ELEKTRA

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DIE INTERPRETEN ÜBER DIE OPER

© Magazin Opernhaus Zürich.
Testo pubblicato con il consenso scritto della direzione
della Dramaturgie che il curatore del sito ringrazia di cuore


Für Christoph von Dohnanyi gehört «Elektra» zusammen mit der Salome, der Ariadne auf Naxos und der Frau ohne Schatten zu den Opern von Richard Strauss, die weit über ihre Entstehungszeit hinausweisen und damit auch für unsere Gegenwart hochinteressant sind. An erster Stelle steht für ihn immer die Frage nach der Gültigkeit der Aussage eines Werkes für die eigene Zeit, um dann zu versuchen, diese wieder so zu vermitteln, wie es von den Autoren intendiert war.
Vergegenwärtigt man sich die Wirkung, die Straussens Elektra auf seine Zeitgenossen ausübte, so gilt es, auch für heutige Ohren die ungeheure, durchaus auch schockierende Kraft der Partitur erfahrbar werden zu lassen, d.h. harmonisch erschreckende Momente, wie etwa gleich die d-moll-Schläge zu Beginn, aber auch Akzente und Crescendi extremer zu zeichnen. Neben diesen mehr äusserlichen Effekten,die in einer so reizüberfluteten Zeit wie der unsrigen anders gestaltet werden müssen, gründet die Modernität dieser Oper aber im kompositorischen Umgang mit den überlieferten Parametern. Weitaus konsequenter noch als bei Richard Wagner baut in der Elektra alles auf der Sprache auf, leitet sich aus den Hebungen und Senkungen der Sprachmelodie her. Christoph von Dohnanyi erinnert in diesem Zusammenhang an Clemens Krauss, der zurecht der Überzeugung war, dass man bei Strauss das Parlando beherrschen müsse, andernfalls sei man verloren. Bei den Proben verweist der Dirigent daher immer wieder auf den Rhythmus der gesprochenen Sprache, der für die Wahl der musikalischen Tempi ausschlaggebend ist, was nicht selten zu überraschenden Ergebnissen führt. Der Komponist selbst schrieb später in Erinnerung an die Elektra-Première: «damals ahnte mir schon, wie grundlegend mein Gesangsstil sich selbst vom Wagnerischen unterscheidet.»
In der Instrumentierung zeigt sich aber auch deutlich, wann Strauss die Vorherrschaft der Musik überlassen wollte. Im Schlussduett von Elektra und Chrysothemis beispielsweise liegt das Primat eindeutig auf dem durch die Orchesterklänge erzeugten Rausch. Bezeichnenderweise erbat sich Strauss von Hofmannsthal dafür «Schlussverse, die ich so viel als möglich zu erweitern bitte, als Zwiegesang von Elektra und Chrysothemis nebeneinander. Nichts Neues, nur Wiederholungen und Steigerungen desselben Inhalts.»
Der virtuose Umgang mit dem Orchester, die ausgefeilte motivische, auch leitmotivische Arbeit, die sich unausweichlich in das Unterbewusstsein der Zuhörer gräbt, die harmonischen Kühnheiten, die mit der Einführung der Bitonalität einen bis dahin unerhörten Gipfel erreichten, all das macht bis heute das Faszinosum einer Partitur aus, die-verglichen etwa mit den atonalen Werken Schönbergs - in ihrer Gesamtheit viel schwieriger zu erfassen ist. Genau darin verbirgt sich ein ungeheures Potential für jeden Interpreten, ein Potential, das - wiewohl immer werkimmanent zu lesen auch Freiräume lässt.
Regisseur Martin Kusej hat vor Beginn der Probenarbeit seine Gedanken zu Elektra für die Mitwirkenden der Produktion schriftlich festgehalten, um seine Herangehensweise an den Stoff und eine mögliche Richtung bzw. Atmosphäre seiner Inszenierung zu vermitteln. Im Folgenden zitieren wir einige Auszüge aus seiner mit «Die alte Ordnung Blut - Elektra» überschriebenen Annäherung.
