"LA GRANDE-DUCHESSE DE GÉROLSTEIN"

 

 

> Am 1. April 1867 eröffnete Kaiser Napoléon III. die 2. Pariser Weltausstellung; 32 Nationen stellten ihre Produkte in dem von Frédéric Le Play entworfenen Ausstellungsgebäude auf dem Marsfeld aus. Acht Galerien nahmen die Waren auf, wobei ein äusserer, offener Umgang mit Cafés und Restaurants zu dem hinzugewonnenen Park überleitete. Die zweite und grösste Galerie war den Maschinen vorbehalten. Durchschritt man die Galerien des ovalen Baus in der Längsrichtung, so konnte man die Beiträge zu einer Warengattung aus allen Nationen vergleichen und wurde wieder zum Ausgangspunkt zurück geführt. Wollte man dagegen die gesamte Produktion eines Landes sehen, so genügte es, einen Sektor des Ovals zu besuchen. Auf diese Weise war eine übersichtliche und unparteiische Aufstellung möglich. Die Ausstellung wurde zu einem ununterbrochenen Fest, das den ganzen Sommer hindurch dauerte; bis tief in die Nacht hinein waren die Hallen geöffnet, und in dem angrenzenden Park sah man Besucher beim Schein elektrischer Bogenlampen ausschwärmen, während die orientalischen Pavillons einen fremdartigen Zauber verbreiteten. Die unglaublichsten Dinge wurden den zehn Millionen Besuchern gezeigt: ein siamesischer Elefant, Krupps «Grosse Kanone», eine Maschine, die man mit Kaninchenfellen fütterte und die dann fertige Filzhüte ausspuckte, und andere Kuriositäten. In einer erstmals eigens der menschlichen Arbeit gewidmeten Schau äusserte sich das neu entstehende demokratische Bewusstsein.

Sehenswert war aber auch das Neue Paris, das von Baron Haussmann im Auftrag Napoléons in den letzten Jahren errichtet worden war: mehr als 15.000 alte Häuser waren zerstört und durch 24.000 neue Gebäude ersetzt worden. Neu entstanden waren etwa 200 Boulevards und Strassen, 8 Kirchen, 80 Schulen, 2 Brücken sowie Bahnhöfe und Zentralhallen. Die Grosszügigkeit und Grossartigkeit, mit der diese radikale Umwandlung vollzogen wurde, dienten unter anderem dem Zweck, die Elendsquartiere verschwinden zu lassen, zum einen, weil sie ungesund waren, zum anderen weil sie radikalen Elementen als Zufluchtsstätte dienten und den Bau von Barrikaden begünstigte. Der Kaiser wollte sich auf kein Risiko einlassen und die Ausstellung wurde zum Höhepunkt und zur Apotheose des Zweiten Kaiserreiches: «Noch nie war eine Stadt von einer so gewaltigen und überschäumenden Lebensfreude besessen, noch nie eine Stadt so von Stolz und Übermut berauscht, von einem so masslosen Festestaumel ergriffen, wie jetzt Paris!» notierte ein Chronist. Noch einmal wurden alle Register gezogen, um das politische Grollen, das sich in das glänzende Feuerwerk mischte, zu übertönen. «Fest des Friedens» nannte der Kaiser diese Demonstration der französischen Vormachtstellung in Kunst und Wissenschaft, Industrie und Handel - und verschloss damit noch einmal seine Augen vor der Wirklichkeit.

Wie Napoléon III. erlebte auch Jacques Offenbach im Ausstellungsjahr 1867 den Höhepunkt seiner Karriere. Zusammen mit seinen kongenialen Librettisten Ludovic Halévy und Henri Meilhac konnte er schon mit dem im Hinblick auf die Weltausstellung geschriebenen «La Vie Parisienne» im Oktober 1866 einen Sensationserfolg verbuchen - keine Hofsatire auf mythologischer oder historisch verbrämter Folie mehr wie die vorausgegangenen Offenbachiaden, sondern ein musikalischer Reiseführer, der die wichtigsten Schauplätze und Situationen des mondänen Paris vorführt. Und nur dem hellhörigen Zuschauer wird aufgefallen sein, das in keiner anderen Offenbach-Operette bisher so viele Feste gefeiert wurden, der Rausch intensiviert werden musste, um alles zu betäuben - etwa die Vorahnung einer gar nicht so unbedenklichen Zukunft im Lied der kleinen Handschuhmacherin. «La Vie Parisienne» ist ein grosser, ein gewaltiger Erfolg, vielleicht unser grösster» notierte Halévy; doch da sollte er sich irren.

