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1997
46. Jahrgang
Ausgabe 11
November

© nmz und
autoren 1997

  nmz - neue musikzeitung

Rezensionen
Tonträger
Seite 13

Autor:
Peter P. Pachl

 

Triumph des Geistes über die Vergänglichkeit

Neue Aufnahmen von Werken Alexander Zemlinskys machen Lust auf mehr

Alexander Zemlinsky: Eine florentinische Tragödie, op. 16; Gürzenich-Orchester Kölner Philharmoniker, James Conlon; EMI 5 56472 2
Alexander Zemlinsky: Cymbeline-Suite; Frühlingsbegräbnis; Ein Tanzpoem; Gürzenich-Orchester Kölner Philharmoniker, Chor des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf e.V., James Conlon; EMI 5 56474 2
Alexander Zemlinsky: Sinfonie d-Moll, Waldgespräch; Frühlingsbegräbnis; Maiblumen blühten überall; Chor und Symphonieorchester des NDR, Antony Beaumont; Capriccio 10 740
Alexander Zemlinsky: Zwei Sätze für Streichquartett (1929); Zwei Sätze für Streichquintett (1894–96); Arnold Schönberg: Streichquartett D-Dur (1897); Trio op. 45 (1946); Corda Quartett; Stradivarius STR 33438
Über die von Antony Beaumont nach dem Zemlinskys Particell fertiggestellte Oper „Der König Kandaules“ äußerte vor einigen Monaten ein lebender Avantgardekomponist voller Abscheu, man brächte nun schon Opern zur Uraufführung, die gar keine wären. Die unabhängige Bewertung der Kritiker im Jahrbuch der Zeitschrift „Opernwelt“ muß ihm geradezu als Hohn in den Ohren klingen, zumal gerade Zemlinskys letzte Oper als herausragendes Erlebnis der vergangenen Opernsaison gewürdigt wurde. Und die Flut von „Neuem“ aus der Feder des 1942 im amerikanischen Exil verstorbenen Komponisten hält an.

Auf der Klassik Komm. wurden nunmehr vier neue CD-Veröf-fentlichungen „World PremiereRecordings“ präsentiert, teilweise „Weltpremieren“ bei unterschiedlichen Labels in Konkurrenz-aufnahmen. Gemeinsam mit Arnold Schönbergs frühem Streichquartett D-Dur, das der 23jährige vor genau 100 Jahren komponierte, aber nicht in seine Opus-Liste aufgenommen hat, läßt das Corda Quartett zwei Streichquintett-Sätze Zemlinskys, die Mitte der 90er Jahre entstanden sind, erklingen. Das LaSalle Quartett, auf DG mit Zemlinskys vier Streichquartetten Vorreiter für die Zemlinsky-Renaissance, verzichtete doch selbst bei der nach den Einzelausgaben komplett erschienenen Einspielung in der Schallplattenkassette auf das Fragment eines Streichquartetts aus dem Jahre 1929 (und füllte auf mit Hans Erich Apostels erstem Streichquartett). Dabei schließen die zwei separaten Streichquartett-Sätze, die das Corda Quartett, korrespondierend zu Schönbergs spätem Trio op. 45, ersteingespielt hat, die Lücke in der kompositorischen Entwicklung zwischen 3. und 4. Quartett, zwischen der „Lyrischen Symphonie“ und dem „Kreidekreis“.

Vor einem Jahr ist bei EMI erstmals originalgetreu der Wilde-Einakter „Der Zwerg“ erschienen. Fortgesetzt wurde die Reihe nunmehr mit Zemlinskys anderem Wilde-Einakter „Eine florentinische Tragödie“. Im Gegensatz zur Schwann-Einspielung der Hamburger Staatsopern-Produktion unter Gerd Albrecht (CD 11625) verwendete Conlon für die Kölner konzertante Aufführung Zemlinskys letzte Partitur-Revision, weshalb sich dann die Aufnahme etwas hochtrabend „Live-Mitschnitt der Uraufführung der Ausgabe letzter Hand des Komponisten“ nennt. Was aber ist anders an dieser Ausgabe? Zemlinskys Retuschen für seine eigene Einstudierung der Oper, 1917 in Prag, sind deutlich sängerfreundlicher als die Partitur der im selben Jahr in Stuttgart uraufgeführten Version, in der das Orchester die Sänger häufig zu überdecken drohte. Da sich die Orchesterstimmen im Prager Nationaltheater fanden, konnten Zemlinskys Korrekturen neuerlich implementiert werden. Die fallen dem Hörer der CD, aufgrund der direkten Sängermikrofone sicherlich weniger auf als bei einer Aufführung. James Conlon exerziert die in der Musikalisierung von Sinnlichkeit Strauss mühelos übertreffende Partitur mit breiter Hingebung an die tönende Unmoral der Szene. Während sich Richard Strauss in seiner Wilde-Vertonung, der „Salome“, an eine süßliche Zeichnung von Äußerlichkeiten klammert und dem Wortgebäude Wildes mit kleinlicher Detailzeichnung nachhinkt, dringt Zemlinsky zum Kern der Wildeschen Dichtung vor. Dem, was Wilde mit dem Sinn des Sinnnesmenschen verbal kreiert, bemüht sich Zemlinskys Partitur noch vorauszueilen: unter ekstatischen Zuckungen der Wollust gebiert so Wilde eine wilde, ungeheuerliche und jeden bisherigen Rahmen sprengende Suada. Kaum hat sich der Hörer dieser Oper auf eine Erzählebene eingelassen, nimmt die Musik schon wieder eine neue Perspektive ein, und zwingt zum Umdenken und Umhören. Denn die Opernhandlung spielt die Grundsituation des Konfliktes eines heimkehrenden und seine Frau in flagranti ertappenden Ehemannes nicht nur einmal durch.

