Europäische Luft atmen

Die Schweiz und ihre Opernhäuser
in den Augen Nello Santis

Was mögen die Eindrücke sein, die ein italienischer Dirigent, der die Schweiz zu seiner Heimat gemacht hat, von der hiesigen Theaterlandschaft hat? Nello Santi* entgegnet, dass diese für ihn in keiner Weise besonders, geschweige denn unvorteilhaft erschienen. Der Dirigent kennt aus beruflicher Sicht die Opernhäuser von Genf und Bern und gastierte in Basel im Rahmen der dortigen Junifestwochen mit dem Berner Orchester und italienischen Sängergrössen wie dem Bariton Aldo Protti. Dem Theater von Genf attestiert er die lobenswerte Absicht, für das deutsche, französische oder italienische Repertoire zumeist auch entsprechende Sängerensembles zu engagieren.

Doch Zürich, einst mit dem Stadttheater und in der Folge mit dem Opernhaus, ist seine musikalische Schweizer Heimat geworden. Hier geniesse er als Künstler ein ideales Umfeld, und dies, seit er das erste Mal am Pult gestanden habe. Dass sich das Zürcher Theater einen fest engagierten Chor und damals noch das Tonhalle-Orchester leistete, machte die Arbeit von allem Anfang an fruchtbar und äusserst konstruktiv. Als italienischsprachiger Künstler unterstützte er auch begeistert den Übergang zu Opernaufführungen inder Originalsprache, was eine massgebliche Komponente für eine Interpretation auf hohem Niveau darstelle.


Organisationslust und Improvisationstalent

An der Schweiz gefällt Nello Santi die ausgezeichnete Organisation, die sich auch auf die Theater übertragen habe. Diese Organisationslust vermische sich aber mit einer gesunden Portion von Improvisationstalent, was gerade für einen Künstler und seinen Arbeitsplatz durchaus entscheidend sei. Das Opernhaus ist der prädestinierte Schauplatz, wo man auf Unvorhergesehenes rasch und unkompliziert reagieren können muss - jeder Abend ist anders, die Sänger nicht immer in der gleichen Form und schon gar nicht immer mit derselben Gunst beschenkt.

Im Jahre 1958 ist Nello Santi als junger Dirigent erstmals von Italien an die Limmatstadtengagiert worden. Gerne erinnert er sich an seinen ersten Auftritt, der dank dem erstklassigen und international renommierten Chefdirigenten der Zürcher Oper Otto Ackermann zustande gekommen war. Am 25. August desselben Jahres dirigierte der Maestro Giuseppe Verdis «Macht des Schicksals» - in deutscher Sprache wohlverstanden. Umgehend ist ihm von Otto Ackermann eine weitere Premiere offeriert worden, diesmal «Madame Butterfly» - selbstverständlich auch noch auf Deutsch, wie übrigens auch die Wiederaufnahme von «La Bohème». Es war schliesslich im Januar des Jahres 1959, dass Nello Santi seine Bacchetta für eine «Lucia di Lammermoor» in Zürich erheben konnte, nun aber endlich in italienischer Originalsprache, dafür mit einzelnen Sängern, die sich im Ensemblevertrag noch zum Deutschsingen verpflichtet hatten!


