PROGRAMMBUCH

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DAS PROGRAMMBUCH
DES OPERNHAUSES ZÜRICH


18 FARBIGE BÜHNENFOTOS



JÜRGEN FLIMM

LA GRANDE-DUCHESSE DE GÉROLSTEIN


DAS LEITUNGSTEAM IM GESPRÄCH

GÉROLSTEIN IST ÜBERALL


OSCAR BIE

HOMMAGE À JACQUES OFFENBACH


ARNOLD HAUSER

DAS ZWEITE
KAISERREICH UND DIE OPERETTE

TRADUZIONE IN ITALIANO



RONNY DIETRICH

JACQUES OFFENBACH
SPIEGEL UND EULESPIEGEL SEINER ZEIT



LIBRETTO AUF FRANZÖSISCH
DEUTSCHE ÜBERSETZUNG: RONNY DIETRICH
DIALOGFASSUNG: JÜRGEN FLIMM




COPYRIGHT: BY CLÄRCHEN UND MATTHIAS BAUS, BERG.
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RONNY DIETRICH

JACQUES OFFENBACH
SPIEGEL UND EULESPIEGEL SEINER ZEIT

Seit Siegfried Kracauer 1937 den Versuch unternahm, mit der Gesellschaftsbiographie «Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit» die starken Wechselbeziehungen zwischen Komponist und Zweitem Kaiserreich aufzuzeigen, ist es üblich geworden, niemals von dem einen zu sprechen ohne das andere zu erwähnen.
Bestimmend für diese Sicht des Offenbachschen Œuvres sind die sogenannten Offenbachiaden, d. h. die dem grossen Publikum durch zahlreiche Bearbeitungen noch bekannten Werke wie «Orphée aux enfers», «La Belle Hélène», «La Vie Parisienne» oder «La Grande-Duchesse de Gérolstein». In der Tat sind die darin enthaltenen zeitgeschichtlichen Bezüge derart frappant, dass es durchaus gerechtfertigt erscheint, die Offenbachiaden als Spiegel oder Zerrspiegel der Zustände des Zweiten Kaiserreiches zu bezeichnen, «denn neben der Heiterkeit, neben der Komik und dem Humor sind Zeitkritik, Kritik der gesellschaftlichen und künstlerischen Erscheinung ihrer Entstehungszeit Hauptmerkmale der Offenbachiade» (P. W. Jacob).

Die Doppel- oder Vieldeutigkeit der Offenbachiade, die Dialektik von Kritik und Verherrlichung, das Changieren zwischen Skepsis und Optimismus ist jedoch nicht auf einen Dualismus in Offenbachs Wesen zurückzuführen, wie unter anderen auch P. Walter Jacob meint, sondern auf die unterschiedlichen Persönlichkeiten der Autoren Ludovic Halevy, Henri Meilhac und Jacques Offenbach. Zeitkritik und Kritik der gesellschaftlichen Erscheinung sind in erster Linie von Halevy initiiert, wären ohne seine Mitautorenschaft kaum denkbar. Offenbachs Spott und Karikatur bezieht sich ausschliesslich auf die musikalischen Zustände seiner Zeit; der Politik stand er eher naiv gegenüber, wie zum Teil aus seinen Briefen oder auch aus folgender - etwas sarkastischen Bemerkung Halévys hervorgeht: «Offenbach ist aus Stolz auf seinen Schwager Mitchell auf die Idee gekommen, seine Nase, diese drollige Nase eines Teufelchens, in die Politik zu stecken. Man muss ihn hören, es ist beispiellos. Er hat uns, Meilhac und mir, heute einen langen Vortrag gehalten, in dem von M. de Villèle und M. de Polignac die Rede war. Es war bewunderungswürdig, aber totaler Unsinn». Offenbachs immer wieder gerühmte Beteiligung an der Entstehung eines Librettos erschöpft sich in dem Interesse an bühnenwirksamer Komik und dramaturgischer Genauigkeit; inhaltliche Polemik überliess er Meilhac und Halévy.

