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EINFÜHRUNG

© Magazin Opernhaus Zürich.
Testo pubblicato con il consenso scritto della direzione
della Dramaturgie che il curatore del sito ringrazia di cuore

Um die Oper «Eugen Onegin» zu verstehen, muss man Puschkin verstehen, um Puschkin zu verstehen, muss man Russland verstehen - ein aussichtsloses Unterfangen also? Nein. Aber ohne eine annähernde Vorstellung von der Bedeutung Aleksandr Puschkins (1799-1837) ist das Verständnis von Tschaikowskis berühmtester Oper unmöglich.

Seine Rolle als Dichter und Denker könnte man mit derjenigen Goethes vergleichen - auch Puschkins Sprache war für seine Zeit prägend und ist es bis heute geblieben. Zahlreiche Wendungen, gerade aus «Eugen Onegin», sind in den Schatz der in Russland so beliebten geflügelten Worte eingegangen, welche man bei jeder Gelegenheit gerne zitiert. Sein dichterisches Schaffen enthält Meisterwerke in allen Sparten - Gedichte, Epigramme, Sagen («Ruslan und Ljudmila»), Kindermärchen («Das Märchen vom Zaren Saltan»), Schauspiele («Boris Godunow», «Mozart und Salieri»), historische Romane («Die Kapitänstochter»), Erzählungen («Pique Dame»), politische Satiren («Der goldene Hahn»). Wie bei Goethe stehen sich auch in Puschkins Werk streng klassische, innig romantische und überschwenglich stürmisch-drängende Dichtungen von höchstem Wert gleichberechtigt gegenüber. Nicht zuletzt auch durch die vielfachen Bearbeitungen und Übertragungen u.a. in Musik, können diese auch vom fremdsprachigen Publikum nachvollzogen werden. Für die russische Kultur hingegen spielt Puschkin eine weit unermesslichere Rolle: als emsiger Publizist und als die jüngere Geschichte des Reiches erforschender Historiker, als in den höchsten Kreisen durch seine frechen Epigramme und sein skandalöses Benehmen immer wieder aneckender, schillernder Lebemann, vom Zaren bisweilen in Ungnade verbannt und dann wieder rehabilitiert, als mutiger Freidenker und Mitglied einer angeblich revolutionären Gruppierung. Seine hervorragend geschriebenen Werke und seine verlegerische Tätigkeit gaben der Sprache, die seither für die russische Kultur als identitätsstiftend gilt, erst ihr Selbstbewusstsein, ihre Form (auch davon ist in «Eugen Onegin» die Rede) und erhoben sie in den Rang einer anerkannten Literatursprache. Zuvor hatte ja der hohe Adel französisch oder deutsch gesprochen, der Klerus das Kirchenslawische verwendet und nur das einfache Volk sich Russisch unterhalten, während ihre Herrschaft sich nur mit Mühe in dieser Sprache ausdrücken konnte. Zum Brennpunkt weiterführender, romantischer Identifikation wurde Puschkin aber durch seinen frühen, sinnlosen Tod als Opfer eines Duells im Alter von nur 38 Jahren.

All dies spiegelt sich in «Eugen Onegin», dem etwa 200 Seiten umfassenden «Roman in Versen» (auch hier erfand Puschkin eine neue Gattung mit der von ihm kreierten «Onegin-Strophe»). Schon Puschkins Zeitgenosse, der berühmte Literaturkritiker Belinski, nannte das Werk «eine Enzyklopädie des russischen Lebens», beschreibt der Dichter doch neben einem umfassenden Bild von Russland zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einfühlsamer Weise das Wesen des russischen Menschen. Die Handlung um zwei missglückte Liebesbeziehungen (wie eine düstere Vorahnung stirbt auch hier ein junger Dichter beim Duell) scheint beinahe nebensächlich ob der Fülle an Themen, die hier behandelt werden: Schönste Natur- und Reisebeschreibungen wechseln mit witzigen Erörterungen von dichterischen und sprachlichen Problemen ab, vielen von Puschkins Freunden wird in Nebensätzen ein Denkmal gesetzt, in allen Details wird das Leben in der Provinz und im Glanz der Hauptstadt geschildert. Den oberflächlichen, intriganten Hochadel überschüttet der Dichter mit Spott, und auch die Beschränktheit der Gutsbesitzer, selbst der schwärmerische, naive Dichter Lenski wird zur Zielscheibe von bisweilen beissender Ironie. Nur seine Hauptfiguren Tatjana und Onegin behandelt Puschkin liebevoll. Auch sie sind typische Vertreter ihrer Generation, Beispiele für eine kleine Gruppe von Aussenseitern, die mit den sie umgebenden Konventionen nicht zurechtkommen.

