HOME
 

NIKOLAUS HARNONCOURT

 

 

 

Seit 125 Jahren führt die «Fledermaus» die Hitliste der Operetten an, auch wenn es zunächst einige Startschwierigkeiten - vorab in Wien - gab. Nichts Ungewöhnliches - so Nikolaus Harnoncourt - bei einem derart originären Werk, das sich den üblichen Erwartungen und Schablonen entzieht und die Gatlung gewissermassen neu erfindet. Diesem Neuen hat man sich unvoreingenommen zu stellen, sowohl als Interpret wie auch als Rezipient, und das gilt bis zum heutigen Tag. Noch das bekannteste Werk muss sich bei einer Neueinstudierung wie eine Uraufführung präsentieren. Das bedeutet u.a., dass jede Note, jedes Wort spontan erzeugt werden muss und nicht im Wissen darum, was als nächstes folgt.
Obwohl es in Wien eine ungebrochene Strauss-Tradition durch die Musiker seiner Kapelle gibt- u.a. hat Robert Stolz unter Straussens Leitung gespielt und später eigene Aufführungen geleitet, in denen auch Nikolaus Harnoncourt als Cellist mitgewirkt hat -, haben sich im Laufe der Zeit Spielgewohnheiten eingeschlichen, die zwar in der Sache selbst begründet liegen, aber Straussens Intensionen verfälschen. Dazu gebören vor allem jene Überraschungsmomente, die Strauss durch kleine Zäsuren oder Ritenuto-Takte erreichte, die aber dann - weil jeder sie erwartete - immer grösser ausgespielt wurden.
Besonders betroffen davon ist das «Brüderlein und Schwesterlein» im Finale des 2. Aktes, das eine Fulle von Temporückungen, Ritardandi und Accelerandi aufweist, die durch keine Quelle belegt sind. Laut Siegfried Loewy ärgerte sich die Witwe von Strauss über diese Verzögerungen und Beschleunigungen: «Ich möchte wissen, wer das aufgebracht hat!» Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Strauss jede Fermate, jedes Ritenuto in einer Fussnote erläuterte, offensichtlich um Übertreibungen vorzubeugen.
In noch höherem Masse als andere Komponisten des 19. Jahrhunderts wurde Strauss durch nachfolgende Bearbeiter verfälscht, denn es war üblich, dass die diversen Militärkapellmeister, die auch jeweils über ein eigenes Streichocchester verfügten, seine Werke für ihre Ensembles adaptierten - eine Praxis, die dann insbesondere nach 1931, als die Urheberrechte frei wurden, auch von zahlreichen Rundfunkanstalten gepflegt wurde. Von der «Fledermaus», deren Autograph nicht vollständig überliefert ist, tauchten in den letzten Jahren interessante Quellen auf - u.a. eine handschriftliche Verlagspartitur, die vermutlich direkt vom Autograph abgeschrieben wurde, eine autographe Partitur aus dem Privatbesitz von Johann Strauss, eine handschriftliche Partitur aus dem Archiv des tschechischen Nationaltheaters in Prag. Diese wurden für die 1999 erschienene Neuedition des Werkos im Rahmen der Neuen Johann Strauss Gesamtausgabe ausgewertet, die der Zürcher Neueinstudierung zugrunde liegt.
Auch wenn in einzelnen Fällen diese Quellen voneinander abweichen und es im Ermessen des Dirigenten liegt, welcher man den Vorzug gibt, so steht mit dieser Partitur eine verlässliche Ausgabe zur Verfügung, die in vielen Details der Phrasierung, Instrumentierung, der dynamischen Vorschriften und Tempoangaben zeigen, dass der unbearbeitete Straussviel transparenter und klarer und für Nikolaus Harnoncourt so perfekt komponiert und instrumentiert wie Brahms oder Dvorak ist. Darüber hinaus zeigt sich auch, dass man heute seine Musik meist zu schnell und zu laut spielt: Es gibt so viele piani und pianissimi. Und wenn man wirklich all das hörbar machen will, was dasteht und was man daher hören soll, ist Transparenz und Delikatesse vonnöten. Die Trennung in E- und U-Musik ist für den Dirigenten verantwortlich für die Verkitschung von Strauss, denn man hat ihn brutal der U-Musik zugeordnet. Von der «Fledermaus» erwartet man die fröhlichste Musik der Welt, ein ganz bestimmtes, sehr leicht verstehbares Genre; Tänze, Lieder und Arien, zu denen man schunkeln kann, die sehr schön sind, die man nachpfeifen kann, die ins Ohr gehen. Aber in Wirklichkeit ist die Strausssche Musik doppelbödig, eben wienerisch - eine sehr zwiespaltige Mischung, die auch Traurigkeit und eine gewisse Morbidität einschliesst. Das macht die Tiefe und Vielschichtigkeit seiner Musik aus.
Und so sind dem Dirigenten bei seiner Probenarbeit nicht nur die instrumentalen Zwischentöne wichtig, sondern auch die feinen Abstufungen zwischen Sprechen und Singen, die Strauss der Partitur einkomponiert hat. Nicht in erster Linie wohltonenden Operogesang zu produzieren gilt es daher für die Sängerinnen und Sänger, sondern aus der Musik heraus glaubhafte Charaktere zu entwickeln: der als Choleriker gezeichnete Eisenstein, der Wirbelwind Adele, der in seinem politisch durchaus nicht korrekten Couplet von barbarischen Gelüsten geleitete Orlofsky oder der «grosse Verführer» Eisenstein, für den Strauss besondere Klangmagie zu entfalten verstand. Besonders eindrücklich sind jene Momente im Duett des ersten Aktes komponiert, wo Falke dem Eisenstein gleichsam Gift eintraufelt («Du musst dir's vergonnen, zur Gesundheit ist's ja nötig»), um ihn zu dem Fest zu überreden. Diese wie auch jene Stelle, in der Eisenstein sich bereit erklärt, seine Frau zu hintergehen, («Doch meine Frau, die darf's nicht wissen») muss klingen wie im 1. Akt «Lulu»; unter Beteiligung der Harfe wird hier ein Klangspiel entwickelt, das Lüge heisst.
Das setzt sich dann fort mit dem «Bruderlein und Schwesterlein» im zweiten Akt, das Nikolaus Harnoncourt als Kernstück des Werkes bezeichnet und dessen «Duidu» für ihn das Losungswort der «Fledermaus» ist.
Was hier passiert, muss man aus der Entstehungszeit des Werkes heraus begreifen, einer Zeit, in der sich sogar Eheleute in der Öffentlichkeit siezten. Wollte man Falkes Aufruf zur Verbrüderung von einander völlig Fremden in unsere Zeit übersetzen, er käme einer Aufforderung zum Gruppensex gleich. Falke entpuppt sich hier als ein Psycho-Mephisto, dem diabolische Verführungsklänge im 3/4-Takt zur Verfügung stehen: Nur im Walzer, der in der «Fledermaus» sehr gezielt immer dort auftaucht, wo es um Verführung geht, findet man Glückseligkeit, kann man sich vergessen. Das versuchte sich zuvor schon Alfred zunutze zu machen, wenn er Rosalinde mit seinem «Glücklich ist, wer vergisst» bedrängt.
HOME