Der Fluch der Götter lastet auf den Atriden. Mord, Inzest und Ehebruch durchziehen wie ein grausiger Blutfaden ihre Familiengeschichte. Tantalos, Sohn des Zeus und Urvater des Geschlechts, schlachtet seinen Sohn Pelops und tischt ihn den Göttern auf, um deren Allwissenheit zu prüfen, wofür er zu schecklichen Qualen in der Unterwelt verdammt wird. Sein Enkel Atreus (daher der Name Atriden), König von Mykene und Vater Agamemnons und Menelaos', tötet die Kinder seines Bruders Thyestes, weil dieser seine Frau Aerope verführt hat, und setzt sie - Versöhnung heuchelnd dem ahnungslosen Vater zum Mahle vor. Pelopeia, Atreus zweite Gattin, ist die Mutter von Aegisth. Den Sohn empfing sie jedoch nicht von ihrem Ehemann, sondern in einer inzestuösen Beziehung von Thyestes, dem eigenen Vater. Aegisth ermordet später Atreus. Agamemnon opfert, um die Ausfahrt des Heeres gegen Troja zu ermöglichen, seine Tochter Iphigenie, seine älteste Tochter aus der Ehe mit Klytemnästra. Er selbst wird bei der Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg (bei der er seine neue Geliebte Kassandra als Kriegsbeute mitbringt) von Klytemnästra, seiner Gattin, und deren Geliebten, Aegisth, ermordet. Agamemnons Sohn Orest rächt, nachdem er herangewachsen ist, den Tod des Vaters. Er tötet Aegisth sowie seine Mutter Klytemnästra und wird dafür von den Erinnyen verfolgt.
Beim flüchtigen Lesen dieser tausende Jahre alten Geschichte kann man die wahre Dimension des Schreckens aus Mord, Inzest, Ehebruch und Kannibalismus gar nicht wirklich erfassen. Angesichts der Schlagzeilenunserer täglichen Nachrichten wird aber rasch klar, dass sich eigentlich gar nicht viel geändert hat - nur die Frequenz dieser elementarsten Tabuverletzungen einer Gesellschaft hat sich rasend verschärft; und was früher Bestandteil der Herrscherdynastien war, findet nun im Internet, auf Autobahnraststätten, in Arztpraxen und, ja, auch in Jedermanns Wohn- bzw. Schlafzimmer statt...
Wenn nun der Sinn des frühen antiken Theaters darin bestanden haben mag, diese Schrecken zu bannen, indem sie auf einer Bühne öffentlich behandelt wurden, und die Menschen o auf ihrem mühsamen Weg in die Zivilisation zu begleiten, müssen wir uns eingestehen, dass dieser Impetus wohl als gescheitert zu betrachten ist.
Trotzdem ist ELEKTRA quer durch die Jahrhunderte eines der faszinierendsten Stücke des Theaters geblieben, und gerade die - im wahrsten Sinne des Wortes - «atemberaubende» Opern-Version von Richard Strauss überrollt einen in knapp zwei Stunden wie eine gigantische Lawine aus Emotion, Grauen, Dissonanz, Finsternis und Einsamkeit.
So ist es wohl nurmehr dieser ausgestellte Blick in den menschlichen Abgrund, der im Theater immer noch Sinn macht und der für mich primäre Motivation ist, dieses Stück zu erzählen. Es ist, als würde man eine verbotene Tür öffnen und die Hand wollte/könnte sie wegen der erlebten Ungeheuerlichen nicht mehr zufallen lassen... der Blick verharrt und verliert, verliebt sich fast in die Monstrosität dieser Frau, entsetzt sich an den Schrecken dieser Welt und ihrer Menschen, die immer noch die unsere ist. Das ist die Erkenntnis, die Selbst-Erkenntnis, aus der heraus man diese Tür doch erschrocken wieder zuschlägt - aber die Bilder wird man nie vergessen.
