Margarete Klinckerfuss

AUFKLÄNGE
AUS VERSUNKENER ZEIT

[mit Brefen von Busoni]

Urach 1947
pp. 93 ss.

Da zu der Zeit, als ich erstmals wegen meiner Kriegsarthritis bei Sauerbruch in Zürich in Behandlung war, Ferruccio Busoni auch dort weilte, ergab sich für mich die wunderbare Gelegenheit, mit diesem grossen Meister oftmals zusammen zu sein, ihn zu hören und ihm vorspielen zu dürfen. Als ich ihm einmal Werke von Johann Sebastian Bach vortrug, liefen ihm die hellen Tränen die Wange herab und er sagte zu mir: «Ach, dieser Bach!» Das Schönste, was er mir hätte sagen können! Ich hatte damals Gelegenheit, die bedeutsame Bekanntschaft zwischen Casanova und Busoni zu vermitteln. Freudig folgte Busoni einer Einladung nach Pallanza zu seinem Landsmann Casanova. Dort schuf er sein schönes Werk für zwei Klaviere über Bachs herrliches Thema: «Wie wohl ist mir, o Freund der Seele, wenn ich in deiner Liebe ruh», welches er dem Marchese Casanova widmete und das ich mit Busoni bei meinem Züricher Aufenthalt auf zwei Flügeln spielen durfte. Was Busoni in selbstloser Hingabe aufstrebenden Talenten bedeutete, wie er die reichen Schätze seiner Kunst in unerhörter Meisterschaft offenbarte, wissen wir alle, die wir das Glück hatten, es mit zu erleben. Unser geistiges Leben wird stets von dem Nachklang dessen zehren, was seine Worte, die so weise und gütig, so beschwingt und humordurchsonnt waren, uns lehrten. Ich gebe hier Briefe Busonis an mich zum Abdruck, in denen er selbst von seinem Schaffen berichtet.
Den ersten Teil des Briefes vom 19. Mai 1918 hat Busoni in sein Buch: «Von der Einheit der Musik» (1922) aufgenommen. Für Busonis Künstlergestalt erlangen jene Worte Geltung, die er über seinen Liebling Mozart an dessen 150. Geburtstag prägte «Er hat in der tragischsten Situation noch einen Witz bereit - er vermag in der heitersten eine gelehrte Falte zu ziehen. Er ist universell durch seine Behendigkeit.»
Davon zeugt der Brief, in dem Busoni über den tieferen Sinn seiner Oper Arlecchino Geständnisse macht. Diese gelangte im November 1918 in Stuttgart zur Erstaufführung. Ich hatte damals die Freude, durch meine Schülerin, Baronin Adrienne von Bülow, Tochter des hochverdienten Hoftheater-Intendanten Baron zu Putlitz, diesen Briefkommentar der zuständigen Opernleitung übergeben zu können:

19. Mai 1918

Sehr geehrtes liebes Fräulein!
Ihr guter Brief, auf der Rückseite eines anderen (der Frau Adrienne von Bülow) geschrieben, hat mich in mancher Hinsicht erfreut, in jeder Weise zu Dank gestimmt. Zunächst war es mir wohltuend zu lesen, dass meine kleinen Bühnenstücke auf Sie gewirkt haben. So vielem Missverständnis der Allgemeinheit gegenüber ist das Verständnis eines einzelnen Freundes reichlich aufwiegend. - Vorgeworfen wird mir im «Arlecchino», dass er höhnisch und unmenschlich sei, indessen ist diese Schöpfung aus dem ganz gegensätzlichen Drang hervor entstanden: aus dem Mitleid mit den Menschen, die es sich einander schwerer machen als es sein sollte und könnte, durch Egoismus, durch eingefleischte Vorurteile, durch die dem Gefühle entgegengehaltene Form! Deswegen kommt man im «Arlecchino» (und diese Absicht ist erreicht) nur zu einem schmerzhaften Lachen. Selbst die harmloseste Figur, der Ritter, ist zum Teil mit Bitterkeit ironisiert. - Die Worte des Titelhelden selbst sind meine eigenen Bekenntnisse. Menschliche Nachsicht und Duldsamkeit drückt der Abbé aus. Der Schneider Matteo ist der betrogene Idealist und Nichtsahnende. Colombina: Das Weib. Es ist der moralischste Operntext nach jenem der «Zauberflöte», die ich hochhalte.
So hat mich der erste Punkt Ihres Schreibens zu einer umständlichen Parenthese, zu Geständnissen geführt. Verzeihen Sie diese meinen allzu persönlichen Argumenten eingeräumte Breite.
Die folgende Freude gewährte in Ihrem Briefe mir die auf Stuttgart sich beziehende Mitteilung. Dieser Mitteilung zuliebe habe ich den obigen Kommentar entworfen, auf dass Sie ihn gelegentlich in Ihrer Stadt wiedergeben, zum richtigeren Verständnis meiner Absichten.
Der dritte Punkt in Ihrem Briefe betrifft Ihr Unwohlsein und dieses zu erfahren hat mich ernstlich betrübt. Selbst angenommen, dass der Zustand sich rasch gehoben habe, so fürchte ich, dass die erste Ursache dazu weiter und tiefer zurückliegt, in jenen unhaltbaren Zuständen der kriegführenden Staaten, denen die Menschen sich allzu fügsam unterwerfen! Und dabei sollte ein Operntextdichter noch gutmütig bleiben? - Wäre es nicht an der Zeit, - «Wenn die Menschen versagen» -, dass die Vorsehung im Sinnbilde irgend eines Esels auftauchte? Fühlen Sie nun den Riss in diesem Scherze? - Jedenfalls haben wir Sie an dem Theaterabend recht vermisst, Ihre Abwesenheit und deren Gründe herzlichst bedauert. Leben Sie nun wohl, grüssen Sie die hohen Freunde, wie Sie freundschaftlichst grüsst Ihr ergebener

Ferruccio Busoni.

Auf meine Depesche nach der erfolgreichen Stuttgarter Premiere des «Arlecchino» schrieb Busoni:

Zürich, 30. November 1918

Verehrtestes, liebes Fräulein,
Es war mir die unerwartetste Überraschung, ich wusste nichts von dem Datum der Stuttgarter Aufführung. Und nun ist es schon vorbei.- Wie ich aus Ihrem Telegramm entnehme: Mit Gelingen - Ihnen und Ihren Lieben Dank für die herzliche Anteilnahme und nun hoffe ich auch Näheres zu erfahren! Köln soll im Januar auch kommen. Und, so Gott will, komme einmal auch ich, das soll diesen Sommer sich entscheiden. Inzwischen habe ich recht viel zu tun, vorzubereiten, zu überlegen.- Die Urfassung von
Liszts Totentanz* (bisher unbekannt) habe ich nach der Handschrift, die unser gemeinsamer Freund, Marchese di Casanova, besitzt, druckfertig gemacht.- Vielleicht sind Sie dann dabei! - Mit herzlichen und achtungsvollen Grüssen Ihr ergebener F. Busoni.

Der Marchese Casanova war im Besitz folgender Original-Manuskripte seines Meisters Franz Liszt: Der H-moll-Sonate, der
Ur-fassung des «Totentanzes»*, der zweiten Rhapsodie, des Sonetts von Petrarca: «Pace non trovo e non ho da far guerra», «Saatengrün, Veilchenduft» (Lied des Frühlings von Uhland) und des Liedes «Ich liebe dich, weil ich dich lieben muss», welches ihm meine Eltern schenkten.
Darüber hatte der Verfasser der grossen Liszt-Biographie, Professor Dr. Peter Raabe, am 18. August 1912 an meine Mutter geschrieben:

Sehr verehrte, gnädige Frau!
Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre schnelle und überaus freundliche Beantwortung meiner Fragen, sowie für das schöne, tiefe Gedicht von Casanova. Den mir freundlichst in Aussicht gestellten Dichtungen sehe ich mit grösstem Interesse entgegen.
Wären Ihnen, verehrteste gnädige Frau, als ehemaliger Lisztschülerin, noch Personen bekannt, bei denen Lisztsche Manuskripte zu vermuten sind, so würden Sie mich durch eine diesbezügliche Mitteilung sehr verbinden.
Mein Katalog (zu dessen Fertigstellung freilich einige Jahre nötig sein werden) soll für jedes Werk alles enthalten, was dem zu wissen nötig oder erwünscht sein kann, der sich ernstlich mit irgend einem Lisztschen Werke befassen will. Ich bin natürlich dabei auf die Bereitwilligkeit Vieler angewiesen. Fände ich sie stets in so dankenswerter Weise wie bei Ihnen, so könnte ich mich glücklich preisen. Mit der Bitte, mich Ihrem Herrn Gemahl bestens zu empfehlen, ver-bleibe ich Ihr hochachtungsvollst ergebener
Peter Raabe.