Eher zufällig wurde Pjotr Tschaikowski 1877 auf diesen Stoff aufmerksam gemacht, doch nahm er ihn so gefangen, dass das Werk innerhalb eines Jahres, parallel zur 4. Symphonie, fertig geschrieben wurde. Das Szenarium und den grössten Teil des Librettos verfasste Tschaikowski selber. Es sollte keine Oper im herkömmlichen Sinn werden, sondern «ein Stück bürgerlichen Alltagslebens und das Gefühlsleben wirklicher Menschen aus dem Russland des frühen 19. Jahrhunderts..., drei wenig spektakuläre, beinahe alltägliche Episoden aus Puschkins Roman, die sich so oder ähnlich unzählige Male in der Lebenswelt des russischen Grossbürgertums ereignet haben dürften, inklusive des bühnenwirksamen Duells zwischen Onegin und Lenski». (A. Csampai)

Mehr als die nur in groben Zügen skizzierte Handlung interessierte sich Tschaikowski für die wirklichen natürlichen Gefühle junger Menschen seiner
Zeit: «Ich brauche keine Zaren, Zarinnen, Volksaufstände, Schlachten, Märsche, mit einem Wort alles das, was mit dem Attribut 'grand opéra' bezeichnet wird. Ich suche ein intimes, starkes Drama, das auf Konflikten beruht, die ich selber erfahren oder gesehen habe, die mich im Innersten berühren können.»

Sein neues Werk, welches zunächst viel Kritik hervorrief, nannte er demnach auch nicht «Oper», sondern «Lyrische Szenen» und bestand darauf, dass es im März 1879 von Schülern des Konservatoriums am Mali Teatr, d.h. am Kleinen Theater in Moskau uraufgeführt wurde. Doch erst die Aufführungen 1884 in St. Petersburg auf Befehl Kaisers Aleksandr III., dessen Lieblingsoper sie wurde, verhalfen dem Werk zu andauerndem Erfolg. In Westeuropa bedeutete die 1888 von Tschaikowski selber dirigierte Inszenierung in Prag dessen Durchbruch zum allgemein anerkannten Komponisten. Am Stadttheater Zürich wurde «Eugen Onegin» erstmals in der Spielzeit 1908/09 gegeben, und Götz Friedrichs hiesige Inszenierung von 1976 gilt immer noch als «Höhepunkt der Inszenierungen der Nachkriegszeit» (Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters).

Für Tschaikowski persönlich war die Periode, in der «Eugen Onegin» entstand, eine dunkle. Er hatte sich von einer Frau, die er kaum kannte und nicht liebte, in eine überstürzte Heirat drängen lassen, die ihn, der überdies mit seiner unterdrückten Homosexualität rang, in eine tiefe Lebenskrise und Krankheit stürzte. Inwieweit sich Tschaikowski mit seinen Figuren und ihrem Schicksal identifizierte, ist trotz der romantischen Spekulationen späterer Biographen und Forscher nicht mehr nachvollziehbar. Unbestritten ist, dass der Komponist mit seiner Puschkin-Vertonung ein Meisterwerk geschaffen hat, welches eine eigenständige Qualität ausstrahlt und dem fremdsprachigen Publikum eine Ahnung vom Wesen des russischen Menschen und seines grössten Dichters vermitteln kann.