Wir wissen, dass das Tun der Straussschen Monster SALOME und ELEKTRA keinesfalls zur Maxime einer allgemein gültigen Ethik gemacht werden kann - im Gegenteil (und das finde ich besonders reizvoll): ihre Fremdheit, ihre Übertritte ins Abseits und Aussen, ihr existentielles Aussenseitertum bedeuten Erregung und Provokation, aber kein moralisches Kleingeld, das sich in Erkenntnis und Erbauung wechseln liesse. Man muss einfach akzeptieren, dass sie so weit über die Grenzen des Erträglichen und Denkbaren hinaustreten - das ist ihre einzige Mission; und das «Grauen sehen zu lassen».
ELEKTRA, Agamemnons und Klytämestras Tochter, ist Teil des oben beschriebenen Mythos aus Gewalt und Irrsinn. Nur allmählich erhält sie in d Literatur und auf dem Theater der Griechen ihren Platz und rückte erst bei Sophokles ins Zentrum des Geschehens. Es war der Beginn ihres Aufstiegs zu jener Titelheldin und tragischen Figur, die seit zweieinhalbtausend Jahren zu immer neuen Ausenandersetzungen herausfordert. Ihre Gestalt, ihr Racheverlangen, ihre Konfrontation mit der Umwelt, ihre Radikalität, aber auch ihre dumpfe Verbohrtheit und ihr blutiger Fanatismus beanspruchen immer wieder das Hauptinteresse des Zuschauers. ELEKTRA fasziniert. Und keiner der vielen unterschiedlichen Versuche, diese Frau bzw. dieses Phänomen zu erklären, erreichen annähernd die Dimension des Tatsächlichen. Es sind meist spiessige, verkrampfte, besserwisserische oder sonstwie ideologische Modelle, die an dem Abgründigen und Unfassbaren in ELEKTRA scheitern.
«Dem Publikum muss das Stück entzogen werden!» - dieser Satz von Heiner Müller versucht pointiert zu beschreiben, wie sehr diese Erklärungen und das «Zurechtrichtern» des Stücks von verschiedenen Exegeten und Musikwissenschaftlern, von Kritikern (die das Stück durchaus auch vehement verteufelten) und rechtschaffenen Zuschauern (die immer die «Moral der Geschichte» suchen) am eigentlichen Kern von ELEKTRA vorbeigehen. Im griechischen Theater galt noch die Forderung nach der Katharsis-schon zu Zeiten Hofmannsthals war von diesem Anspruch allerdings nicht mehr viel übrig geblieben; drängendere Probleme und neue tiefere Einblicke in das Wesen der menschlichen Seele bestimmten und faszinierten das Fin de siècle. Man fühlte - im Vorfeld des ersten Weltkriegs - vor allem die Grausamkeiten mit den Schrecken der griechischen Vorzeit. Hofmannsthal nimmt in seiner ELEKTRA-Version jene Humanisierung des Griechenbildes aus dem 19. Jahrhundert zurück, die in Goethes IPHIGENIE ihr hervorragendstes Beispiel gefunden hat. In der psychologischen Durchdringung der Titelgestalt geht Hofmannsthal weit über die Vorlage hinaus. Seine ELEKTRA ist Täterin und Opfer in einem. Ihr ganzes Dasein ist ausschliesslich auf den Akt der Vergeltung ausgerichtet. Als das herbeigesehnte Ereignis schliesslich eintrifft, wird sie davon zerstört. Gerade die Frage nach dem Ende der Oper bzw. der Titelfigur beschäftigte schon Strauss und Hofmannsthal unterschiedlich und sehr intensiv.
Es gibt keine explizite Beschreibung des Todes von Elektra in der Textfassung: «Elektra stürzt zusammen. Chrysothemis zu ihr. Elektra liegt starr.» - und auch die Partitur ist meiner Meinung nach nicht völlig eindeutig: Natürlich bricht/zerbricht in ihr etwas am Punkt der absoluten Überspannung... Ich möchte allerdings herausfinden, ob es nicht gerade heute wieder denkbar, wenn nicht gar nötig ist, ihr die «Erlösung im Sterben» zu verweigern, oder wenigstens zu zeigen, dass sich auch ihr toter Körper als Symbol des Widerstandes ge- bzw. missbrauchen lässt.
