Tages Anzeiger, 20. März 2000
 

Thomas Meyer

Die hehre Einfalt des sonnigen Klassizismus

 

Glucks «Orphée et Euridice» ist ein Stück für kindliche Gemüter, und genau auf dieser Ebene spricht die neue Zürcher Inszenierung das Publikum an.
Unglaublich mutets uns heute an, dass diese Musik einst die Gemüter in Wien und Paris derart bewegen konnte. Eine Opernreform resultierte daraus, die weit bis ins 19. Jahrhundert hinein wirkte. Dabei entlädt Christoph Willibald Glucks Oper weder die starken Affekte seiner Vorgänger (wie etwa Rameau), noch dringt sie zu einer psychologischen Feinzeichnung vor wie wenig später Haydn und vor allem Mozart. Haydns Orpheus-Version "L'anima del filosofo" enthält eine dramatisch weitaus spannungsgeladenere Musik. An Psychologie hat Gluck nichts zu bieten; er ist Mythologe. Seine Musik ist schön, aber etwas einfältig; seine Dramatik empfindsam, aber ziemlich statisch. Ist also sein Werk nicht obsolet geworden? Wenn Gluck schon ein Langweiler ist - wie Dirigent William Christie (TA vom 13. März) betonte -, auf welche Weise soll man ihn denn noch auf die Bühne bringen? Der musikhistorische Kontext, der ihn zur Reformoper führte, ist längst dahin. Die französische und die italienische Barockoper (inkl. Händel) werden andernorts (leider nicht in Zürich) wieder aufgeführt. Inmitten ihrer Vitalität hat es der Ritter Gluck schwer. Und ein Parforce-Ritt dürfte seiner klassizistischen Einfalt kaum aufhelfen.
Die Zürcher Aufführung hat sich derlei Anstrengungen kaum vorgenommen - glücklicherweise nicht, sie wären dem Gegenstand unangemessen. William Christie versteht Gluck aus seiner Zeit heraus, als einen Komponisten, der italienischen und besonders in der hier verwendeten Pariser Fassung von 1774 französischen Vorbildern nachstrebt. "Orphée et Euridice" mag ein erstes Beispiel für einen internationalen klassizistischen Musikstil sein; die Wurzeln aber reichen nach Frankreich zurück. Christie betont den Spaltklang, stellt die Bläser als Farbakzente und eigene Linien über die Streicher. Sie heben sich deutlich ab, stechen zuweilen fast hervor. Das Klangbild ist nicht klassisch ausbalanciert, wie in Harnoncourts Mozarts - und dabei auch weniger aus dem Innern theatralisch bewegt. Glucks Orchestermusik entwickelt gleichsam Klangbilder, die gelegentlich zu gefrieren scheinen und doch eine eigene Vitalität entwickeln.
Feinfühlige Darbietung
Das erklingt hier ohne gesuchten Effekt. Erst beim Happyend treibt Christie die Musik an - auf ein strahlendes Ende hin. Aber sonst unterbleibt jegliches Forcieren. Im Gegenteil: die Gewissenhaftigkeit gegenüber der Homogenität des Werks führte Christie dazu, die harsch-rasante, aber als frivol empfundene Ouvertüre durch eine beseeltere Ballettmusik zu ersetzen. Nein: Gluck wird hier nicht gegen seine Verächter verteidigt; Christies Herz schlägt spürbar für andere Komponisten, und doch ersteht die Musik in ihrer Schönheit. Das Ensemble La Scintilla, Harnoncourt-erfahren und auf historischen Instrumenten spielend, stürzt sich mit Engagement ins Abenteuer. Es ist - sogleich hörbar - ein anderer Sound, als wir ihn etwa von der «Così» her gewohnt sind: aufgerauter, analytischer (und zumindest in der Premiere auch noch etwas unausgeglichen und ungenau). Christie streicht heraus, dass Glucks Musik sein Publikum gerade durch instrumentale Einlagen betörte, etwa durch das Flötensolo im Reigen der seligen Geister, dessen feinfühlige Darbietung hier, stellvertretend für manch anderes, hervorgehoben sei. Nein: Bei allen Einwänden gegenüber Glucks Musik werden hier auch seine eminenten Qualitäten deutlich.
