Gottfried Galston
KALENDERNOTIZEN
ÜBER FERRUCCIO BUSONI

Mit Anmerkungen und einem Vorwort,
herausgegeben von Martina Weindel


VORWORT

BUSONI IST TOT
[pp. 185-188]


Zum Inhalt des Buches: Die Kalendernotizen des Pianisten Gottfried Galston (1879-1950) - hier erstmals veröffentlicht - dokumentieren teilweise mit akribischer Genauigkeit Gespräche und Ereignisse der von Krankheit überschatteten letzten drei Lebensjahre Ferruccio Busonis (1866-1924) sowie Begebenheiten in der Zeit nach dessen Tod. Mit diesen Aufzeichnungen liefert Galston als sein Freund, Assistent und Wesensverwandter einen höchst aufschlussreichen Fundus an Informationen, der nicht nur Busonis Zeit- und Persönlichkeitsbild erhellt, sondern vor allem in bezug auf die menschliche Seite des Musikers zu völlig unerwarteten Einsichten führt.

ISBN 3-7959-0792-6


Vorwort

Die Kalendernotizen

Anknüpfend an den 1999 herausgegebenen Briefwechsel mit Ferruccio Busoni (1866-1924) werden im vorliegenden Band die Kalendemotizen von Gottfried Galston (1879-1950), die als tagebuchähnliche Aufzeichnungen und als kurze, stichwortartige Chronik überliefert sind, erstmals veröffentlicht. Die Dokumente, unter dem Gesamttitel Gottfried Galston's Kalendernotizen in Bezug auf sein Zusammensein mit Ferruccio Busoni, 14th Okt. 1921 - XII 1923 zu Mai 1925, zusammengefasst, befinden sich heute im Galston-Busoni Archive (Special Collections) der Library of the University of Tennessee, Knoxville und im Busoni-Nachlass der Berliner Staatsbibliothek.
Das 'Tagebuch' des Pianisten, auf 257 Seiten im Zeitraum vom Dezember 1923 bis Mai 1925 handschriftlich niedergeschrieben, ist das einzige Zeugnis, das mit akribischer Genauigkeit nahezu täglich die Gespräche und Ereignisse der von Krankheit überschatteten letzten Lebensmonate Busonis sowie die Begebenheiten in der Zeit nach dessen Tod dokumentiert; demnach besitzt es einen höchst aufschlussreichen Fundus an Informationen, der das Zeit- und Persönlichkeitsbild Busonis erhellt und dabei, vor allem in bezug auf die menschliche Seite des Musikers, zu völlig unerwarteten Einsichten führt.
Es gibt keinen Hinweis, dass Busoni oder die Angehörigen seines Kreises von der Existenz dieser Aufzeichnungen Kenntnis besassen. Man kann daher davon ausgehen, dass es sich hier um ein rein persönliches Zeitzeugnis handelt, das nicht für Andere bestimmt war. Was mögen die Beweggründe gewesen sein, die zwischen Lebenshoffnung und Todesangst schwankende, bedrückende Realität des Musikers aufzuzeichnen? Ein Movens war vermutlich die beiderseitige Wesensverwandtschaft als Schöngeister, Kulturmenschen, Bibliophile, Pianisten und Pädagogen, die eine gegenseitige Annäherung ermöglichte und Galston als Freund und Assistenten Busonis dazu veranlasste, die Erinnerung an diese universell gebildete, richtungsweisende Persönlichkeit so genau wie möglich festzuhalten; als ausschlaggebend erweisen sich jedoch die dem 'Mentor' und 'Vorbild' entgegengebrachte Liebe, Bewunderung und demütige Hingabe, die vor allem in Galstons eigenen Ansichten und Kommentaren sowie in seinen Zeichnungen offen in Erscheinung treten, mit denen er die Kalendernotizen illustrierte, um seinen Gefühlen und Beobachtungen Gestalt zu geben.
Galstons Verehrung für Busoni war weder eine Einzelerscheinung noch eine Seltenheit. Er gibt in seinen Notizen genau jene Wirklichkeit wieder, die sowohl den Familienmitgliedern Busonis als auch dessen Freunden und Schülern bekannt war. Obwohl regelmässig am Krankenbett des Meisters anwesend, hatte jedoch keiner von ihnen die Initiative übernommen, über jene schwierigen Tage voll Bitterkeit, Qual und Anspannung Buch zu führen: aus Scheu? Bequemlichkeit? Literarischem Unvermögen? Einzig Galston hielt am Abend in der Stille seines Heims die schweren Stunden schriftlich fest, die er über sechs Monate hinweg mit Busoni verbracht hatte; seiner Ausdauer und Mühe ist zu verdanken, dass diese Informationen nicht verloren sind.
Die krankheitsbedingten Leiden und zunehmende Verschlechterung des Gesundheitszustandes machten den gewöhnlich aktiven, vor Lebensenergie strotzenden Busoni oftmals bitter und daher unobjektiv in seinen Urteilen und Äusserungen. So liest man die scheinbar 'unnahbare Kühle', die ihm als einem der grossen Intellektuellen seiner Zeit anhaftet, im Licht einer ergreifenden, zuweilen unverhüllten Menschlichkeit, die verborgene oder verblasste Einzelheiten seines Lebens und Wesens aufdeckt. Vor dem Leser entspannt sich das Bild eines begeisterungsfähigen und mitreissenden Geistes, der imstande ist, seine ganze Epoche durch den Filter der eigenen vorbehaltlosen Persönlichkeit zu sehen und zu interpretieren. Von aufschlussreichem Wert sind dabei die vielen Berichte und Anekdoten über zeitgenössische Musiker, Schriftsteller und Künstler, da sie neben Busonis Lebenserinnerungen zumeist biograpische, aber auch zeit- und kulturgeschichtliche Auskünfte enthalten, die anderswo nicht zu finden sind. Gemeinsame Gespräche über Bibliophilie, Literatur, Kunst und Musik, die wie ein roter Faden die vorliegenden Aufzeichnungen durchziehen, bieten zusätzlichen Einblick in Busonis Kunst-, Literatur- und Musikverständnis und lassen sie gleichzeitig als ein wirksames Mittel erkennen, die Krankheit und beständige Sorge um die Vollendung des «Doktor Faust» für kurze Zeit zu vergessen. Mit bewegender Intensität dokumentiert Galston ebenso die Hilflosigkeit und Verzweiflung, die sich mit dem nahenden Ende Busonis immer stärker unter seinen Angehörigen, Freunden und Schülern ausbreiten und schliesslich nach dem Tod des Musikers schmerzliche Gewissheit erlangen: Sie haben ihren Bezugspunkt und geistigen Führer verloren, und mit diesem Verlust zerfällt der ganze Busoni-Kreis. Auch Galstons Aufzeichnungen werden danach zunehmend sporadischer und zehn Monate nach Busonis Tod letztlich ganz eingestellt.


