ELEKTRA
___________________________________________________________________________________________


MARTIN KUSEJ

DIE ALTE ORDNUNG BLUT

ELEKTRA (I)


TESTO PUBBLICATO CON IL CONSENSO SCRITTO DELLA DIREZIONE DELLA DRAMATURGIE CHE IL CURATORE DEL SITO RINGRAZIA DI CUORE.

Merkt auf! Merkt auf! Die Zeit ist sonderbar,
Und besondere Kinder hat sie: uns!
Hugo von Hofmannsthal

Der Fluch der Götter lastet auf den Atriden. Mord, Inzest und Ehebruch durchziehen wie ein grausiger Blutfaden ihre Familiengeschichte. Tantalos, Sohn des Zeus und Urvater des Geschlechts, schlachtet seinen Sohn Pelops und tischt ihn den Göttern auf, um deren Allwissenheit zu prüfen, wofür er zu schecklichen Qualen in der Unterwelt verdammt wird. Sein Enkel Atreus (daher der Name Atriden), König von Mykene und Vater Agamemnons und Menelaos', tötet die Kinder seines Bruders Thyestes, weil dieser seine Frau Aerope verführt hat, und setzt sie - Versöhnung heuchelnd dem ahnungslosen Vater zum Mahle vor. Pelopeia, Atreus zweite Gattin, ist die Mutter von Aegisth. Den Sohn empfing sie jedoch nicht von ihrem Ehemann, sondern in einer inzestuösen Beziehung von Thyestes, dem eigenen Vater. Aegisth ermordet später Atreus. Agamemnon opfert, um die Ausfahrt des Heeres gegen Troja zu ermöglichen, seine Tochter Iphigenie, seine älteste Tochter aus der Ehe mit Klytemnästra. Er selbst wird bei der Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg (bei der er seine neue Geliebte Kassandra als Kriegsbeute mitbringt) von Klytemnästra, seiner Gattin, und deren Geliebten, Aegisth, ermordet. Agamemnons Sohn Orest rächt, nachdem er herangewachsen ist, den Tod des Vaters. Er tötet Aegisth sowie seine Mutter Klytemnästra und wird dafür von den Erinnyen verfolgt.




Beim flüchtigen Lesen dieser tausende Jahre alten Geschichte kann man die wahre Dimension des Schreckens aus Mord, Inzest, Ehebruch und Kannibalismus gar nicht wirklich erfassen. Angesichts der Schlagzeilenunserer täglichen Nachrichten wird aber rasch klar, dass sich eigentlich gar nicht viel geändert hat - nur die Frequenz dieser elementarsten Tabuverletzungen einer Gesellschaft hat sich rasend verschärft; und was früher Bestandteil der Herrscherdynastien war, findet nun im Internet, auf Autobahnraststätten, in Arztpraxen und, ja, auch in Jedermanns Wohn- bzw. Schlafzimmer statt...