ELEKTRA lebt in einer an sich korrumpierten, verdrängenden und verfaulenden Gesellschaft und ist gleichzeitig ihre schlimmste Ausformung. Gerade aus der Zerrüttetheit ihrer Seele zieht sie ihre ans Übermenschliche gemahnenden psychischen Kräfte und wird so zu einem faszinierenden theatralischen Charakter. So wird sie sich immer der gängigen, gutgemeinten «Aufklärung» und Verharmlosung widersetzen, denn sie ist auf der analytischen Ebene nicht wirklich fassbar.
Sie ist keine Heldin, sie befreit nichts und niemanden, sie ist vor allem VERLASSEN und VEREINSAMT. ELEKTRA befindet sich als Aussenseiterin, als totaler Widerpart und gleichzeitig bestimmender Teil der Gesellschaft in einem Grenzbereich, der die Bürgerwelt immer schon fasziniert hat: SALOME, JUDITH, DELILAH, ELEKTRA - das Grauen vor einem Monstrum; der ungeheuerliche Kontrast zwischen Weiblichkeit und Unweiblichkeit; schliesslich die kokette Zusammenführung von Lust und Tod, von Sinnlichkeit und Bluttat - diese Mischung aus Grauen und Bewunderung fand immer wieder Eingang in die Kunst genauso wie in den Boulevard...
Es ist tatsächlich schwierig, sich dem Reflex zu verweigern, mit dem Stück z. B. den Gerechtigkeitsbegriff zu hinterfragen oder zu entscheiden versuchen, welches System jetzt gesellschaftliche Relevanz hat: Matriarchat oder Patriarchat; die Frage nach ELEKTRAs Schuld oder Recht zu klären, oder ob die Mörderin Klytämnestra das Böse verkörpert und der ersehnte Orest das Gute - aber das alles interessiert mich nicht wirklich.
Es sind poetische Kategorien gepaart mit seelischen Abgründen, die meine Beschäftigung mit ELEKTRA bestimmen. Es ist vor allem das Verhältnis zum Tod, durch das sich ELEKTRA auch für Hofmannsthal - so besonders lebendig und problematisch erweist: Alle «seine Figuren würden sich dem Tod entgegen enthüllen», sagte er einmal. Die Radikalität, mit der sich die ELEKTRA-Gestalt dem Tod verschreibt, ist die vielleicht am weitesten vorgeschobenen Grenze in seinem Werk. Sie bleibt in der Verknüpfung von Todesidentifikation und Sprachmächtigkeit, von Psychopathologie und Prophetentum ein nicht mehr überholtes Experiment, das mich vorbehaltlos begeistert und fasziniert und das ich in dieser Radikalität auch übernehmen möchte.
ELEKTRAs Blickwinkel verengt sich ausschliesslich auf die Obsession durch Gewalt und Blut. Diese Zwangsvorstellung, der sie aber in äusserster Beherrschung der Sprache Töne der Vision, der Prophetie wie auch der grausamen Ironie abzugewinnen vermag, stellt sie in einem der wenigen intimen und selbstreflexiven Momente der Oper als das Erbe des ermordeten Vaters dar: «Eifersüchtig sind die Toten, und er schickt mir den Hass, den hohläugigen Hass als Bräutigam. So bin ich eine Prophetin immerfort gewesen und habe nichts hervorgebracht aus mir und meinem Leib als Flüche und Verzweiflung.» Die Liebe ELETKRAs zu ihrem toten Vater Agamemnon ist in dieser Fixierung am Gewesenen, unwiederbringlich Verlorenen kompromisslos und in der Verfolgung dieser Treue geradezu selbstzerstörerisch. Indem ELEKRA diese Liebe - ihr «ewiges Totengedächtnis» - wählte, hat sie den eigenen Tod gewählt. Doch ELEKTRA lebt weiter. Trotz solcher Kritik an dem von ihm verkörperten Prinzip. Sie lebt als Sinnbild der Rache, des Widerstands, der Gewalt, als die über alles Mass hinaus Hassende.
