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Neue Zürcher Zeitung, 10. Juli 2000

 

 

Peter Hagmann

Der Mann, die Frau

Bergs «Lulu», zweiaktig, im Opernhaus Zürich

 

 

«Das bist ja du, du, ja du», ruft der geheimnisumwitterte Schigolch aus, wie er auf das Porträt jener Frau stösst, die er für seine Tochter ausgibt, die er aber auch einmal hat heiraten wollen. Freilich: Wer dieses Du sei, diese Lulu, die auch Mignon, Nelly, Eva heisst - das ist nun justament die Frage. Der Regisseur Sven-Eric Bechtolf, der Alban Bergs «Lulu» für das Opernhaus Zürich in Szene gesetzt hat, bleibt die Antwort weitgehend schuldig. Ein Objekt ist sie, eines der sexuellen Begierde und der männlichen Machtphantasie: Das erfährt man gleich zu Beginn, im Atelier des Malers. Da stehen nämlich jene vier Kuben aus Plexiglas, in die, gevierteilt, ein nackter Frauenkörper eingelassen ist - eine Anleihe bei Magritte. Wenn er sie doch nur für sein neues Stück engagieren könnte, meint der Komponist Alwa zu der Modell stehenden Lulu und greift dabei ans Schamhaar der Puppe. Dasselbe tut Doktor Schön, sein Vater, wenn er den Maler für die mangelhafte Ausführung des Haars kritisiert - und ganz am Ende, wenn er als Jack the Ripper noch einmal auftritt, packt Schön den Kopf und den Unterleib der Puppe in seinen Koffer.
Nicht knisternde Erotik herrscht hier, sondern ein Klima mehr oder weniger latenter Gewalt. Schon der von Rolf Glittenberg entworfene Einheitsraum, ein grossbürgerliches Wohnzimmer im Stil der Moderne der dreissiger Jahre, verströmt eine aggressive Kälte. Und immer wieder tritt zu Lulu ein Mädchen im unschuldig weissen Röckchen; spätestens bei der von Berg ausdrücklich geforderten Filmsequenz im zweiten Akt begreift man, dass es sich hier um die junge Lulu handelt, die verfolgt und missbraucht worden ist. Eine Spirale der Gewalt; sie führt schliesslich zu jenem Messerstich, mit dem Jack the Ripper alias Doktor Schön dem Leben der Protagonistin ein Ende setzt. Bis es dazu kommt, macht Lulu allerdings noch manche der von ihren Männern für sie erdachten Stationen durch. Vom Maler wird sie im Rahmen einer Sadomaso-Session entblättert, von ihrem alternden Förderer als Luxusweibchen gehalten, schliesslich endet sie, kahl geschoren, als Prostituierte im Rinnstein.
Das Prinzip wird gezeigt. Die Frau: Mal ist sie laszive Schlange, mal verführerische Eva mit dem Apfel im Mund, mal Showgirl à la Marilyn Monroe - Laura Aikin, die ihre anforderungsreiche Partie blendend meistert und sie mit ihrem hellen Timbre und dem schnellen Vibrato ganz leicht dem Soubrettenhaften annähert, beherrscht alle Rollen, nur eines geht nicht von ihr aus: das erotische Fluidum, das die Männer anzieht wie das Licht die Insekten. Der Mann: Egal, ob Chefredaktor, ob Künstler, ob Krimineller oder Hausdiener - stets trägt er den glitzernden, hochgeschlossenen schwarzen Anzug, den die Kostümbildnerin Marianne Glittenberg für ihn entworfen hat. Denn stets geht es ihm ums Gleiche: zu besitzen, zu beherrschen.
So weit, so gut. Probleme bietet die erste Operninszenierung von Sven-Eric Bechtolf darin, dass er die Ansätze viel zu wenig konsequent durchdenkt und viel zu wenig klar ausführt. An Einfällen und Effekten fehlt es nicht, wohl aber an deren Verankerung in einer sinnvoll aufgebauten Interpretation. Warum zum Beispiel Schigolch (Guido Götzen) in Abänderung des von Berg eingerichteten Textbuchs von Lulu erdrosselt wird - es ist nicht zu erklären. Alfred Muff gibt den Doktor Schön mit pompösem Bass, ohne dass es dem Sänger, dem beständig der buffohafte Ochs auf Lerchenau in den Weg gerät, gelänge, die herrischen Züge seiner Partie zum Ausdruck zu bringen; wenn er dem Maler (dem fabelhaft agilen Steve Davislim) das Rasiermesser zum Suizid überreicht, singt er ihm geradezu ein Wiegenlied. Unentschieden und blass wirken auch die von Cornelia Kallisch famos gesungene Geschwitz und der Alwa von Peter Straka. Da war denn bei Gott schon manche schärfere, eindringlichere Deutung dieses grossartigen Werks zu sehen. Und vor allem schliesst die Produktion in keiner Weise an das Niveau des «Wozzeck» an, der zu Beginn der Spielzeit von Peter Mussbach am Opernhaus inszeniert worden ist.
Gescheitert ist die neue Zürcher «Lulu» aber vor allem am Hauptproblem: der Tatsache, dass die Partitur Fragment geblieben ist. Wie früher im Jahr an der Wiener Staatsoper wird «Lulu» in Zürich nicht in der von Friedrich Cerha vervollständigten dreiaktigen Fassung, sondern als zweiaktiges Fragment mit dem behelfsmässigen Schluss gezeigt, wie er bis 1979 üblich war. Den Ausschlag dafür hat der Dirigent Franz Welser- Möst gegeben - nicht weil er aus ästhetischen oder ideologischen Gründen gegen die Arbeit von Cerha eingestellt wäre, sondern weil er klar dazu steht, dass er den dritten Akt - und hier besonders das Tableau, das dessen erstes Bild abgibt - als dramaturgisch ungelöstes Problem ansieht. Tatsächlich bleibt das Geschehen im dritten Akt in einer seltsam störenden Weise stehen; und kein Wunder, hat Berg selbst darauf hingewiesen, dass er das Werk noch einmal gründlich überholen müsse. Von da her gesehen, erscheint die Entscheidung für die zweiaktige Version plausibel - nur werden dadurch eben all die Symmetrien, die Berg in die Partitur gelegt hat, zunichte gemacht. Immerhin logisch, dass zum Adagio aus der «Lulu-Suite» nicht die drei Männer der Protagonistin als Freier bei der Prostituierten erscheinen, sondern bloss Jack the Ripper, der rasch und entschieden fürs Ende sorgt.
Dennoch gibt es in dieser Zürcher «Lulu» einen ganz hellen Aspekt, und das ist die orchestrale Umsetzung. Franz Welser-Möst nimmt die Partitur ganz von jener romantischen Seite her, aus der sie stammt; er verleiht dem streng zwölftönigen Geschehen damit berauschende Sinnlichkeit und betörende Schönheit - und was das Orchester der Oper Zürich dazu beiträgt, ist schlechterdings von erstklassiger Qualität. Bemerkenswert daran ist, dass im Graben nicht grossorchestrale Wollust herrscht, dass Welser-Möst vielmehr eindeutig auf kammermusikalische Zeichnung setzt. Zart und leis entwickelt sich der musikalische Fluss, und weil der Dirigent die Tempi fest im Griff hält und die Rhythmen pointiert ausspielen lässt, erhält die Partitur eine ganz eigene, unaufdringliche Klarheit.
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