Zwölf Tage nach der Eröffnung der Weltausstellung hebt sich der Vorhang im Théâtre des Variétés zu der mit grösster Spannung erwarteten Uraufführung von «La Grande-Duchesse de Gérolstein». Gerüchte waren im Umlauf, die Handlung sei nur auf Veranlassung der Zensoren nach Gérolstein verlegt worden, jenen deutschen Kleinstaat, den Eugène Sue für seinen damals allseits bekannten Roman «Mystères de Paris» erfunden hatte; in Wahrheit verspotte die neue Operette die Amouren Katharinas II. und den russischen Hof. In der Tat gab es im Vorfeld der Premiere Ärger mit der Zensur, die aufgrund der zahlreich zu erwartenden gekrönten Häupter, darunter Katharinas Urenkel Zar Alexander II., extrem nervös reagierte. Das ursprünglich nur «La Grande-Duchesse» betitelte Werk musste also lokalisiert werden, wenn auch nur in einem Fantasieland. Misstrauen weckte auch die Aussage des von der Grossherzogin zum General beförderten Soldaten Fritz, er habe «den Krieg in achtzehn Tagen gewonnen», also genau jene Zeitspanne, die die preussische Kampagne in Anspruch genommen hatte, die mit Moltkes Sieg über die Osterreicher bei Königgrätz endete. Da auch der König von Preussen die Ausstellung mit Bismarck und Moltke besuchen würde, mussten die «achtzehn Tage» auf «vier» verkürzt werden.

Erstaunlich dagegen, dass die Begründung für den Krieg, den in der Operette die Gérolsteinschen Truppen gegen einen anderen Zwergstaat führen, nicht beanstandet wurde. Er sei - so einer der Minister der Grossherzogin -notwendig, um die Herrscherin von anderen Gedanken abzulenken, die die Machtposition ihrer Ratgeber schwächen oder gar stürzen könnte. Überliefert ist der Kommentar eines politischen Beobachters, Halévys unehelicher Halbbruder Prévost-Paradol, der die in Frankreich herrschende Furcht vor einem neuen Krieg als dem Kaiser durchaus willkommen bezeichnete angesichts der sich ausbreitenden liberalen Bewegung: «Der Gedanke, die Geister mittels des Krieges zu zerstreuen und sie durch Hoffnung auf eine territoriale Vergrösserung abzulenken, ist leider nur zu natürlich, und jeder weiss, dass es am häufigsten absolute Regierungen sind, denen sich dieser Ausweg aus einer schwierigen Situation wie von selbst anbietet. »

«Wir nehmen» - so notierte Halévy in seinem Tagebuch - «den Krieg aufs Korn, den Krieg, der vor unseren Toren steht.» Das Autorentrio zeigt den Krieg als Gesellschaftsspiel, als Mittel gegen Langeweile und zur Befriedigung persönlicher Machtgelüste und keiner im damaligen Paris wollte sich diese Satire auf Militarismus, Günstlingswirtschaft und Kleinstaaterei entgehen lassen. Erstaunlicherweise vor allem nicht jene, die darin Zielscheibe des Spottes und der Ironie waren: die Generalität, die fürstlichen und diplomatischen Durchlauchtigkeiten; ausgerechnet sie waren die eifrigsten Besucher der «Grande-Duchesse de Gérolstein». Unter den 57 gekrönten Häuptern befanden sich neben dem Kaiser, der die Vorstellung mit seinem Hof gleich zwölfmal besuchte, die Könige von Bayern, Belgien und Portugal, der Prince of Wales, der russische Zar samt seinem Thronfolger, der Vizekönig von Ägypten, der Sultan der Türkei sowie der Bruder des Kaisers von China.

Besonderen Gefallen soll Fürst Otto von Bismarck an der «Grande-Duchesse» gefunden haben, denn der darin zur Schau gestellte militärische Geist ebenso wie die ins Lächerliche gezogene deutsche Kleinstaaterei waren ganz in seinem Sinne. Die alles in den Schatten stellende Begeisterung für dieses Werk fand erst mit dem Krieg von 1870/71 ein jähes Ende.

Bei der Uraufführung allerdings sahen sich die Autoren in ihren Erwartungen zunächst enttäuscht. Zwar war das Publikum - wie Halévy notierte - ab dem Auftritt von General Boum «wie in Ekstase und blieb es bis in die Mitte des zweiten Akts. Was für ein Anfang! Zu gut, um wahr zu sein!»

Und weiter heisst es: « Wir spürten, dass wir von diesem Erfolg begeistert und zugleich geängstigt waren. Wir hatten allen Grund zur Angst. Der (Carillon de ma grand-mère> [das ursprüngliche Finale des 2. Aktes] versetzte der Begeisterung eine kalte Dusche, und der dritte Akt mit der Segnung der Dolche und den Schleifsteinen (die waren schrecklich!) waren nicht dazu angetan, die gute Laune des Publikums wiederherzustellen. Die Vorstellung ging eine halbe Stunde nach Mitternacht zu Ende... ob gut oder schlecht war schwer zu sagen. Sogar gewiegte Theaterleute waren im Zweifel. War es ein grosser Erfolg? ein mittlerer? ein Durchfall? Die Meinungen waren geteilt, unsere Freunde wussten nicht, was sie uns sagen sollten.» Für den versierten Theatermann Offenbach aber war klar, dass er Änderungen anbringen musste: «Ich werde einige kleine Striche machen», teilte er seinen Librettisten mit.