Unter der Überschrift WILDHARREND/IN DER FURCHTBAREN RÜSTUNG/JAHRTAUSENDE hat Heiner Müller eine weitere, moderne Facette des ELEKTRA-Bildes geschaffen. In ihrem Namen schreit die im Rollstuhl sitzende Ophelia in der HAMLETMASCHINE ihren Protest heraus:
«Hier spricht Elektra. Im Herzen der Finsternis. Unter der Sonne der Folter. An die Metropolen der Welt. Im Namen der Opfer. Ich stosse allen Samen aus, den ich empfangen habe. Ich verwandle die Milch meiner Brüste in tödliches Gift. Ich nehme die Welt zurück, die ich geboren habe. Ich ersticke die Welt, die ich geboren habe, zwischen meinen Schenkeln. Ich begrabe sie in meiner Scham. Nieder mit dem Glück der Unterwerfung. Es lebe der Hass, die Verachtung, der Aufstand, der Tod. Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.»
Diesem Zitat habe ich nichts weiter hinzuzufügen.
In seinen szenischen Vorschriften zu Elektra hat Hofmannsthal betont, wie sehr ihm daran gelegen sei, dass bei einer Inszenierung jedes falsche Antikisieren vermieden werde, vielmehr eine geheimnisvoll-unheimliche und lauernde Atmosphäre zu vermitteln sei. Auch
Rolf Glittenberg liess sich beim Entwerfen seines Bühnenraumes nicht von den örtlichen Gegebenheiten, sondern den inneren Zuständen der Figuren inspirieren. Der Ort, an dem sich die Handlung vollzieht, ist in erster Linie von Elektra bestimmt - ein Ort, der ihr nur noch Vergangenheit und Zukunft bedeutet und in dem dennoch die Gegenwart nicht ausgeblendet bleiben kann. Das Zielstrebige im Ausweglosen, Abgeschlossenheit, Starre und Enge sollen spürbar werden ebenso wie die ungeheure Kraft, die von ihr ausgeht. Aus der Grundidee eines Korridors, der gleichzeitig als Durchgangsraum, als Verbindungsort sowie als ein Draussen im Drinnen verstanden werden kann, entwickelte Rolf Glittenberg einen Raum für Elektra, der mit raffinierten perspektivischen Linien über den per se breiten Bühnenraum hinwegtäuscht und im Verbund mit der gewählten Farbigkeit eine ungewohnte Tiefe erzeugt. Darüber hinaus sind Assoziationen an moderne Räume mitgedacht, um so den Mythos in unsere Gegenwart zu überführen.
Beziehungen zum Heute stellt auch Heidi Hackl mit ihren Kostümen her, gleichsam eine realistische, moderne Fassade, die erst allmählich abbröckelt und den Blick auf die darunter liegenden Schichten freigibt. Neben dieser zunächst konzeptuellen Vorgabe, die im Detail erst bei den Proben ihre konkrete Umsetzung in den Kostümen erfährt, ist eine zielgerichtete Farbdramaturgie ausschlaggebend, die das Geschehen begleitet. Denn über die individuelle Tragödie für alle Beteiligten hinaus wird in Elektra auch die politische Dimension eines Machtwechsels thematisiert.
Die dänische Sopranisten Eva Johansson stellt sich in der Partie der Elektra erstmals am Zürcher Opernhaus vor und gibt damit zugleich ein Rollendebüt. Ihre Bühnenkarriere begann sie an der Königlichen Oper in Kopenhagen als Gräfin in Mozarts Figaro, machte sich dann schnell einen Namen durch ihre Auftritte in Bayreuth, wo sie u.a. als Elsa grosse Erfolge feierte. Unterdessen gehören auch Senta und Isolde in ihr Repertoire, doch stellt Straussens Elektra in vielerlei Hinsicht für sie die bislang grösste Herausforderung dar. Neben der permanenten Bühnenpräsenz, die keinen Moment der Entspannung erlaubt, sind die gesanglichen Anforderungen immens, bieten aber zugleich die Möglichkeit, alles zu zeigen, was man kann. Eva Johansson vergleicht die Probenarbeit mit den Vorbereitungen auf einen Marathon, der wie diese Premiere eine kontinuierlich sich steigernde Intensität und Ausdauer verlangt. Dabei gilt es aber auch, die richtige Balance für die eigene Stimme zu finden, denn nicht umsonst war in Zusammenhang mit dieser Partie nach der Uraufführung von «Stimmenmord» die Rede. Neben der «sportlichen» Seite sind es aber vor allem auch die psychischen und emotionalen Züge der Elektra, die sich mit keiner der von ihr zuvor gesungenen Rollen vergleichen lassen. Der Urhass und der ausschliesslich auf Rache gerichtete Charakter der Figur entsprechen so gar nicht ihrem fröhlichen Naturell, doch empfindet sie es zunehmend faszinierend, der Elektra in sich selbst nachzuspüren, sich auch einmal den dunklen Seiten zu stellen. Hilfreich bei der Erarbeitung ihres Rollendebüts ist für Eva Johansson auch der Umstand, dass sie die Partie der Chrysothemis schon oft gesungen hat, u.a. in der dänischen Erstaufführung von Straussens Oper 1986. Gerade in den höchst komplexen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Schwestern kennt sie die Partitur so aus beiden Blickwinkeln.