Einen völlig anderen Gestus besitzt dagegen seine kurzgefasste Chronik, die als ein siebenseitiges maschinenschriftliches Dokument mit einem Durchschlag überliefert ist und den Einzeltitel Gottfried Galstons Kalendernotizen in Bezug auf sein Zusammensein mit Ferruccio Busoni in dessen letzten Lebensjahren aufweist. Beginnend mit dem 14. Oktober 1921 erstrecken sich die Aufzeichnungen über einen Zeitraum von 33 Monaten bis zum 21. Juli 1924, sechs Tage vor Busonis Tod. Wie der Wortlaut des Titels beweist, liegt hier eine spätere Abschrift der verschollenen autographen Vorlage vor, wobei ungeklärt bleibt, ob die Kopierarbeit von Galston selbst oder von einer anderen Person durchgeführt wurde und ob es sich bei dem Titel um die Originaltitulierung handelt. In diesem Zusammenhang lässt sich ebenfalls nicht belegen, ob die Notizen Busoni oder den Mitgliedern des Busoni-Kreises bekannt waren.
Im Gegensatz zum 'Tagebuch' trägt diese Quelle den Charakter eines in unregelmässigen, stellenweise grösseren Zeitabständen geführten kleinen 'Notizbuches', das in knappen Eintragungen nur die anscheinend wesentlichsten Begebenheiten um Busoni verzeichnet, die sich innerhalb dieser Zeitspanne vor Galstons Augen ereignet haben. Zugunsten einer sachlichnüchternen Darstellung wird dabei auf die Wiedergabe von persönlichen Ansichten, Kommentaren sowie detaillierten Beobachtungen und psychologisierenden Schilderungen gänzlich verzichtet. Wie aus dem oben erwähnten Briefwechsel mit Busoni zu schliessen ist, begann Galston mit diesen Aufzeichnungen unmittelbar nach seiner Übersiedelung von München nach Berlin. Hier boten sich ihm nicht nur bessere Bedingungen für eine gesicherte Anstellung als Pianist, sondern gleichzeitig auch die Möglichkeit, seinem verehrten Meister nahe zu sein. Über die Motive, die zur Entstehung des 'Notizbuches' geführt haben, lassen sich jedoch nur Vermutungen anstellen. Möglicherweise waren es die gleichen wie die, die zur Niederschrift des 'Tagebuchs' beigetragen haben könnten. Wahrscheinlich ist ebenso, dass diese Aufzeichnungen, zunächst noch für sich selbst geschrieben, schliesslich als Gedächtnisstütze oder Anhaltspunkte für eine geplante Publikation über Busonis letzte Lebensjahre dienen sollten - ein Vorhaben, das später vielleicht wieder aufeezeben worden sein könnte. Für diese Annahme spricht zui einen die sachliche Komprimiertheit und Stichwortartigkeit der Quelle, zum andern auch die Tatsache, dass Galston bereits 1921 mit seinen Notizen begonnen hatte und sie auch später noch parallel zum 'Tagebuch' weiterführte. Offen bleibt allerdings, warum die Aufzeichnungen gerade mit dem Eintrag vom 21. Juli 1924 enden, während jedoch das 'Tagebuch' fortgesetzt wird.
Trotz ihrer Knappheit bieten die Kalendernotizen aufschlussreiche Informationen um Busoni und bilden gemeinsam mit dem 'Tagebuch' ein für die Forschung interessantes Zeugnis der damaligen Zeit- und Kulturgeschichte.