Die Regisseurin Liliana Cavani setzt bei einem anderen Punkt an: Nichts von psychologischer Darstellung (die bei Gluck sowieso nicht angelegt ist); nichts auch von gesuchter Aktualität, obwohl die Kostüme (Gabriella Pescucci) ins Italien des frühen 20. Jahrhunderts verweisen und obwohl ein paar italienische Gebräuche angedeutet werden. Derlei betont vielmehr den mediterranen Charakter des Mythos. Nicht einmal die Fahrräder stören. Im Gegenteil: Noch nie habe ich einen überzeugenderen Amor auf der Bühne gesehen als diesen hier. Der geflügelte Liebesgott fliegt gleichsam auf dem Velo herein: eine glückliche, eine leichtfertige Figur. Martina Janková erscheint vom Stimmlichen (einem agilen, hellen Sopran), aber auch von Statur und Mimik her als Idealbesetzung.
Luzidität
Diese Leichtigkeit bestimmt die beiden Stunden: Helle Farben dominieren (ausser bei den Furien). Eine rustikale Szene mit Ruinen und Kornfeldern im 1. Akt, eine lustwandelnde Gesellschaft seliger Geister im Hades, ein antikes Theater zum Schluss: Im Bühnenbild von Dante Ferretti leuchtet die Sonne eines hellenischen Süditalien. Das und die ungezwungene Einfachheit der Darstellung verleihen dem Werk jene Luzidität, deren es bedarf.
Diese Klarheit bewegt sich allerdings häufig in der Nähe von Opernklischees und fällt mehrmals dorthin zurück: Der Chor wiegt sich im Rhythmus, der Tenor steht an der Rampe. Es bleibt bei Sängergesten. Lieber nichts als etwas Unnötiges. Wenn Cavani einmal ein Bild entwickelt wie das eines freudig um Orphée kreisenden Radfahrerquartetts, vermag sie kaum etwas damit anzufangen. Alles scheint sagen zu wollen: Macht euch keine tieferen Gedanken über die Inszenierung; ich will euch einfach eine schöne Geschichte erzählen. Das verstehen auch kindliche Gemüter. Gerade dadurch erzielte Gluck einst seine Wirkung. Auch das Zürcher Publikum schien am Samstag davon angetan.
Bedrängte Stimmen
So setzt die Regisseurin auf die schlichte Strahlkraft des Mythos. Auf die Dauer freilich ist das zu wenig. Gerade die Hauptfiguren wirken seltsam blass, ja eindimensional. Der Orphée ist kein strahlender Sängerheld, sondern eher zaghaft und gebrochen. Er wird kaum aktiv, sondern hat bloss Glück. Gerade im ersten Akt zeigt sich auch, wie heikel diese Vokalpartie ist, die Gluck für Paris schrieb. Deon van der Walt verfügt über einen schlanken, hellen Tenor, er reicht mühelos in die Höhe, setzt feine Töne. Mühe bekundet er allenfalls in einigen Koloraturen. Und auch Luba Orgonasovas Euridice fehlt es an Leidenschaft, so feinfühlig sie auch singen mag. Aus dem grossen Dialog des dritten Akts entwickelt sich kaum tiefe Verzweiflung, sondern nur distanzierte Klage. Es bewegt sich im Rahmen einer Kinderoper.
Kommt hinzu, dass die Stimmen gelegentlich vom Orchester bedrängt, wenn auch nicht übertönt werden. Am bedauerlichsten ist das beim effektvollen Auftritt der Furien. Cavani platziert den Chor so weit im Hintergrund, dass er gegenüber den Bläsern fast untergeht und nie die wilde Kraft des Underground entwickelt. Die Wucht dieser Szene: verschenkt. So erscheint die hehre Einfalt des Werks doch fast eine Nummer zu klein. Bei allen Einwänden: Das ist nicht mal unsympathisch: Nicht zu viel gemacht, um diesen Orphée aufzupeppen, aber gerade so viel, dass er einen doch berühren kann.