Melanie Diener, die an unserem Hause schon als Fiordiligi zu hören war, gibt als Chrysothemis gleichfalls ein Rollendebüt. Die gebürtige Hamburgerin debütierte 1996 mit der Fiordiligi am Londoner Royal Opera House, woraufhin sie zur Interpretation dieser Rolle unter Sir Colin Davis sowie als Agathe in Webers Freichütz unter Bernard Haitink eingeladen wurde. 1999 feierte Melanie Diener ihren Einstand bei den Bayreuther Festspielen als Elsa, es folgten Engagements an die Wiener Staatsoper, nach Monte Carlo, Dresden und München. 2001 gab sie ihrvielbeachtetes Debüt an der Metropolitan Opera, war bei den Wiener Festwochen als Gräfin in Le nozze di Figaro unter Riccardo Muti zu hören, im folgenden Jahr dann als Donna Elvira in der Neuproduktion von Don Giovanni unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt und in der Regie von Martin Kusej. Die Partie der Chrysothemis, oft als «Tor zur Dramatik» bezeichnet, ist für sie ein folgerichtiger Schritt in der Erweiterung ihres Repertoires, dem sie in nächster Zeit Janáceks Jenufa und Katja sowie die Marschallin im Rosenkavalier hinzufügen wird. Chrysothemis ist für sie eine sehr vielschichtige Figur, deren herausstechendster Zug aber die Sehnsucht nach Liebe ist. Sie findet sich gefangen in einem sozialen Netz, dem sie nicht entkommen kann bzw. nicht den Mutfindet, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ihre psychische Labilität resultiert aus der absoluten Beziehungslosigkeit zu den übrigen Personen; mit Vater und Bruder nur imaginär in der Erinnerung verbunden, ist es auffallend, dass sie auch zu ihrer Mutter keinerlei Verhältnis hat. In der Partitur, so Melanie Diener, gibt es keinerlei Hinweis darauf. Ihre Beziehung zu Elektra ist äusserst ambivalent, zwar gibt es scheinbar gemeinsame Berührungspunkte, doch vor allem in ihrem Schlussduett, das nur formal ein solches ist, wird die totale Isolierung evident. Dieses Duett zu gestalten, empfindet die Sopranistin als besonders schwierig, steht doch die Ekstase, der Rausch, den Strauss hier im Orchester entfaltet, den Worten entgegen, in denen Chrysothemis das grausame Massaker beschreibt. Eine Möglichkeit der Annäherung an dieses Finale sieht sie in der Naivität der Figur, die wie ein kleines Kind die sie umgebende Atmosphäre in sich aufsaugt, um sie - unfähig zur Verarbeitung - ungefiltert wieder von sich zu geben.
