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WILLI SCHUH

Spätwerk und letzte Lebensjahre von Richard Strauss

[Estratto da una miscellanea a me ignota, pp. 1059-1063]

Richard Strauß ist in ruhiger Entfaltung seiner Meisterschaft seinem eigenen Gesetz gefolgt, auch dann, als es ihn in eine ausgesprochene Gegenstellung zu den Zeitströmungen brachte. Wohl hat er sich stets zu jener «Verwegenheit» bekannt, ohne die (nach Goethe) kein Talent denkbar sei. Aber es ist falsch, dabei nur an Salome, Elektra oder den Don Quixote zu denken. In diesen vitalen Werken ist die Verwegenheit mit den Händen zu greifen - in den späteren gibt sie sich versteckter, in subtileren Formen kund.
Der lockere Komödienstil des Rosenkavalier etwa ist genau so kühn, und die Stil-Kontrapunktierung von Opera seria und Opera buffa in der Ariadne ist es nicht weniger. Was gäbe es Kühneres, als die Projizierung einer ästhetischen Diskussion über «Wort und Ton» in eine theatralische Fuge, wie sie in seiner letzten Oper, im Capriccio, Ereignis wurde? Und keinem andern als Strauß ist es eingefallen, einen halbstündigen sinfonischen Satz für 23 Solostreicher zu schreiben. Der einundachtzigjährige Meister hat ihn in den Metamorphosen geschrieben. - Sein eigentlichstes Anliegen aber war: immer durchsichtiger, leichter, sparsamer zu werden. «Merkwürdig», sagte er einmal zu mir, als wir von Ariadne sprachen, «alles, was ich so mit der linken Hand, gleichsam nebenbei, gemacht habe, ist besonders gut geworden; ich will immer zuviel, füge da noch einen kleinen Kontrapunkt ein, bringe dort eine interessantere harmonische Wendung an - und verderbe es mir damit oft.» Das heißt nichts anderes, als daß aus der Gelöstheit, aus der Entspannung bei ihm das Beste kam. Zu heiterer Gelassenheit sich durchzuläutern, war das heimtliche Ziel, das er in seinem langen Leben nicht aus den Augen ließ, und das er in unablässiger schöpferischer Tätigkeit züi gewinnen suchte. Komponieren, arbeiten, bedeutete für ihn nicht Qual und mühseliges Ringen, sondern Lebeerhöhtes Gefühl des Daseins.
Die «Mozartsche Linie», auf die Hugo von Hofmannsthal seine Opernunternehmungen immer wieder auszurichten suchte, ist in den letzten Jahren Straußens eigene Schaffenslinie geworden,: mozartsches Tempo, mozartsche Leichtigkeit, Heiterkeit und Form-klarheit verbanden sich mit der Bedeutungsschwere und sinnbildhaften Größe der von Wagner herkommenden Orchestersprache zu jenem Neuen, Strahlenden,und Beschwingten, das wir das Straußische nennen dürfen. Nicht als das Ergebnis künstlerischer Spekulation freilich, sondern allein als das der inneren Entwicklung des Meisters ist die Vereinigung des scheinbar Unvereinbaren Ereignis geworden.
Nach dem Zusammenbruch Deutschlands und der Zerstörung seiner Opernhäuser, mit denen Richard Strauß' Leben und Wirken während sechzig Jahren aufs engste verbunden gewesen war, wählte sich der Meister die Schweiz zum Asyl seines Alters. Das Land, das für ihn viele Erinnerungen barg, bedeutete dem Einundachtzigjährigen mehr als nur eine Zuflucht vor Elend, Kälte und Hunger. Er sah in der Schweiz vor allem das Land der geistigen Bewahrung und der Kontinuität des kulturellen Lebens. In den ersten Wochen nach seiner Ankunft in Baden bei Zürich schrieb er einen Satz Jacob Burckhardts in sein Notizheft ein: «Wenn beim Elend noch Glück sein soll, so kann es nur ein geistiges sein: rückwärts gewandt zur Rettung der Bildung früherer Zeit, vorwärts gewandt zur heiteren und unverdrossenen Vertretung des Geistes in einer Zeit, die sonst gänzlich dem Stoff anheimfallen könnte.»
