NIKOLAUS HARNONCOURT
In der Publikumsgunst stand «Così fan tutte» lange hinter den anderen Mozar-Da Ponte-Opern zurück, was Nikolaus Harnoncourt nicht zuletzt darauf zurückführt, dass diese Oper nicht dem damals üblichen Schema eines Theaterstücks folgt. Hier geht es nicht um einen Helden, um eine Figur, mit der man sich identifizieren kann, sondern um ein Spiel von sechs höchst vielschichtigen Personen, von denen jede ein vollständiges und doch nahezu unergrundliches Charakterprofil besitzt.
Anders als in einer Opera seria, in der jede Figur ihren festen Charakter, jede Arie ihren Affekt hat und sich erst in der Gesamtheit die aufgefächerte Vielfalt ergibt, besitzt in diesem psychologischen Kammerspiel Mozarts jede Figur einen tolal fluktuierenden Charakter und beinhaltet immer zugleich auch das Ganze. Man weiss im Grunde nie, wie sie auf die nachste Situation reagieren werden. Weder Mozart noch Da Ponte legen sich in der Charakterisierung der Figuren fest. Sie legen sich zwar fest in dem Moment, in dem eine Person etwas sagt.
Aber da ist noch ein anderer Text in der Musik, der das Gesagte in Frage stellt. Ein Paradebeispiel dafür, dass die Musik durchaus das Gegenteil von dem sagen kann, was im Text steht, ist die Arie «Come scoglio»: Zuerst wird der Felsen gleichsam hingestellt. Fiordiligi sagt: «So wie der Felsen unbewegt steht, so steht auch meine Treue.» Dem Zuhörer wird Selbstsicherheit suggeriert, zugleich aber malt das Orchester Turbulenzen und Zusammenbrüche; der Fels steht also keineswegs sicher und unverrückhar; die Musik spricht einen Subtext zum verbalen Text.
Ähnlichen Irritationen sind wir auch in Fiordiligis Rondo «Per pietà, ben mio» ausgesetzt. Schon die Tonart E-Dur verrät, dass sich Fiordiligi entgegen den mit sicherer Bestimmtheit geäusserten Treueschwüren in hochster Verwirrung befindet. Zusätzlich fordert Mozart in dieser für Hörner sehr unbequemen Tonart so halsbrecherische Figurationen, dass die Ernsthaftigkeit ihrer Entschlossenheit entschieden in Frage gestellt wird. Ein Beispiel anderer Zwiespältigkeit ist die Arie «Un'aura amorosa»: Wir hören eine grosse Liebesarie. Davor aber fragt Guilelmo: «Gibt's heute kein Essen?» und Ferrando antwortet ihm: «Wozu denn? Es wird uns nach unserem Sieg besser schmecken». Und dann singt er: «Ein Liebeshauch unseres Schatzes wird dem Herzen süsse Kraftigung bringen. Dem Herzen, das genährt von Liebeshoffnung bessere Nahrung gar nicht haben kann.» Schaut man sich den Text alleine an, so hätte man einen komischen Witz über «Es gibt nichts zu essen ausser Luft und Liebe» machen können. Dass das musikalisch zu einer Liebeserklärung an die wirkliche Braut umgedeutet wird, ist schon eine sehr doppelLödige Sache.
Das ganze Stück hindurch bewegen sich die handelnden Personen - und wir uns mit ihnen - auf sehr unsicherem Boden und am Ende lautet das traurige Fazit: Nichts, was einmal sicher schien, ist es wirklich. Mozart komponierte das abschliessende «Fortunato l'uom che prende ogni cosa per buon verso» in C-Dur. Doch das traditionell Festliche und Positive dieser Tonart schlägt im Gesamtzusammenhang des Werkes in das Gegenteil um. Bis zum Terzett «Una bella serenata» könnte man C-Dur noch im herkömmlichen Sinn verstehen, doch mit Beginn von Don Alfonsos Rezitativ «La commedia e graziosa» wird zunehmend klar, dass das C-Dur immer im Bunde mit dessen Experiment am lebendigen Menschen steht. Die Musik sagt am Ende nicht «fortunato», sondern «infortunato»; die aufgesetzt-heitere Turbulenz des Finales ist abgründig.
In «Così fan tutte», so Nikolaus Harnoncourt, wird in negativem Sinne gezeigt, was Zynismus zustande bringen kann; es gibt keine Schuldigen, wohl ausser Don Alfonso und teilweise Despina nur Betrogene. Im Grunde ist das Stück in dem Sinne moralisch, dass es die Menschen zum Nachdenken bringt.
Was für die hochkomplexe Verbindung von Wort und Musik sowie die nicht wirklich auflösbare Tonartendramaturgie gilt, zeigt sich auch in der Architektur der Tempi, die in einer ganz komplizierten Weise aufeinander bezogen sind. Leopold Mozart schreibt über die Bedeutung der Tempi: «Der Tact macht die Melodie: folglich ist er die Seole der Musik. Er belebt nicht nur allein dieselben, sondern er erhält auch alle Glieder derselben in ihrer Ordnung. Es ist also an dem musikalischen Zeitmasse alles gelegen...
Man setzet zwar vor jedes Stück eigens dazu bestimmte Wörter, als da sind: Allegro, lustig; Adagio, langsam u.s.f. Allein das Langsame sowohl als das Geschwinde und Lustige hat seine Stufen. Und wenn auch gleich der Componist die Art der Bewegung durch Beyfügung noch anderer Beyworter und Nebenwörter deutlicher zu erklären bemühet ist: so kann er doch unmöglich jene Art auf das genaueste bestimmen, die er bey dem Vortrage des Stückes ausgedrücket wissen will. Man muss es also aus dem Stücke selbst herleiten. Jedes melodische Stück hat wenigstens einen Satz, aus welchem man die Art der Bewegung, die das Stück erheischet, ganz sicher erkennen kann.»
In «Così fan tutte», so Nikolaus Harnoncourt, differenziert Mozart die Tempi mit etwa fünfzig verschiedenen Angaben. Dabei gibt es ein Tempo, das Andante C vom Anfang der Ouvertüre, das durch die ganze Oper hindurch an entscheidenden Schlüsselstellen wiederkehrt und damit als eine Art Rückgrat oder Achse des Werkes angesehen werden kann. Die hier so zahlreichen und unterschiedlichen Tempi können nicht einfach verschiedenen Charakteren oder Situationen zugeordnetwerden, weil sie immerzugleicl auch deren Infragestellung miteinbeziehen.
Es ist ähnlich wie bei der Lasurmalerei, derer verschiedene Schichten untereinander sicht bar bleiben. Mehrfach erscheinen dieselber Motive in verschieden schnellen Stücken und sind daher, um gleichschnell dargestellt zu werden, in unterschiedlichen Notenwerter notiert - auch dies für den Dirigenten Aus druck der Vielschichtigkeit, die in «Così» herrscht.