Marjana Lipovsek hat ihre erste Klytämnestra bereits 1990 gesungen, damals für eine CD-Einspielung unter Wolfgang Sawallisch und einer sich anschliessenden Neuproduktion am Royal Opera House Covent Garden mit Götz Friedrich und Sir Georg Solti. In dreizehn Jahren hat Marjana Lipovsek die Rolle und ihre Musik lieben gelernt, wobei die inzwischen etwas gereifte Stimmfarbe der Partie noch besser entspricht als damals. Der Schlüssel für ein glaubhaftes Rollenportrait liegt für sie in der Aueinandersetzung mit Klytämnestras Vorgeschichte: Die Halbschwester Helenas war mit Tantalos verheiratet. Doch das kümmerte Agamemnon, den jungen König von Mykene wenig. Da er selbst Klytämnestra begehrte, tötete er sowohl Tantalos als auch dessen kleinen Sohn, und binnen kürzester Frist war Klytämnestra mit dem Mann verheiratet, der sie zur Witwe gemacht hatte. Nachdem er später ihre Tochter Iphigenie opferte und nach Ende des Trojanischen Krieges die Königstochter Kassandra als Konkubine mit nach Mykene brachte, bedeutete dies für Agamemnon das Todesurteil. Mitleid und Verständnis für Klytämnestra, so Marjana Lipovsek, ermöglichen ihr die Darstellung von Krankheit, Wahnsinn, Verrücktheit und Ängsten. Fast im Sinne einer Psychoanalyse erfährt man bei der Darstellung dieser Rolle auch viel über sich selbst, die verinnerlichten dunklen Energien und das Verdrängen von Vergangenheit. Zugleich bietet die Rolle die Möglichkeit, selbst gewisse Aggressionen und Ängste, die man mit sich herumträgt, aus sich heraus zu lassen. Im Gegensatz zu einer unter Sängerinnen verbreiteten Meinung ist die Klytämnestra keine «Altersversicherung», sondern geradezu eine heilige Rolle. Voller Hochachtung ist Marjana Lipovek für Künstlerinnen wie Astrid Varnay, Martha Mödl oder Jean Madeira, die im reifen Alter fantastische Figuren dargestellt haben. Allerdings plädiert sie dafür, die Rolle zu singen, solange man sie singen kann, denn «Strauss hat Noten geschrieben! » Nachdem sie die Klytämnestra unter Dirigenten wie Sawallisch, Solti, Abbado und zuletzt an der Met unter Levine gesungen hat, freut sie sich über die Zusammenarbeit mit Christoph von Dohnanyi, denn «es gibt wenige Dirigenten, die das Handwerk und die Kenntnis vom Werk im kleinen Finger haben».
Die Erkennungsszene zwischen Elektra und Orest, den Jukka Rasilainen in der Zürcher Neuproduktion verkörpert, gehört in der ohnehin emotional aufgeladenen Oper sicher zu den aufwühlendsten Stellen. So ist für den Bariton auch nicht die relative Kürze seiner Partie ausschlaggebend, sondern die Vielfalt und Intensität der Gefühle, die sich in diesör Szene zusammenballen. Sein Auftrag lautet Mord - an der Mutter und deren Liebhaber. Aufgewachsen in der Fremde, muss er unerkannt an den Ort zurückkehren, der seine Heimat war. Auch wenn Orest innerhalb der Oper gleichsam nur als Werkzeug in Erscheinung tritt, sucht Jukka Rasilainen in jedem Moment den seelischen Regungen der Figur nachzuspüren, sie mit eigenen Erfahrungen zu erfassen, denn nur so ist es möglich, die Emotionen über Stimme und Körper wieder nach aussen zu transportieren.
Sein Gegenspieler Aegisth, den Rudolf Schasching interpretieren wird, war ursprünglich von Strauss gar nichtvorgesehen, bis er erkannte, «dass wir ihn doch nicht ganz weglassen können. Er gehört unbedingt mit zur Handlung und muss mit erschlagen werden, womöglich vor den Augen des Publikums.»
In der Tat ist er derjenige, der die Herrschaft in Händen hat, auch wenn sich seine Gefährlichkeit vor allem in den Äusserungen der fünf Mägde - angeführt von Margaret Chalker als Aufseherin sind in Rollendebüts Julia Oesch, Katharina Peetz, Irène Friedli, Liuba Chuchrova und Sen Guo zu hören - spiegelt. Andreas Winkler, Guido Götzen, Irini Kyriakidou, Karen Vourc'h und Matthew Curran ergänzen in kleineren Rollen das Ensemble.

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