Die dreieinhalb Jahre, die Richard Strauß in der Schweiz lebte (vom Oktober 1945 bis Mai 1949), waren Jahre des Ausklangs eines großen Daseins. Sie waren angefüllt mit Sorgen, Enttäuschungen und Erschütterungen, auch die Beschwerden des Alters kamen hinzu, und dennoch waren es auch gute Jahre, nicht nur, weil sich neue wertvolle Verbindungen ergaben und die Welt sich langsam wieder öffnete (so daß er auf einer Konzertreise nach London im Oktober 1947 letzte Triumphe feiern konnte), sondern vor allem, weil die «unverdrossene Vertretung des Geistes», die zum leitenden Gedanken, seiner Gespräche wurde, ihn eine letzte menschliche Überlegenheit gewinnen ließ.
Und in Baden, in Ouchy, in Pontresina, und Montreux war ihm gewährt, den vergeistigten Epilog zu einem reichen und gewaltigen musikalischen Lebenswerk zu schreiben. Er erlebte die Uraufführungen von Werken, die er in die Schweiz mitgebracht und ihr gleichsam als Gastgeschenk darbrachte: so die der Metamorphosen durch Paul Sacher, des in Baden abgeschlossenen Oboenkonzerts durch Volkmar Andreae und der Zweiten Bläsersonatine durch Hermann Scherchen. Unvergeßlich bleiben denen, die dabei waren, die Augenblicke in Zürich und Winterthur, da der alte Meister sich in den Proben selbst ans Pult setzte, um den Dirigenten und die Spieler mit seinen Tempi und deren feinen Modifizierungen vertraut züi machen. Neugierig, selbstkritisch, aber auch freudig bewegt, horchte er hier ins Streicher-, dort ins Bläserensemble hinein, wobei es ergreifend war, zu bemerken, daß sein geschwächtes Ohr den erstmals zum Leben erwachenden Klang nicht mehr voll aufzufangen vermochte.
An größere Werke wollte sich der Meister nicht mehr wagen. Ein Ballett mit Chören, das ihn noch einmal in den Kreis der antiken Mytholögie zurückführen sollte, ließ er rasch wieder fallen; die ihm unentbehrlichen «Handgelenksübungen» galten deshalb zunächst zwei Konzertfantasien über die Frau ohne Schatten und Josephslegende, dann aber entschloß er sich, einen früheren Plan aufzugreifen, nämlich eine Reihe von kleinen Konzerten für verschiedene Instrumente zu schreiben - das Horn- und das Oboenkonzert gehören zu dieser Reihe -, und komponierte in Montreux sein letztes Instrumentalwerk, das unendlich feingliedrige Duett-Concertino für Klarinette, Fagott und Streichorchester,mit Harfe, dessen Anlage und Charakter durch ein verschwiegenes Märchenmotiv bestimmt werden. Während einiger Monate beschäftigte sich Strauß auch mit einer Schuloper, die dem Klostergymnasium in Ettal zugedacht war, wo damals sein jüngerer Enkel zur Schule ging. Aber auch dieses Unternehmen, das die Geschichte vom Eselsschatten aus Wielands «Abderiten» in sinnspielmäßiger Form neu beleben sollte, wurde wieder aufgegeben, ebenso die vielversprechend begonnene chorische Vertonung von Hermann Hesses Gedicht Besinnung, in die er eine (bereits skizzierte) Fuge einzubauen gedachte. - Strauß hat der schöpferischen Arbeit nie die Alleinherrschaft über sich eingeräumt, er hat ihr ganz bewußt einen Platz neben seinem praktischen Wirken angewiesen - so forderte es sein Sinn für Distanz, sein Überlegenes Verhältnis zum eigenen Schaffen.
