HOME
____________________________________________________________________________________________________
 

BASLER ZEITUNG

 

 

Basler Zeitung, 10. Juli 2000

 

 

Peter Bitterli

Kinderhure, Charleston-Göre und Grande-Dame

Sven-Eric Bechtolf inszenierte «Lulu»
von Alban Berg am Opernhaus Zürich

 

Zwei zentrale Fragen stellen sich für jeden, der Alban Bergs «Lulu» inszenieren will. Die erste ist eine formale: Soll das unvollendet hinterlassene zweiaktige Fragment oder die nachträglich ergänzte dreiaktige Version gespielt werden? Die zweite ist inhaltlicher Art und im Grunde ein ganzer Fragenkomplex: Wer oder was ist eigentlich Lulu, wo kommt sie her, was treibt sie zu Mannstollheit, Männervernichtung und Mord?
Der Schauspielregisseur Sven-Eric Bechtolf beantwortet in seiner ersten Opernregie beide Fragen aus der gleichen bestechenden Idee heraus. Er entscheidet sich für das Fragment und liefert während der nahtlos angehängten Bruchstücke des dritten Aktes in einer pantomimischen Szene so etwas wie die psychosoziale Erklärung für das kreatürliche, ja bestialische Verhalten seiner Protagonistin. Lulu war, Lulu ist eine Kinderhure, zu frühem Erwachsensein und Prostitution gezwungen von allen Männern dieser Welt. Das Kind Lulu, eine vom Regisseur hinzugefügte Chiffre, ist bereits zuvor verschiedentlich aufgetreten. Dr. Schön trägt es ebenso fasziniert wie zerquält auf dem Rücken, schleppt es als Klotz am Bein hinter sich her. Lulu selbst versucht mit ihm zärtlich ihren Frieden zu schliessen. Und dann gibt es da diese Schreckensvision im Moment der Peripetie des zweiten Aktes. Alban Berg verlangte an dieser Stelle eine filmische Projektion, und Bechtolf folgt ihm ein Stück weit. Zu sehen sind die Bilder des Kindes, das verfolgt und verängstigt durch einen Wald flüchtet, das brutal unter Wasser gedrückt wird. Kindsmorde sind es, aber an der Stelle, wo Berg in seinem Film die Umkehr des Geschehens vorsieht, fällt der Vorhang. Hier geht nichts weiter. Einen einzigen Moment lang besteht die Utopie des Gelingens. Lulu, Dr. Schön und das Kind treten Hand in Hand an die Rampe und mimen die Kleinfamilie, die es nie geben kann.
Man kann die politisch korrekte, verständnisvolle psychologische Erklärung platt, weil eindimensional finden. Durchgeführt ist der Ansatz schlüssig, präzise und sauber. Da ist zunächst das Einheitsbühnenbild von Rolf Glittenberg, ein graues, kühles, modernistisches Beton-Interieur mit Treppen, Brüstungen und kleinen Balkonen auf halber Höhe. Es ist teils ein Salon, teils ein Treppenhaus und verweist damit auf die Halböffentlichkeit, in der das Geschehen sich abspielt.
 

Sinnliches Wunschbild

 