Wenn nun der Sinn des frühen antiken Theaters darin bestanden haben mag, diese Schrecken zu bannen, indem sie auf einer Bühne öffentlich behandelt wurden, und die Menschen o auf ihrem mühsamen Weg in die Zivilisation zu begleiten, müssen wir uns eingestehen, dass dieser Impetus wohl als gescheitert zu betrachten ist.
Trotzdem ist ELEKTRA quer durch die Jahrhunderte eines der faszinierendsten Stücke des Theaters geblieben, und gerade die - im wahrsten Sinne des Wortes - «atemberaubende» Opern-Version von Richard Strauss überrollt einen in knapp zwei Stunden wie eine gigantische Lawine aus Emotion, Grauen, Dissonanz, Finsternis und Einsamkeit.
So ist es wohl nurmehr dieser ausgestellte Blick in den menschlichen Abgrund, der im Theater immer noch Sinn macht und der für mich primäre Motivation ist, dieses Stück zu erzählen. Es ist, als würde man eine verbotene Tür öffnen und die Hand wollte/könnte sie wegen der erlebten Ungeheuerlichen nicht mehr zufallen lassen... der Blick verharrt und verliert, verliebt sich fast in die Monstrosität dieser Frau, entsetzt sich an den Schrecken dieser Welt und ihrer Menschen, die immer noch die unsere ist. Das ist die Erkenntnis, die Selbst-Erkenntnis, aus der heraus man diese Tür doch erschrocken wieder zuschlägt - aber die Bilder wird man nie vergessen.
Wir wissen, dass das Tun der Straussschen Monster SALOME und ELEKTRA keinesfalls zur Maxime einer allgemein gültigen Ethik gemacht werden kann - im Gegenteil (und das finde ich besonders reizvoll): ihre Fremdheit, ihre Übertritte ins Abseits und Aussen, ihr existentielles Aussenseitertum bedeuten Erregung und Provokation, aber kein moralisches Kleingeld, das sich in Erkenntnis und Erbauung wechseln liesse. Man muss einfach akzeptieren, dass sie so weit über die Grenzen des Erträglichen und Denkbaren hinaustreten - das ist ihre einzige Mission; und das «Grauen sehen zu lassen».
ELEKTRA, Agamemnons und Klytämestras Tochter, ist Teil des oben beschriebenen Mythos aus Gewalt und Irrsinn. Nur allmählich erhält sie in d Literatur und auf dem Theater der Griechen ihren Platz und rückte erst bei Sophokles ins Zentrum des Geschehens. Es war der Beginn ihres Aufstiegs zu jener Titelheldin und tragischen Figur, die seit zweieinhalbtausend Jahren zu immer neuen Ausenandersetzungen herausfordert. Ihre Gestalt, ihr Racheverlangen, ihre Konfrontation mit der Umwelt, ihre Radikalität, aber auch ihre dumpfe Verbohrtheit und ihr blutiger Fanatismus beanspruchen immer wieder das Hauptinteresse des Zuschauers. ELEKTRA fasziniert. Und keiner der vielen unterschiedlichen Versuche, diese Frau bzw. dieses Phänomen zu erklären, erreichen annähernd die Dimension des Tatsächlichen. Es sind meist spiessige, verkrampfte, besserwisserische oder sonstwie ideologische Modelle, die an dem Abgründigen und Unfassbaren in ELEKTRA scheitern.
«Dem Publikum muss das Stück entzogen werden!» - dieser Satz von Heiner Müller versucht pointiert zu beschreiben, wie sehr diese Erklärungen und das «Zurechtrichtern» des Stücks von verschiedenen Exegeten und Musikwissenschaftlern, von Kritikern (die das Stück durchaus auch vehement verteufelten) und rechtschaffenen Zuschauern (die immer die «Moral der Geschichte» suchen) am eigentlichen Kern von ELEKTRA vorbeigehen. Im griechischen Theater galt noch die Forderung nach der Katharsis-schon zu Zeiten Hofmannsthals war von diesem Anspruch allerdings nicht mehr viel übrig geblieben; drängendere Probleme und neue tiefere Einblicke in das Wesen der menschlichen Seele bestimmten und faszinierten das Fin de siècle. Man fühlte - im Vorfeld des ersten Weltkriegs - vor allem die Grausamkeiten mit den Schrecken der griechischen Vorzeit. Hofmannsthal nimmt in seiner ELEKTRA-Version jene Humanisierung des Griechenbildes aus dem 19. Jahrhundert zurück, die in Goethes IPHIGENIE ihr hervorragendstes Beispiel gefunden hat. In der psychologischen Durchdringung der Titelgestalt geht Hofmannsthal weit über die Vorlage hinaus. Seine ELEKTRA ist Täterin und Opfer in einem. Ihr ganzes Dasein ist ausschliesslich auf den Akt der Vergeltung ausgerichtet. Als das herbeigesehnte Ereignis schliesslich eintrifft, wird sie davon zerstört. Gerade die Frage nach dem Ende der Oper bzw. der Titelfigur beschäftigte schon Strauss und Hofmannsthal unterschiedlich und sehr intensiv.