Es sei aber unbestritten, dass Offenbach gerade an den Spitzfindigkeiten und satirischen Hieben dieser beiden Autoren seine helle Freude hatte und sein musikalisches Talent am wirkungsvollsten entfalten konnte. Jacques Offenbach, der naturalisierte Franzose und Ritter der Ehrenlegion, bewahrte sich dank seiner Herkunft und Erziehung lange Zeit einen klaren Blick für die Zustände und das Treiben in seiner zweiten Heimatstadt Paris. Früh erkannte er die Möglichkeit und das dazu Notwendige, um sich in ihr seinen Platz zu erobern, und er kannte auch als Künstler diesbezüglich keine Skrupel; dazu war er zu sehr Karrieremensch und zu wenig Musiker im traditionellen Sinne. Er scheute sich nicht, musikalische «Dreckarbeit» - die er nicht als solche empfand - zu leisten, um sein einmal gestecktes Ziel zu erreichen. Musik war sein einziges Kapital, und verschwenderisch wie er nun einmal war, ging er auch damit nicht sonderlich sparsam um. Dass er endlich aus der grossen Masse der Musiker herausragte, verdankte er der Originalität seiner Musik, die trotz der Anpassung an den herrschenden Publikumsgeschmack nicht im blöden Abklatsch stecken blieb, sondern sich schon sehr früh positiv abhob von den üblichen Musikproduktionen durch einen ironischen Unterton, der deutlich sein kritisches Bewusstsein den eigenen als auch den üblichen Massenproduktionen gegenüber verrät. Gleiches lässt sich auch über seine Tätigkeit als Cellovirtuose sagen: nach einem Bericht des «Artiste» von 1844 prägte eine geistreiche Dame das Wort, Offenbach spiele auf seinem Cello alle möglichen Instrumente, nur nicht das seinige. Offenbach benutzte das Cello nicht nur zur Demonstration seines Könnens, sondern die Komik, die die Nachahmung anderer Instrumente und auch Naturlaute hervorrief, macht zugleich die Grenzen und das Absurde des beliebten Virtuosentums deutlich.

«Übertreibung veranschaulicht» lautet Offenbachs Devise, und er tritt damit in die Fussstapfen eines anderen grossen Spottvogels: Till Eulenspiegel. Hermann Bote, der Verfasser von «Till Eulenspiegels lustige Streiche» (1510/11) schreibt: «Etliche Personen haben mich gedrängt, die grosse Satire der Zeit zu schreiben, in kurzweiligen Geschichten die böse Wahrheit zu offenbaren und mit drastischem Humor erträglich zu machen... um ein fröhlich Gemüt zu machen in schweren Zeiten...». Offenbachs Musik ist durchaus dem Humor Eulenspiegels vergleichbar: die hier wie dort erzielte Wirkung entspricht sich; das provozierte Lachen der zwar als Einzelperson nicht betroffenen, aber als Vertreter der gleichen Schicht doch gemeinten, war nicht selten ein krampfhaftes. Eulenspiegel entlarvt mit seinen Streichen Prunksucht, Selbstherrlichkeit, Leichtgläubigkeit und Dummheit. Meist gelingt ihm das dadurch, das er seine Mitmenschen beim Wort nimmt, ihre Verhaltensweisen übertreibt, in ernstem Ton die albernsten Dinge sagt, oder umgekehrt.

Die mit Hilfe von Sprache provozierten Missverständnisse decken nicht nur gesellschaftliche Zustände auf, sondern entlarven überkommene Redewendungen als sinnentleert und gedankenlos benutzt. Letzteres entspricht Offenbachs musikparodistischem Verfahren; abgenutzte musikalische Floskeln werden durch Übertreibung (endlose Sequenzierung oder Wiederholung) demaskiert, ihre Glaubwürdigkeit durch einen, dem musikalischen Ausdruck krass widersprechenden Text deutlich, bzw. durch masslos übertriebene Textausdichtung wird das artifizielle Wesen sinnfällig. Insgesamt war jedoch Offenbachs Humor weniger aggressiv; so war Eulenspiegel nach seinen Streichen meist gezwungen, sich aus dem Staub zu machen, während Offenbach an dem Ort seiner Erfolge weiterwirken konnte. Beide verstanden es aber, aus ihren «Streichen» ihren Vorteil zu ziehen.

Wolfgang Lindows Deutung der Eulenspiegelei als ein zeitgeschichtliches Phänomen kann ebenso gut auf die Offenbachschen Operetten angewendet werden: «Solche Schwänke sind Ausdruck eines sich wandelnden Weltbildes und einer im Umbruch befindlichen Zeit. Alte und gewohnte Normen haben ihre Verbindlichkeit verloren, und neue Massstäbe sind nocht nicht gesetzt. Es ist die Zeit der Bindungslosigkeit und der Zügellosigkeit, in die der Schwank durch Übertreibung klärend eingreift. Seine Vordergründigkeit bietet Gelegenheit zum Lachen über die Dummheit, doch er führt auch zur Einsicht und zur Überprüfung einer bestimmten Verhaltensweise gegenüber der Realität des Daseins».

© OPERNHAUS ZÜRICH.
Per gentile concessione dell'autrice.