Deborah Voigt erliegt nicht der Versuchung, mit der Bianca eine zweite Salome zu formen, sondern entfaltet stimmlich berückend und mit großer Textverständlichkeit die bürgerliche Doppelmoral. Donnie Ray Albert ist auf jener „Weltenbühne“, die im Verlauf der Handlung immer wieder neu definiert wird, ein kraftvoll menschlicher Kaufmann Simone, der lyrische Tenor David Kuebler ein eher zurückhaltender, dekadenter Prinz. Ebenfalls als Konzertmitschnitt veröffentlicht die EMI weitere Bühnenkompositionen Zemlinskys. Auch hier ist die Klassifizierung „Ersteinspielungen“ nicht in jedem Falle zutreffend, denn das 1992 am Opernhaus Zürich szenisch uraufgeführte „Tanzpoem“ ist unter dem originalen Titel „Das gläserne Herz“ bereits im Jahre 1990 bei Marco Polo (CD 8.223166) erschienen und drei Stücke daraus enthält die Capriccio-CD mit dem Philharmonischen Staatsorchester unter Gerd Albrecht (CD 10 448). Zemlinskys „Tanzpoem in einem Aufzug von Hugo von Hofmannsthal“ konkludiert die fertiggestellten Teile des Hofmannsthal-Balletts „Der Triumph der Zeit“, dessen komplette Ausführung unterblieb, da Gustav Mahler gegen die optierte Aufführung an der Wiener Hofoper votierte. Dabei übertrifft Conlons Interpretation mit den Kölner Philharmonikern die von Ludovit Rajter auf dem Hong-Kong-Label, insbesondere in der Rasanz des Presto-Satzes. Eine echte Novität und obendrein einen musikalischen Gewinn bedeutet jedoch die Schauspielmusik zu Shakespeares „Cymbeline“, fünf Bühnenmusiken, die vom Mannheimer Hof- und Nationaltheater in Auftrag gegeben, aufgrund des ersten Weltkriegs nicht realisiert wurden. Sie können als ein musikalisches Pendant zu Humperdincks Shakespeare-Bühnenmusiken für Max Reinhardt angesehen werden. Die Kantate „Frühlingsbegräbnis“ auf einen Text von Paul Heyse hat der Komponist im Jahre 1900 „dem Andenken Johannes Brahms’ gewidmet“. Mit den Solisten der „Florentinischen Tragödie“ hat Conlon auch Zemlinskys überarbeitete Version aus dem Jahre 1903 uraufgeführt und auf CD festgehalten.

Die farbenfreudige, äußerst wirksame Komposition, deren Besetzungsansprüche Brahms’ „Deutschem Requiem“ entsprechen, aber einmal mehr im Schaffen Zemlinskys die Welten von Brahms und Wagner zu vereinigen suchen, hat Herausgeber Antony Beaumont – als Koproduktion mit dem NDR – für Capriccio eingespielt und in der Interpretation eine deutlich eigene Note abgewonnen. Den Solisten, der brillant klaren Edith Mathis und dem immer noch ausdrucksstarken und frühere Übertreibungen meidenden Bariton Roland Hermann, gebe ich den Vorzug vor den Kölner Kollegen. Ebenfalls als „Weltpremiere“ verkauft Capriccio Zemlinskys äußerst wirkungsvolle 1. Symphonie in d-Moll aus den Jahren 1892/93, nachdem Beaumont den auf der Ersteinspielung bei Marco Polo (CD 8.223166) fehlenden Finalsatz wiederaufgefunden hat. Und die schließt mit einer echten Uraufführung, dem Fragment der Vertonung von Richard Dehmels Gedicht „Die Magd“, das Zemlinsky ca. 1903 für Sopran und Streichsextett gesetzt hat. Offenbar hat den Komponisten nach Vertonung von zwei der sechs Strophen die Lust – oder die Aufführungschance – verlassen. Dem heutigen Hörer weckt auch dieses neunminütige, leidenschaftlich pulsierende Fragment durchaus Lust auf noch mehr Entdeckungen im Nachlaß jenes Komponisten, der stets seine Zeitströmungen aufgriff, zwar nie seiner Zeit voraus war, aber stets ihrer Spitze.

Peter P. Pachl

 


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