Es gibt keine explizite Beschreibung des Todes von Elektra in der Textfassung: «Elektra stürzt zusammen. Chrysothemis zu ihr. Elektra liegt starr.» - und auch die Partitur ist meiner Meinung nach nicht völlig eindeutig: Natürlich bricht/zerbricht in ihr etwas am Punkt der absoluten Überspannung... Ich möchte allerdings herausfinden, ob es nicht gerade heute wieder denkbar, wenn nicht gar nötig ist, ihr die «Erlösung im Sterben» zu verweigern, oder wenigstens zu zeigen, dass sich auch ihr toter Körper als Symbol des Widerstandes ge- bzw. missbrauchen lässt.
ELEKTRA lebt in einer an sich korrumpierten, verdrängenden und verfaulenden Gesellschaft und ist gleichzeitig ihre schlimmste Ausformung. Gerade aus der Zerrüttetheit ihrer Seele zieht sie ihre ans Übermenschliche gemahnenden psychischen Kräfte und wird so zu einem faszinierenden theatralischen Charakter. So wird sie sich immer der gängigen, gutgemeinten «Aufklärung» und Verharmlosung widersetzen, denn sie ist auf der analytischen Ebene nicht wirklich fassbar.
Sie ist keine Heldin, sie befreit nichts und niemanden, sie ist vor allem VERLASSEN und VEREINSAMT. ELEKTRA befindet sich als Aussenseiterin, als totaler Widerpart und gleichzeitig bestimmender Teil der Gesellschaft in einem Grenzbereich, der die Bürgerwelt immer schon fasziniert hat: SALOME, JUDITH, DELILAH, ELEKTRA - das Grauen vor einem Monstrum; der ungeheuerliche Kontrast zwischen Weiblichkeit und Unweiblichkeit; schliesslich die kokette Zusammenführung von Lust und Tod, von Sinnlichkeit und Bluttat - diese Mischung aus Grauen und Bewunderung fand immer wieder Eingang in die Kunst genauso wie in den Boulevard...
Es ist tatsächlich schwierig, sich dem Reflex zu verweigern, mit dem Stück z. B. den Gerechtigkeitsbegriff zu hinterfragen oder zu entscheiden versuchen, welches System jetzt gesellschaftliche Relevanz hat: Matriarchat oder Patriarchat; die Frage nach ELEKTRAs Schuld oder Recht zu klären, oder ob die Mörderin Klytämnestra das Böse verkörpert und der ersehnte Orest das Gute - aber das alles interessiert mich nicht wirklich.
Es sind poetische Kategorien gepaart mit seelischen Abgründen, die meine Beschäftigung mit ELEKTRA bestimmen. Es ist vor allem das Verhältnis zum Tod, durch das sich ELEKTRA auch für Hofmannsthal - so besonders lebendig und problematisch erweist: Alle «seine Figuren würden sich dem Tod entgegen enthüllen», sagte er einmal. Die Radikalität, mit der sich die ELEKTRA-Gestalt dem Tod verschreibt, ist die vielleicht am weitesten vorgeschobenen Grenze in seinem Werk. Sie bleibt in der Verknüpfung von Todesidentifikation und Sprachmächtigkeit, von Psychopathologie und Prophetentum ein nicht mehr überholtes Experiment, das mich vorbehaltlos begeistert und fasziniert und das ich in dieser Radikalität auch übernehmen möchte.
ELEKTRAs Blickwinkel verengt sich ausschliesslich auf die Obsession durch Gewalt und Blut. Diese Zwangsvorstellung, der sie aber in äusserster Beherrschung der Sprache Töne der Vision, der Prophetie wie auch der grausamen Ironie abzugewinnen vermag, stellt sie in einem der wenigen intimen und selbstreflexiven Momente der Oper als das Erbe des ermordeten Vaters dar: «Eifersüchtig sind die Toten, und er schickt mir den Hass, den hohläugigen Hass als Bräutigam. So bin ich eine Prophetin immerfort gewesen und habe nichts hervorgebracht aus mir und meinem Leib als Flüche und Verzweiflung.» Die Liebe ELETKRAs zu ihrem toten Vater Agamemnon ist in dieser Fixierung am Gewesenen, unwiederbringlich Verlorenen kompromisslos und in der Verfolgung dieser Treue geradezu selbstzerstörerisch. Indem ELEKRA diese Liebe - ihr «ewiges Totengedächtnis» - wählte, hat sie den eigenen Tod gewählt. Doch ELEKTRA lebt weiter. Trotz solcher Kritik an dem von ihm verkörperten Prinzip. Sie lebt als Sinnbild der Rache, des Widerstands, der Gewalt, als die über alles Mass hinaus Hassende.
Unter der Überschrift WILDHARREND/IN DER FURCHTBAREN RÜSTUNG/JAHRTAUSENDE hat Heiner Müller eine weitere, moderne Facette des ELEKTRA-Bildes geschaffen. In ihrem Namen schreit die im Rollstuhl sitzende Ophelia in der HAMLETMASCHINE ihren Protest heraus:
«Hier spricht Elektra. Im Herzen der Finsternis. Unter der Sonne der Folter. An die Metropolen der Welt. Im Namen der Opfer. Ich stosse allen Samen aus, den ich empfangen habe. Ich verwandle die Milch meiner Brüste in tödliches Gift. Ich nehme die Welt zurück, die ich geboren habe. Ich ersticke die Welt, die ich geboren habe, zwischen meinen Schenkeln. Ich begrabe sie in meiner Scham. Nieder mit dem Glück der Unterwerfung. Es lebe der Hass, die Verachtung, der Aufstand, der Tod. Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.»
Diesem Zitat habe ich nichts anderes hinzuzufügen.

DIE ALTE ORDNUNG BLUT

ELEKTRA (II)