Martina WEINDEL

ANMERKUNGEN
ZU BUSONIS ÄSTHETIK


ZEILE

459-553

465-68
In seinen Ausführungen zum »Entwurfe einer szenischen Aufführung« v. J. S. Bachs Matthäuspassion (Dezember 1921) ist Busoni der Auffassung, die Form der Arien in der Matthäuspassion sei für den Gang der Handlung eher hinderlich (vgl. VE, S. 342).
479-82
Kritisch äussert sich Busoni zur realistisch-dramatischen Handlung von Verdis "La Traviata" und Puccinis "Tosca": »Uns ergreift im ursprünglichen Schauspiel [Alexandre Dumas: "La dame aux Camélias", Victorien Sardou: "La Tosca"] keine Sehnsucht nach der fehlenden Musik: das Stück ist [...] ohne Musik verständlich und vollständig; derart dass man dabei vergisst, dass es Musik gebe, auf dem Theater und ausserhalb desselben. Man ermesse hieraus die Ungeheuerlichkeiten, die begangen worden, aus diesen Stücken Opern machen zu wollen! [...] Sie [die italienischen Opernkomponisten] fordern von der Bühne das Leben, wie es überall mit Recht gefordert wird; aber jenes Leben, das sie selbst führen. Sie begehen nur den Irrtum, dieses auch in die Musik zu setzen« (Entwurf eines Vorwortes zur Oper des "Doktor Faust"..., August 1921, VE, S. 322).
487-89
In bezug auf seine Vertonung des Märchendramas Turandot (UA 1792) von Carlo Gozzi (1720-1806): »Gozzi hat selbst viel Musik vorgeschrieben, und den Anlass hierzu bieten nicht nur die sich natürlich einfindenden Rhythmen von Märschen und Tänzen, sondern vorzugsweise der märchenhafte Charakter des Stoffes. In der Tat ist ein 'Märchendrama' ohne Musik kaum zu denken, und besonders in der 'Turandot', wo keine Zauberei im Spiel ist, fällt der Musik die dankbare und notwendige Aufgabe zu, das übersinnliche und ausseralltägliche Element darzustellen« ("Zur Turandotmusik", Oktober 1911, VE, S. 172).
490-97
Die Forderung nach einem 'übernatürlichen Stoff' und 'absoluten Spiel' kommt ebenso im Prolog zu Busonis Oper Doktor Faust (Juni 1915, S. 7) zum Ausdruck:

»Die Bühne zeigt vom Leben die Gebärde,
Unechtheit steht auf ihrer Stirn geprägt,
Auf dass sie nicht zum Spiegel-Zerrbild werde,
Als Zauberspiegel wirk' sie schön und echt,
Gebt zu, dass sie das Wahre nur entwerte,
Dem Unglaubhaften wird sie erst gerecht;
Und wenn ihr sie, als Wirklichkeit, belachet,
Zwingt sie zum Ernst, als reines Spiel betrachtet«.

Im Entwurf eines Vorwortes zur Partitur der Oper des 'Doktor Faust'... (August 1921) heisst esi die Oper solle »an das alte Mysterium wieder anknüpfend [...] zu einer unalltäglichen, halb-religiösen, erhebenden, dabei anregenden und unterhaltsamen Zeremonie sich gestalten« (VE, S. 319).
507-15
Die Auffassung von Oper als einer bewussten Scheinwelt wird auch in folgender Äusserung deutlich: »Was anderes kann und soll die Oper sein als etwas Unnatürliches? Was könnte in der Oper >natürlich< wirken? Von diesen Voraussetzungen müssen wir bei der Ausgestaltung der Oper, bewusst ausgehen, jene zum Fundament jedes Aufbaues machen« (ebd., S. 326).
515-20
Nach Busoni entspricht diesem Opernideal die 'Zauberflöte': »Diese vereint in sich das Erzieherische, Spektakelhafte, Weihevolle und Unterhaltsame, zu welchem Allem noch eine bestrikkende Musik hinzukommt, oder vielmehr darüber schwebt und es zusammenfasst« (ebd., S. 320).
521-32
Die Allgemeingültigkeit des Prinzips einer ästhetischen und rezeptiven Distanz gegenüber dem Kunstwerk wird in folgender Passage angedeutet: »Es ist in der Kunst ein richtiges Prinzip, an den Ereignissen, die man berichtet (oder darstellt) unbetheiligt zu bleiben, doch ist es dabei eine koordinierte Bedingung, dass der Leser auch nur 'empfange' ohne zu 'erleben' (im Brief vom 5. März 1924 an die mit ihm befreundete Baronesse Jella Oppenheimer [1854-1943], SBB, Busoni-Nachlass [B 1], Mus. ep. F. Busoni 760). Entsprechende Überlegungen stellte Busoni bei der zeithistorischen Konzeption von "Doktor Faust" an: »Die zu erwählende [Figur] [...] durfte nicht in dieser [zeitlichen Entfernung] so weit zurückreichen, dass die Teilnahme an ihr durch die Entfernung litte, nicht so nahe gerückt sein, dass die für die Wirkung unerlässliche 'Distanz' zu kurz bemessen werde. Darum entschied ich mich für jenes Mittelalter, das die anbrechende Renaissance zu erhellen beginnt« (Über die Partitur des 'Doktor Faust', Juli 1922, WE, S. 100).
538-49
Im Entwurf eines Vorwortes zur Partitur des 'Doktor Faust'... (August 1921) fordert Busoni, das Publikum müsse sich freimachen »von der Vorstellung eines wohlfellen Amusements, und ebenso von der Forderung und Erwartung einer dargestellten sensationellen Begebenheit, deren Verwirklichungen, die es psychisch aufreizen, das Publikum von seinem Parkettsitz aus ungefährdet miterleben möchte« (VE, S. 319).
550-53
Der pädagogische Anspruch, den Busom hinsichtlich der Aufgabe von Künstler und Rezepienten erhebt, kommt ebenso in der Anschauung zum Ausdruck: »Um unser Ziel [die Gestaltung der Oper als ein >musikalisches Gesamtkunstwerk~] zu ersteigen, ist es geboten, dass das Publikum, das es mitbetrifft, erzogen werde und sich erziehen lasse« (ebd., S. 319). Und Schönberg gibt er in bezug auf dessen Ausführungen über das Wesen des Interpreten zu bedenken: »Bei Ihrer richtigen Darstellung des Reproduzierenden scheint mir die Aufgabe des >mitarbeitenden< Publikums vergessen« (Im Brief vom 20. Juli 1909, BS, S. 165).