der Mailander Scala mit Maria Callas in der Titelpartie sicherte «Anna Bolena» 1957 wieder einen festen Platz im Belcanloregertoire.
In neuerer Zeit ist Donizetti wiederholt der Vorwurf gemacht worden, in «Anna Bolena» das stilistische Idiom seines zu Lebzeiten erfolgreicheren Konkurrenten Bellini kopiert zu haben. Obwohl sich durchaus Parallelen in der Melodiebildung und szenischen Dramaturgie beobachten lassen, tragt «Anna Bolena» unverkennbar Donizettis zwischen Rossini und Verdi vermittelnde musikalische Handschrift.
Der von Rossini übernommene «offene» Melodietypus, der insbesondere Giovannas Arie aus dem zweiten Akt pragt, ist ebenso typisch für den Komponisten, wie seine auf Verdi vorausweisende Verdichtung formaler Konventionen. Schon in der Introduktion des ersten Aktes wird Donizettis weit gespannte musikalische Architektonik sinnfällig: Nach einem den Gesamikonflikt der Oper exponierenden Chor leiten ein kurzes Arioso Giovannas und ein einfaches Strophenlied Smetons direkt zu Annas erster Arie uber, einer von Smetons Gesang ausgelosten Erinnerung an ihre Jugendliebe. Romanis geschickt gebautes Lihretto bietet Donizetti hier optimale Möglichkeiten, seinen grossen dramatischen Atem zur Geltung zu entfalten.
Weitaus bemerkenswerter ist Donizettis Vertonung der grossen Auseinandersetzung zwischen Anna und Giovanna im zweiten Akt, in der die Holdame der Konigin gesteht, ihre Rivalin zu sein: Im Gegensatz zu der schematischen Architektur vergleichbarer Szenen bei Rossini und Bellini bricht Donizetti die im Libretto vorgegebene Struktur paralleler Verse zugunsten einer freien, dem emotionalen Gehalt des Textes und der Konfliktsituation angepassten Phrasenbildung auf.
Neben solchen Neuerungen, die sich freilich immer im Bereich des Gatlungsublichen bewegen, finden sich in der Partitur zu «Anna Bolena» andererseits auch konventionelle, mitunter formelhafte Abschnitte, die wenig individualisiert erscheinen und sich damit genügen, die zeitgenossischen Anspruche des Publikums an Theatermusik zu erfullen Die italienische Oper zwischen Rossini und Verdi bot keine Gelegenheit, um die Gattung neu zu «erfinden», und individuelle Reaktionen auf vorgegebene Schemata sind stets in einen konventionellen Rahmen gebettet.
Dirigent Paolo Carignani hat daher eine Strichfassung von «Anna Bolena» erstellt, die mit sanfter Hand den musikalischen Fluss der Handlung in Gang hält, ohne Donizettis Intentionen zu verfälschen oder die Partitur zu zerstuckeln.
Mit Gian-Carlo del Monaco (Regie), Mark Väisänen (Bühnenbild) und Maria-Luise Walek (Kostüme) zeichnet das gleiche Team für die szenische Realisation des Werkes verantwortlich, das in der Spielzeit 1996/97 schon Donizettis Oper über Anne Boleyns Tochter Elisabeth I, «Roberto Devereux» auf die Bühne des Opernhauses Zürich gebracht hat.
Del Monaco schlägt eine Brücke zu «Robert Devereux», indem er Elisabeth als Kind das Geschehen beobachten lässt. Eine weitere Verbindung zwischen beiden «Tudor-Opern» Donizettis wird dadurch geschaffen, dass der Bühnenraum von «Roberto Devereux» in modifizierter Form übernommen und weiterentwickelt wird. Dass die Geschichte der Tudor auch die eines «Clans» ist, zeigen Anspielungen auf dynastische Mythen des 20. Jahrhunderts. Die Titelpartie in «Anna Bolena» ist nach Bellinis Imogene in «Il Pirata» eine der ersten grossen tragischen Sopranrollen der romantischen Oper.
Deutlich an Bellinis Vorbild orientiert ist die breit angelegte Schlussszene, in der die Königin vorübergehend dem Wahnsinn verfällt, um gegen Ende wieder zu Bewusstsein zu gelangen und Enrico und Giovanna auf dem Weg zum Richtblock zu verzeihen. Die Partie der stolzen und ehrgeizigen, durch den Verzicht auf Rache geedelten Königin wurde in der Uraufführung des Werkes von Giuditta Pasta gesungen, die auch Bellinis «Norma» und «La Sonnambula» aus der Taufe hob, und nimmt heute im Repertoire von Edita Gruberova einen Platz an vorderster Stelle ein.
Aus der Partie der Giovanna Seymour lässt sich herauslesen, dass Donizetti und Romani wie im Falle von Bellinis ein Jahr nach «Anna Bolena» uraufgeführten «Norma» neben der gefeierten Pasta eine weitere exquisite Sopranstin zur Verfügung gestanden haben muss: Die erst 19jährige Teresa Orlandi, die später selbst die Titelpartie der Oper übernahm. In der Aufführungsgeschichte der Oper hat sich die Tradition herausgebildet, Giovanna mit einem Mezzosopran zu besetzen, um insbesondere im Duett des zweiten Aktes für einen Kontrast im Timbre beider Frauenstimmen zu sorgen. Mit Vesselina Kasarova steht eine Rollenvertreterin zur Verfügung, die problemlos über die geforderte Höhe und Agilität der Partie verfüpt und deren dunkles Timbre gleichzeitig eine reizvolle Ergänzung zur Stimme Edita Gruberovas darstellt.
Reinaldo Macias sieht sich als Percy, eine Rolle, die er zum ersten Mal singt, mit einem typisch romantischen Tenor-Liebhaber konfrontiert: aufbrausend, emotional, impulsiv. Im Duett mit Anna reagiert Percy auf die abweisende Haltung der Königin mit einem Selbstmordversuch, im Terzett mit Heinrich und Anna liefert er dem König mit dem Verweis auf seine Verbindung mit Anna den entscheidenden Trumpf in die Hand. Seine beiden Arien, die Donizetti für den berühmten Giovanni Battista Rubini schreib, sind Glanzstücke der Partitur und zugleich Ruhepunkte im stetig vorwärtsdrängenden dramatischen Fluss der Handlung.
Die Partie von Enrico VIII, in der Làszlò Polgàr ein weiteres Rollendebüt gibt, wird von Romani und Donizetti gewissermassen als «Uncharakter» gezeichnet. Obwohl die Partie in der Uraufführung von dem gefeierten Bassisten Filippo Galli verkörpert wurde, sehen die beiden Autoren bezeichnenderweise keine Arie für den despotischen König vor. Neben dem Duett mit Giovanna Seymour im ersten und dem entscheidenden Terzett mit Anna und Percy im zweiten Akt tritt Enrico nur in den grossen Ensembles auf und wird dadurch als finsterer, die Intrige im Verborgenen steuernder Machtmensch gezeigt.
Ergänzt wird das Ensemble durch Irene Friedli in der Hosenrolle des unglücklich in die Königin verliebten Hofmusikers Smeton, Oliver Widmer und Pavel Daniluk als Annas Bruder Rochefort und Miroslav Christoff als Sir Hervey.
© Magazin Opernhaus Zürich. Testo pubblicato con il consenso scritto della direzione della Dramaturgie.