In den allerletzten Jahren trat an die Stelle des aktiven Wirkens mehr und mehr das Betrachten und Er kennen kulturgeschichtlicher Zusammenhänge. Die Rolle der Musik in der Geistesgeschichte beschäftigte sein Denken immer stärker. Und der Lektüre kulturge-
schichtlicher Werke, von Monographien und Memoiren großer Persönlichkeiten, von Reisebüchern und älteren historischen Romanen gab er sich mit der gleichen lebendigen Teilnahme hin wie nur je. Sein Lesebedürfnis war kaum zu stillen. Einige Male hörte er noch Musik: die Wiener Philharmoniker unter Furtwängler ein paar Zürcher Konzerte und die eine und andere seiner Opern.
Anfang Mai 1948 schrieb er mir aus Montreux: «Ich war gestern beim Oktett der Wiener, bezaubernd! Was geht einen da die Zerstörung der übrigen sogenannten Welt an! Der deutsche Geist, der sich in solchen Werken offenbart (und nicht in Hermann dem Cherusker und Friedrich II.), bleibt, bis die Erdkrüste vereist ist und wohl noch darüber hinaus!»
Die Grundstimmung dieser Schweizer Jahre, besonders des letzten, war ein wehmütiges, aber gefaßtes Abschiednehmen von den geliebten Schönheiten dieser Welt. Daß sich diese Stimmung in Musik löste und mit dem bekenntnishaften Ton eine letzte Sublimierung seines lyrischen Stiles Ereignis wurde, ist vielleicht das Schönste und Beste, was ihm am Ende seines reichen Lebens widerfuhr. Als sein Blick auf Eichendorffs Gedicht Im Abendrot fiel, trat ihm wie in einem Spiegel seine eigene und seiner Gattin Lebenssituation entgegen. Der feierlichen musikalischen Einkleidung des Gedichts, in der er das Verklärungsthema der sechzig Jahre zurückliegenden Tondichtung Tod und Verklärung bedeutungsvoll einwob, schloß Strauß als zart schwebendes «Opus ultimum» noch die Vertonung dreier Hessescher Gedichte an. Zwei davon sind im Sommer 1948 in Pontresina vollendet worden, das letzte (mit dem Titel September) im Monat des gleichen Namens in Montreux. Bald darauf schickte der Tod ihm seine erste ernste Mahnung: eine schwere Operation bannte ihn über das Jahresende in eine Lausanner Klinik, wo ihn aus tiefster Depression die Lektüre von Partituren Mozarts, Beethovens und Wagners (Tristan!) langsam wieder aufrichtete.
Scheinbar erholt, kehrte er Mitte Mai nach Garinisch zurück, um dort seinen 85. Geburtstag im Kreise seiner Familie zu verleben; im Herbst wollte er sich jedoch wieder der milderen Luft von Montreux anvertrauen. Es kam nicht mehr dazu. An seinem letzten Schweizer Abend, am 9. Mai 1949, den ich mit ihm in einem Zürcher Hotel verbrachte, war er erstaunlich frisch und angeregt. Lebhafter als je in den vergangenen Monaten wandte er das Gespräch, das er, als die Gattin sorglich zum Schlafengehen mahnte, ungeduldig und heftig fortzuführen begehrte, dem Themenkreis zu, der sein Glaubensbekenntnis einschloß: der Mozartschen Melodie als der reinsten Offenbarung der menschlichen Seele und dem Wagnerschen Opernkunstwerk, in dem er den Gipfelpunkt der abendländischen Kulturentwicklung erblickte. Ein sinnvoll waltendes Schicksal hat damals Richard Strauß im rechten Zeitpunkt in die Heimat zurückgeführt, damit dort und nicht im Asyl, sein Leben sich vollende.