An Stelle meiner erkrankten Mutter führte ich damals die Korrespondenz hierüber mit Dr. Peter Raabe weiter, der mir am 14. August 1913 aus Weimar schrieb:

Liszt-Museum

Mein hochverehrtes, gnädiges Fräulein!
Sie waren vor einem Jahre so freundlich, mir Mitteilung zu machen von dem Manuskriptbesitz des Marchese Casanova. Inzwischen hörte ich nun, dass die Firma Breitkopf und Härtel vergebens versucht hat, die Manuskripte der Klavierwerke für die Revisionszwecke der Gesamtausgabe zu bekommen. Ich kann mich nicht dadurch entmutigen lassen, Sie heute um Ihre gütige Vermittlung herzlich zu bitten...
Von überall her,vonBibliotheken undPrivatsammlern,aus Deutschland, Ungarn und anderen Ländern, sind mir alle erreichbaren Manuskripte für meine Redaktionsarbeit zur Verfügung gestellt worden. Es wäre eine zu grosse Lücke in meiner Arbeit, wenn nur die Handschriften des Herrn Marchese mir vorenthalten blieben! Es handelt sich ja doch um den allerbesten Zweck der Welt, es handelt sich ja darum, an Liszt und sein Lebenswerk pietätvoll alle nur erdenkliche Sorgfalt zu verwenden. Sie können fest überzeugt sein, dass die Handschriften von mir mit einer Vorsicht behandelt werden wie lebende Wesen. Ich würde für eine tadellose Erhaltung und absolut sichere Rücksendung alle Sorge tragen. Darum bitte idh Sie recht herzlich, meinen wirklich ganz uneigennützigen Wunsch erfüllen zu helfen!
Im Voraus dankbar begrüsse ich Sie und verbleibe mit der Bitte, Ihrer Frau Mutter meine besten Empfehlungen auszurichten,
Ihr verehrungsvoll ergebener
Peter Raabe.

Inzwischen habe ich auf meine bittende Anfrage bei der Marchesa Casanova die mich beglückende Zusicherung erhalten, dass - im Sinne ihres Mannes - die angeführten Liszt-Manuskripte dem Liszt-Museum in Weimar gestiftet werden, sobald die Zeitumstände die Überbringung derselben aus Italien nach Deutschland ermöglichen.
Auf Zusendung der «Lieder der Liebe und Einsamkeit» von Silvio di Casanova schrieb mir Ferruccio Busoni noch folgenden, inhalts-reichen Brief:

12. August 1922

Liebes, verehrtes Fräulein!
Eine Kette von Begebenheiten, Beschäftigung und Unwohlsein hielten mich ungebührlich lange davon ab, den Erhalt von Messer Silvios Gedichten dankend anzuzeigen. An diesen erkannte ich die lautere Natur des Autors und bewunderte seine reiche Kenntnis der Sprache, seine Fruchtbarkeit an Vergleichen. - Ich bin beschämt, dass ich dem Marchese diese wenigen Worte nicht persönlich schrieb. (Das Leben verschiebt sich stetig gegen Wunsch und Absicht, doch führt es auch wieder - ebenso spielend - zum Homogenen zurück.)
In dem etwas sorglosen Heft «Der Querschnitt» erschien letzthin eine kleine Reproduktion von meinem Porträt aus Boccionis Pinsel (in Pallanza entstanden).- Ich arbeite fleissig. Zur Vervollständigung unseres Programmes auf zwei Klavieren verfasste ichh anfangs dieses Jahres eine Übertragung von Mozarts «Phantasie für eine Orgelwalze». Sie gehört zu den ganz schönen Werken des Meisters. Von den drei Bänden Faust-Partitur sind zwei fertig, der dritte gut vorgeschritten. Meine Klavierübung wurde in einem fünften Hefte abgeschlossen. Hier endet die knappe Chronik. Ich grüfie Sie herzlichst und achtungsvollst, Ihr freundschaftlich ergebener
Ferruccio Busoni.