Zürcher Festivalatmosphäre

So begann es damals mit einem Vertrag für gerade einmal einen Monat, der nun seit über dreiundvierzig Jahren verlängert wurde. Das Zürcher Opernhaus, stellvertretend auch für die anderen Musiktheater in der Schweiz, hat sich seit jener Zeit enorm entwickelt. Schon in Santis Anfangszeiten gab es ausgezeichnete Produktionen, doch waren diese mehrheitlich auf die Junifestwochen verlagert gewesen. Heute habe er das Gefühl, in Zürich herrsche das ganze Jahr ein bisschen Festivalatmosphäre, bei der gelegentlich Hervorragendes, manchmal aber auch Schlechteres hervorkommen könne. Der Erfolg eines Theaters hängt nach Meinung Nello Santis in erster Linie mit der Resonanz im Publikum zusammen. Zu Beginn seiner Chefdirigentenzeit beim Basler Sinfonie-Orchester wurden aus dem Casino regelmässig Konzerte direkt am Radio übertragen, eigentlich ohne Publikum. Waren am Anfang nur Freunde und Verwandte bei den Aufzeichnungen anwesend, strömten in der Folge immer mehr Leute in den Konzertsaal, was schliesslich zur Gründung eines eigenen Abonnementszyklus führte. Und in Zürich ist inzwischen ein treues «Santi-Publikum» entstanden, ein Phänomen, das sich von Beginn weg abzeichnete.

Die geographisch ausgezeichnete Lage von Zürich bietet dem polyglotten Dirigenten die Möglichkeit, sich unkompliziert in ganz Europa zu bewegen und auch New York und San Francisco, Buenos Aires oder China und Japan als weitere Wirkungsstätten bequem zu erreichen.


Immobiles Italien

Ob denn nie Heimweh nach seinem Geburtsland Italien entstehe? Nello Santi sagt, dass er jaaus diesem Land komme und heute zur Überzeugung gelangt sei, dass sich dort leider, und auf dem Musiksektor verstärkt, seit seiner Jugend sehr wenig verändert habe. In erster Linie fehle es an Sängern, und diejenigen, die gut wären, fände man immer spärlicher - da komme wenig Nostalgie auf. Zudem habe die Politik in Italien einen mächtigen, ja gelegentlich schrecklichen Einfluss auf die Kultur.

Hingegen hat die Schweiz Nello Santi als Künstler durchaus beeinflusst. In diesem Land atme er europäische Luft und spüre eine weltoffene Atmosphäre. Schon im 19. Jahrhundert seien bedeutende Künstler in der Schweiz zu Gast gewesen, und Basel, Genf und Zürich wurden unter dem Einfluss ihrer Nachbarländer zu Zentren. Nie habe die Schweiz dabei den Blick der Zukunft gegenüber verschlossen. Nochmals kommt der Maestro auf Zürich zu sprechen. Das Stadttheater weise eine lange Tradition mit der Musik Richard Wagners auf, habe mit Aufführungen von Arnold Schönberg bis Armin Schibler(von Letzterem hat der Maestro selbst eine Uraufführung in Zürich geleitet) wesentliche Beiträgezur Rezeption der zeitgenössischen Musik geleistet und dazu stets auch grossartige Künstler verpflichtet.

Aber gibt es dank Nello Santi heute nicht auch eine eigentliche Zürcher Verdi-Tradition? Er verneint dies, weil er nicht mit einfachen Schlagworten charakterisiert sein mag. Er studiere dieKomponisten, die er aufführe - nicht nur italienische -, stets sehr genau, um sich in das Wesen des musikalischen Schöpfers versetzen zu können, um zu verstehen, was der Komponist wohl habe bewirken wollen mit dieser Melodie oder jenemThema. Dieses Hinterfragen ist der Ausgangspunkt für jede seiner Interpretationen, auch jene von Gioachino Rossinis «Guglielmo Tell», die der Maestro aus Anlass der Expo 02 im Amphitheater von Avenches dem Publikum präsentieren wird.

Matthias von Orelli


* Nello Santi wurde 1931 im italienischen Adria (Rovigo) geboren. Mit 20 Jahren debütierte er am Teatro Verdi von Padua und begann damit seine steile Karriere, die ihn an alle wichtigen Bühnen der Welt brachte. Der Maestro ist seit 43 Jahren eng mit dem Opernhaus Zürich verbunden, wie auch mit der Metropolitan Opera New York, und verhilft jenem Haus zu einem ausgezeichneten Ruf in Sachen italienischer Operntradition.

Nello Santi