Da ist das Bildnis der Lulu, welches als dreidimensionales Objekt gestaltet ist, als zersägter nackter Frauenkörper in wassergefüllten Glaskuben, die sich beliebig zerlegen und montieren lassen. Da sind die vielen Männer, allesamt von Marianne Glittenberg in dieselben mattschwarz glänzenden Anzüge gesteckt, allesamt von den Körper-Kuben stärker angezogen als von der realen Lulu. Als schwarze Löcher dümpeln sie im Kosmos ihrer chaotischen Welten, nahezu ununterscheidbar selbst für den vorinformierten Zuschauer. Lulu, die sinnliche, die ungreifbare, Lulu, die Projektionsfläche trägt als einzige Farbe zur Schau, ist als einzige wandelbar, indem sie sich dem Wunschbild ihrer jeweiligen Männer in Garderobe und Pose perfekt anpasst, wobei Bechtolf hier mit Zitaten aus Film-, Kunst- und Theatergeschichte arbeitet. Die Bilder im Kopf kommen ja nicht aus dem Nichts.
Lulu ist des Medizinalrats weissgeschminkte, blasierte, aber kindisch-linkische Charleston-Göre. Sie ist mit Langhaarperücke des Malers blonde Eva und im Tingeltangel-Kostüm des Afrika-Prinzen Haremspreziose. Sie ist neureiche Grande-Dame für Herrn Dr. Schön und später niemandes Verbrecherin und jedermanns Strassenmädchen. Sämtliche Darsteller spielen unter sorgfältiger Anleitung ausserordentlich engagiert und glaubwürdig, Laura Aikin aber verkörpert die Lulu schlicht sensationell. Sie agiert quicklebendig, legt mühelos verführerische Ballett-Einlagen aufs Parkett, wirkt je nach Situation unbeschwert jugendlich, tief verletzt, zynisch brutal, hemmungslos erotisiert oder auf den Tod resigniert. Ihr Sopran klingt leicht, zwitschernd, mühelos in den wahnwitzigsten Koloraturen, aber doch auch raumfüllend, reif, charaktervoll und gar hinterhältig in den fast oder ganz gesprochenen Passagen.
Alfred Muff singt den Dr. Schön machtvoll und warm strömend, Peter Straka den Alwa mehr heroisch als dekadent schmachtend. Textverständlichkeit ist fast in jedem Moment gewährleistet. Auch kleinere und kleinste Rollen sind auf hohem Niveau besetzt, etwa mit Guido Götzen als Schigolch, einer keuchenden Dürrenmatt-Figur im Rollstuhl, oder mit Cornelia Kallisch, einer Gräfin Geschwitz, die für einmal nicht als Mannsweib, sondern als warm timbrierte Hysterika gezeigt wird.
 

Tödliches Kammerspiel

 

Diese «Lulu» ist als tödliches Kammerspiel angelegt, ist durch und durch getränkt mit allen Spielarten der Erotik, ist ein erschreckend unentwirrbares Konglomerat aus Zynismus, Liebe und Begehren. Eine so atemberaubend geile Produktion kann man weitherum lange vergeblich suchen. Atemberaubendes spielt sich auch im Orchestergraben ab. Franz Welser-Möst und das Zürcher Opernorchester lassen eine Glanzleistung hören. Der Dirigent modelliert einzelne Linien, Gesten und Motive mit grösster Plastizität heraus und fächert die Riesenpartitur zum transparenten Panakustikum auf, wozu die Musiker mit makellosen Einzelleistungen das Ihre beitragen. Der Klang ist tendenziell hell und leicht, die Musik fliesst bewegt, beschwingt und oft sogar tänzerisch. Dabei wird der organische Fluss immer wieder mit ungeheurer Spannung aufgeladen, durch grosse Bögen zusammengehalten, in denen sich Energien sammeln und entladen. Die Tempi waren objektiv eher langsam, subjektiv resultierte der Eindruck des steten Drängens und der Kürze. Das ist die hohe Kunst erfüllter Zeitverläufe.
 

Erschütterndes Adagio

 

Am Ende, zum erschütternden Adagio des Fragment-Schlusses, wenn die Verwahrlosung längst um sich gegriffen hat, und Lulu über Geröll- und Müllhalden herabkriechend am Tiefpunkt angelangt ist, wird uns die Erklärung nachgeliefert. Diese Pantomime ist Wunschtraum und Erinnerung zugleich, sie zeigt Lulus Schlüsseltrauma. Ganz zuunterst wartet schon das Kind. Noch spielt es in sich versunken. Dann aber schminkt es sich die Lippen, blutrot, viel zu gross, verschmiert, ordinär: eine minderjährige Hure. Ein schmieriger blinder Ballonverkäufer lockt das Kind, vergewaltigt die Erwachsene, tötet die Erwachsene, schmeisst sie auf den Müll, tötet damit auch das Kind. Der Mann ist Schigolch, er ist Dr. Schön, er ist ein mattschwarz glänzender Mann. Der Tod der Lulu, er hat schon lange stattgefunden. Es erfüllt sich, was vor Jahren präfiguriert wurde. Der Applaus für die Darstellerin der Lulu, für den Dirigenten und für den Regisseur war am Premierenabend ungeheuer. So war auch das Stück